Was ist das Delikt? Ich habe den Realitätsgehalt von Walters Buch (und Koerfers Film) nach meinem Gefühl und Verstand abgehandelt, habe den Autor an seinem eigenen Anspruch gemessen, in einer Zeitung mit kleiner Auflage, die vorher ganzseitig ein uneingeschränktes Lob auf dieses Buch gebracht hatte. Das Thema schien mir wichtig genug, ich schrieb so ehrlich wie möglich. (Natürlich bin ich nicht gegen Fiktion schlechthin, nur weil ich die verunglückte Fiktion von Otto F. Walter kritisiere, die von einer, wie mir scheint, ungenau erfassten Realität ausgeht. Mein Lieblingsautor ist Joyce, nicht unbedingt ein Dokumentarist, und als nach meinem Artikel über ihn, WOZ 6/82*, * Abgedruckt in «Vorspiegelung wahrer Tatsachen», S. 102. fünf Leute mir sagten, sie hätten IHN daraufhin zu lesen begonnen, war ich glücklich wie selten). Auf diesen Artikel konnte Walter antworten im Blatt, so viel über mich wie ich über ihn, ganz ausführlich. Darauf gab es noch Leserbriefe. Unterschlagen wurde nichts, jeder Leser kann sich eine Meinung bilden. Nicht anzunehmen, dass ein Artikel in der WOZ, bei der kleinen Auflage, für Walter geschäftsschädigend war: das Buch läuft weiterhin prima. Nachdem in den grossen Zeitungen alle Besprechungen hierzulande sehr positiv für Walter gewesen sind, komme ich abschliessend zur Überzeugung: Das Delikt ist der Dissens.
In der Politik lehnen die Linken den erstickenden Konsens ab, die erzwungene Konkordanz. Warum akzeptieren wir das in der Literaturkritik?
Ein Werkstattbesuch bei zwei hiesigen Subrealisten
«Ich bin nicht Dokumentarist.»
Thomas Koerfer
«Dummerweise bin ich kein Dokumentarist.»
Otto F. Walter
Zwei Produkte, die gleichzeitig auf den Markt kommen, zwei Autoren, die, unabhängig voneinander, fast gleich lautende Erklärungen betr. Wirklichkeitsbezug ihrer Werke abgeben; ein Buch und ein Film mit höchsten gesellschaftskritischen und ästhetischen Ansprüchen (Otto F. Walter lässt in seinem Buch den Autor Wander ein Buch über «Ein Wort von Flaubert» schreiben, Thomas Koerfer erläutert, im Gesprach mit NZZ-Filmkritiker Schlappner, eine Szene eines Films, welche ihn «auch dramaturgisch fast in einer shakespearschen Dimension» interessiere); eine Unisono-Kritik, die auf beide Produkte mit den höchsten Tönen reagiert, Klara Obermüller z.B. macht in der WELTWOCHE einen Handstand vor Begeisterung, Alois Bischof in der WOZ spricht von «einem ungeheuren reflexiven Potential» bei Otto F., Schlappner in der NZZ weiss vor Entzücken seine Tinte nicht mehr zu halten, endlich wird, dank Koerfer, ein Unternehmer im Schweizer-Film realistisch, d.h. «fair» geschildert –
Es ist Herbst geworden, die Herbst-Kollektion ist da und sind wir glücklich soweit, dass die Subversion von jenen, welche subversiert werden sollen, gelobt wird, die NZZ, mit welcher der Autor Walter «hart und unerbittlich ins Gericht geht» (Alois Bischof über die Darstellung der Pressefreiheit durch Walter), spricht von einem «zeitkritischen Bewusstseinsprozess». Endlich ist auch, wenn man der Kritik glauben will, zwei Autoren eine perfekte Verschmelzung von Privatem und Öffentlichem gelungen, auch die Frauenfrage ist gelöst, «eingebettet aber in diesen zeitkritischen Bewusstseinsprozess sind Liebesbegegnungen von lyrischer Zartheit, Frauenfiguren, die in ihrem sensiblen Wahrnehmen und spontan richtigen Handeln nicht anders als ideal anmuten, Naturschilderungen sodann von mythischer Abgründigkeit» (NZZ). Und wer müsste der NZZ nicht recht geben: die Frauen werden von Walter wirklich eingebettet, in den Himmelbetten der Allegorie, und dort liegen sie dann, unbeweglich. Wie es in den Betten, vor den Betten, nach den Betten wirklich zugeht, dafür braucht sich Walter, der dummerweise kein Dokumentarist ist, nicht zu interessieren. So wie Koerfer nicht darüber reflektieren muss, in welchem Ton ein schweizerischer Rüstungsindustrieller während des Krieges mit dem Nazi-Botschafter spricht, denn dieser Industrielle ist nicht mit Bührle identisch (lässt Koerfer verlauten), er heisst ja im Film auch wirklich Korb, nicht Bührle, obwohl es andrerseits in der Wirklichkeit nur einen Rüstungsindustriellen gab, und der hiess eben doch wirklich Bührle – so muss sich Walter keine präzisen Vorstellungen von Konfliktabläufen beim TAGES-ANZEIGER machen, von Redaktions-Sitzungen und Zensurmechanismen, denn der TAGES-ANZEIGER kommt ja nicht vor, nur die SCHWEIZER-ZEITUNG, aber die hat in Walters Buch ein Magazin, und ein Auto-Importeur sperrt ihr die Inserate (hat man das nicht auch schon gehört), aber indem Walter diese Zeitung SCHWEIZER-ZEITUNG nennt und nicht TAGES-ANZEIGER, ist er fein raus und kann auf den Vorwurf der mangelnden Präzision antworten, er sei ein «Autor, der versucht, Subjektives und Gesellschaftliches zusammenzubringen, wobei das Gesellschaftliche, das Dokumentarische als Exemplarisches Verwendung findet». Um exemplarisch werden zu können, müsste das Dokumentarische aber präzis gewesen sein.
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Kein Autor kann sich freuen, wenn Bücher oder Filme missglücken. Im Gegenteil, jeder ist darauf angewiesen, dass ihn die Produkte der Kollegen weiterbringen, anregen, in Frage stellen, beissen, zwicken, fördern. Ich stelle mir die Schreib-Arbeit, Film-Arbeit nicht nur als einsame, manchmal verzweifelte Tat vor, sondern auch als Resultat eines kollektiven Schubs, von dem wir alle gepresst werden, oder als Beitrag zu einer nie fertigen Tapisserie, wo jeder sein Stück einsetzt und jeder sich besser entwickeln kann, wenn das zuletzt entstandene Produkt mit kunstverständiger Sinnlichkeit gemacht worden ist. Als Koerfers Produzent Hubschmid mir im Frühling von diesem Film erzählte, der ganz unumwunden, manchmal drastisch, jedenfalls deutlich die Welt des Rüstungsindustriellen schildere, und als ich von Otto F. Walters Bemühen hörte, den TAGES-ANZEIGER und dessen Konflikte in sein Buch einzubauen, habe ich mich selbstverständlich gefreut. Man freut sich immer, wenn ein bisschen Wirklichkeit aufs Tapet kommt, nicht mehr um sie herumgeschrieben oder gefilmt, sondern in sie hineingeschrieben wird, wie in einen Abszess, den man zum Platzen bringt. (Die Schreibkunst von Flaubert wurde nicht ohne Grund mit einem Skalpell verglichen.) Natürlich habe ich mir keinen Abklatsch der Wirklichkeit vorgestellt, den gibt es auch im rein Dokumentarischen nicht, sogar die «härteste» Reportage, und die vielleicht ganz besonders, braucht Phantasie, Notieren und Montieren geht nicht ohne Einbildungskraft (– wie hört man zu? wie bringt man wen zum Reden? wie setzt man in Sprache und Bilder um? was spart man aus, um hervorzuheben?) – aber ich habe mir vorgestellt, Walter und Koerfer, die beiden schönen Flugmaschinen, würden sich einen harten Boden aussuchen, damit sie die richtige Startgeschwindigkeit erreichen auf der Grundlage des Realistisch-Dokumentarischen und sie dann WIRKLICH abheben können, und ich ihnen aus der Tiefe, ganz ausgeflippt vor Begeisterung, zuwinken darf … Hätte ich doch viel lieber getan, statt ihren Fehlstart zu beklagen. Das Beschreiben der Wracks am Ende der Piste ist keine schöne Aufgabe. Muss aber sein. Leider!
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Zum Vergleich: Federspiel oder wie man es auch machen kann. In seiner Ballade von der typhoiden Mary steckt, nach Aussagen des Autors, etwa 3% Dokumentarisches, der Rest ist «erfunden» oder gefunden. Wo? In zeitgenössischen Berichten über New York und Amerika. Federspiel hat so lange in Bibliotheken gearbeitet, bis er sich eine genaue Vorstellung vom realen New York machen konnte, wo dann seine Mary völlig surreale Dinge unternimmt, die wirklicher sind als die Wirklichkeit, jedenfalls mögliche Sachen, die mit logischer Phantasie aus den Umständen entwickelt werden, und so denkt der Leser denn auch nie: Das ist abstrus, sondern: That's it, genau so werden die Herrschaften eben von einer Küchenmamsell vergiftet. Das denkt der Leser, weil Federspiel eine Anschauung von New York hat und einen Begriff von der Sprache in allen Etagen von Herrschaftshäusern.
Oder auch zum Vergleich: Imhoof, das Boot ist voll. Man kann einiges gegen diesen Film einwenden (die Wut des Zuschauers fährt auf einen kleinen Pinggel, den Dorfpolizisten, ab, der Zuschauer darf sich allzu schnell erleichtern), aber das Dorf im Schaffhausischen, welches kollektiv die Flüchtlinge in den Tod nach Deutschland zurückschickt, ist möglich, auch wenn es nie existiert hat, die Sprache stimmt, der gförchige Wirt ist einleuchtend, der Schaffhauser-Dialekt geht dem Zuschauer an die Nieren, es findet eine Beängstigung statt. Ich nehme an, Imhoof hat solche Dörfer gekannt, er hat sich dokumentiert, das Dorf ist kein Versatz-Stück, sondern es redet seine eigene wirkliche Sprache. Der Film geht nicht ÜBE, sondern aus dem Dorf heraus. Das Dokumentarische findet dann als Exemplarisches Verwendung …
Von Emile Zola weiss man, dass er mehrere Male auf dem Führerstand einer Lokomotive mitgefahren ist, bevor er «La bête humaine» geschrieben hat (Eisenbahnmilieu! Die Lokomotiven stimmen), und Gustave Flaubert – man darf ihn nochmals erwähnen, weil Walter