Georg Rainer Hofmann

GLOBALE PROVINZ


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      Wenn ich das so lese, an was sich Georg Rainer Hofmann aus studentischer Sicht erinnert, so steuere ich gerne einige Bemerkungen aus der Sicht des im Text erwähnten Professors bei.

      Die Anfänge der Graphischen Datenverarbeitung – »Computer Graphics« – gehen zurück auf technische Entwicklungen in den USA, die circa in der Mitte der 1960er-Jahre stattgefunden haben, unter anderem am »Massachusetts Institute of Technology« (MIT) und an der University of Utah. Ich selbst habe im Jahr 1970 auf diesem Gebiet, also sehr früh in dessen Entwicklung, an der Technischen Universität in Berlin am Institut für Informationsverarbeitung bei Professor Wolfgang K. Giloi promoviert. Danach kam ich, nach einem Intermezzo als Professor an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, im Jahr 1975 auf einen Informatik-Lehrstuhl (ein Fachgebiet) an der TH, der heutigen TU, in Darmstadt. Der Lehrstuhl wurde »Fachgebiet Graphisch-Interaktive Systeme« (GRIS) genannt. Damit waren gleich zwei Claims markiert, die in der späteren Informationsgesellschaft von zentraler Bedeutung sein sollten. Zum einen war die »Graphik« das, was später unter anderem auch als »Multimedia« reüssieren sollte. Und zum anderen war die »Interaktion« neu, denn Computer wurden um das Jahr 1980 herum nicht im direkten Dialog von Menschen mit Maschinen, sondern im »Batch« betrieben. Beide Phänomene sollten Jahre später in der Informationsgesellschaft absolut alltäglich sein. Aber wir waren damals, um das Jahr 1980, herum in Darmstadt die Pioniere.

      Mein Bestreben war es, dieses Fachgebiet GRIS als eine wichtige Disziplin in der Informatik zu etablieren und durchzusetzen. In der Zeit der Jahre um 1980 herum bedeutete »wichtig« in der Informatik vor allem, dass die Systeme einen Nutzwert in industriellen und gewerblichen Anwendungen darstellten. An einen kulturellen Beitrag der Informatik oder einen alltäglichen Unterhaltungswert der – gar multimedial-graphischen und interaktiven – Computer dachte damals noch kaum jemand. Daher ging es mir um die breite Einsetzbarkeit und Anwendbarkeit der Technologien, Methoden, Algorithmen und Systeme in »Industrie und Wirtschaft«, die wir in diesem neuen Fachgebietes GRIS erforschten und entwickelten. Dies implizierte, schon aus Kosten- und Effizienzgründen, dass die jeweiligen Anwendungen unabhängig von der im Einzelfall verwendeten Hardware und Peripherie programmierbar sein müssten.

      Dafür entwickelte mein Darmstädter Fachgebiet in Partnerschaft mit anderen internationalen Gruppen ein »Application Programming Interface« (API) für Anwendungen der Computergraphik. Dieses API wurde »Graphisches Kernsystem – Graphical Kernel System« (GKS) genannt. Wir konnten von Darmstadt aus bei der fachlichen Entwicklung dieser damals sehr wichtigen Innovation eine auch international führende und tragende Rolle spielen.

      Ich zeichnete zu dieser Zeit nicht nur verantwortlich für die Aktivitäten im Bereich der DIN-Normung, die in den 1980er-Jahren zur Entwicklung von GKS und vergleichbaren Graphik-Standards führten, sondern auch für den gesamten Aufbau von anderen DIN-Gremien, die für die Beiträge zur internationalen Normung der graphischen Datenverarbeitung zuständig waren. Das ist in der Entwicklung der Informationsgesellschaft ein relativ seltenes Phänomen, dass ein internationaler Standard wesentlich von Deutschland aus entwickelt, pilotimplementiert und geprägt worden ist. Ein zweites Beispiel wäre etwa die viele Jahre später erfolgte Entwicklung des MP3 zur Audiodaten-Kodierung.

      Das GKS war der erste Internationale Standard für Computergraphik. Er hatte die Nummer ISO/IEC IS 7942 und wurde im Jahr 1977 eingeführt. In Deutschland war er schon etwas früher unter der Bezeichnung DIN 66252 veröffentlicht worden. Das GKS stellt verschiedene Basisfunktionen für die Programmierung von graphischen Anwendungen zur Verfügung. Zu diesem Zweck wurden im GKS-System mehrere, aufeinander aufbauende GKS-Leistungsstufen spezifiziert. Konzeptionell stellt das GKS-System abstrakte graphische Darstell- und Eingabemöglichkeiten zur Verfügung und ermöglicht die geräteunabhängige Programmierung von graphisch-interaktiven Anwendungen, sowohl zwei- wie auch dreidimensionaler Graphik. Mit diesem Konzept konnten bereits die Anforderungen vieler Anwendungen bedient werden, wie im Bereich Maschinenbau, Architektur und Bauingenieurwesen, Elektrotechnik, auch in der Medizin.

      Das GKS wurde zu einer wichtigen Basis für »Computer-aided Design« (CAD), »Computer-aided Engineering« (CAE), »Computer-aided Manufacturing« (CAM), Entwurf elektronischer Schaltungen und Simulationstechniken, auch für Bildgebende Verfahren und Diagnosesysteme in der Medizin etc. Mit der Entwicklung des GKS war es uns gelungen, das Fachgebiet GRIS in der Informatik-Landschaft als Disziplin fest zu etablieren und zu verankern – auch in einem internationalen Kontext. Die Computergraphik entwickelte eine sozioökonomische Relevanz und damit einen Markt für Projekte der Angewandten Wissenschaft. In der Folge hatten wir bei GRIS und später am »Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung« (IGD) eine gute Situation, was die Gewinnung von Drittmitteln und die Akquisition von Forschungsaufträgen angeht.

      Allerdings waren die nicht-technischen Bereiche der Kunst, Kultur und Geisteswissenschaften damit noch nicht für das Fachgebiet GRIS als Anwendungen erschlossen. Viele Personen aus diesen Kreisen meinten sogar, das würde gar nicht gehen, dass ihre hehren Disziplinen etwas mit der profanen »Digitalisierung« im Sinn haben könnten.¶

      Bei diesen spannenden Themen bei GRIS wollte ich dabei sein. Nach dem Vordiplom konnte man sich am Fachbereich Informatik an der THD für einen Job als Studentische Wissenschaftliche Hilfskraft, abgekürzt »Hiwi«, bewerben. Ich wurde bei einem Wissenschaftlichen Mitarbeiter vorstellig, der Detlef Krömker hieß. Die Bewerbung war sehr informell. Ich bin damals – einfach so – in sein völlig verrauchtes Büro marschiert. Herr Krömker rauchte am Tag – meiner Schätzung nach – so eine bis maximal drei Packungen des Fabrikats »Camel ohne Filter«. Ich fragte ihn, ob es für mich als Hiwi etwas Sinnvolles zu tun gäbe. Und das war durchaus der Fall.

      Ich wurde von Detlef Krömker bei GRIS akzeptiert, und im Frühjahr 1985 begann meine Karriere als Hiwi und damit als ein »Professional« – denn ich verdiente mein erstes Geld in der Informatik. Es galt, Schaltungen für das »HoMuK-System« in Betrieb zu nehmen. Das hieß insbesondere, leidige Entwurfsfehler zu finden und zu beseitigen. Es mag im Jahr 1985 gewesen sein, als man das Jubiläum »10 Jahre GRIS« beging. Professor Encarnação hatte jede Menge nationale und internationale Gäste von akademischer Bedeutung eingeladen, um sein Institut mit diversen akademischen Kolloquien gebührend zu feiern. Wir durften im Labor den experimentellen HoMuK-Aufbau einem Besucher von der TU Berlin vorführen. So eine Vorführung nannte man damals eine »Demo«. Der Besucher war Professor Wolfgang Giloi, bei dem wiederum seinerzeit Encarnação promoviert hatte. Giloi war der damalige »god father« der Rechnerarchitektur in Deutschland. Er lobte unsere Vorführungen und Arbeiten durchaus.

      Am Institut GRIS gab es viele internationale Studierende und Gäste, weil Encarnação das glatte Gegenteil von provinziell war. Er verfolgte internationale Kooperationen und akquirierte internationale Projekte. Wir hatten Wissenschaftler aus China, Brasilien, USA, vielen Europäischen Ländern, auch aus Ländern des damaligen sogenannten »Ostblocks«. GRIS war ein wenig wie Raumschiff Enterprise, mit Vulkaniern und Klingonen und allen möglichen Leuten aus aller Welt und »aller Herren Länder«, wie man damals (noch) sagte. Es wurde klar, dass die entstehende Informationsgesellschaft nur als ein »internationales Unterfangen« sinnvoll, denkbar und gestaltbar ist.

      In Darmstadt wurden in der Mitte der 1980er-Jahre die Briefe mit dem Motto »In Darmstadt leben die Künste« abgestempelt. Man zehrte noch von der Weitsicht Großherzog Ernst Ludwigs zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf der Mathildenhöhe waren seinerzeit eine Reihe von Musterhäusern errichtet und damit der damals neuen Kunstrichtung des Jugendstils entscheidende Impulse verliehen worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten die Darmstädter »Ferienkurse für Neue Musik« eine nachhaltige weltkulturelle Bedeutung erlangen. Daran anknüpfend entschied man sich seitens der Stadt Darmstadt, für den Sommer des Jahres 1986 eine große Ausstellung und ein interdisziplinäres Symposium zum Thema »Symmetrie« auf die Beine zu stellen.

      Das Symposium angestrebte Niveau war schlicht »Weltklasse«. Das Phänomen Symmetrie sollte in seiner gesamten Mannigfaltigkeit in der Bildenden Kunst, den Naturwissenschaften, der Mathematik, Musik, Philosophie etc. umfassend ausgelotet werden. Man hatte für das Riesenprojekt einen wissenschaftlichen Leiter gewinnen können. Es war ein – meiner Wahrnehmung nach – wahrer Universalgelehrter mit Namen Guerino Mazzola und er kam aus der Schweizer Ortschaft Dübendorf in der