Kopf voran versuchte ich es nun zuerst mit den Beinen, stützte mich mit den Händen an der Wand ab und konnte mich so aus dem Fenster schieben. Dann hielt ich mich am Fensterrahmen fest, liess mich in die Tiefe fallen und landete nicht gerade sanft neben dem Eimer, der immer noch dastand. Die Beine taten mir weh, und auch die Hände. Ich musste eine Weile einfach so liegen bleiben. Ich roch Sträucher und das Gras, Wassertröpfchen befeuchteten meine Lippen, und ich merkte, wie durstig ich war. Dann hörte ich Schritte und Gesang. Ich rappelte mich auf, ging leise um das Häuschen herum und sah einen Mann in einem langen, braunen Mantel mit Kapuze, um den Bauch einen langen Strick. Auch um seinen Hals hing ein Strick.
Er sang und sang in einer mir unbekannten Sprache. Ich stand ganz still, damit er mich nicht bemerkte. Er schloss die Tür zum Häuschen auf, und als er die Türfalle hinunterdrückte, knirschte sie, als wollte sie sagen: «Lass mich doch in Ruhe.» Mir schien, dass die Tür sich nicht so richtig öffnen wollte, denn sie knirschte weiter und stimmte mit ein in seinen Gesang. Der Kapuzenmann ging hinein. Die Tür blieb einen Spaltbreit offen, sodass ich mich anschleichen und hineinschauen konnte, ohne dass der Mann mich sah. Er rückte einen Tisch mit einem Stuhl darauf in die Mitte des Raums, stieg hinauf, stellte sich auf den Stuhl und hantierte ununterbrochen singend an der Decke herum. Ich konnte nicht so richtig sehen, was er machte. Plötzlich stiess er den Stuhl um und baumelte an der Decke. Er zappelte mit den Beinen, als wollte er durch die Luft rennen. Er zuckte noch eine Weile, dann wurde er wohl müde. Dann hing er da, als würde er schlafen.
Ich musste an die Katze denken, die ihr Zünglein draussen hatte, nicht mehr frass und nicht mehr auf ihren Beinen stehen konnte. Ich wollte nachsehen, ob der Kapuzenmann auch die Zunge draussen hatte, und schlich mich leise in den Raum. Ich konnte nicht recht sehen, ob seine Zunge heraushing, aber seine Augen waren gross, und er starrte in den Raum. Dieses Starren erschreckte mich, und ich rannte aus dem Häuschen und in die Arme einer Schwester, die betend im Garten stand.
Dann ging alles sehr schnell. Ich stand plötzlich vor der Schwester Oberin. Tausende von Fragen prasselten auf mich nieder, es war, als würden mich grosse Wellen verschlingen. Ich rang nach Luft, bis mir ganz schwarz wurde vor Augen und ich in den tosenden Wellen die Orientierung verlor. Ich konnte keine einzige dieser vielen Fragen beantworten. Den Mann, der so oft in dem grossen Garten gewesen war, sah ich nie mehr.
*
Natürlich wollte ich danach auch die anderen Häuschen im Garten auskundschaften. Jedes Mal, wenn wir draussen spielten, suchte ich eine Gelegenheit, um zu verschwinden. Doch die Augen der Schwestern waren jetzt immer auf mich gerichtet. Bis es mir eines Tages schliesslich gelang, mich ihren Blicken zu entziehen, und meine Entdeckungslust mich wieder lebendig machte. Ich rannte davon, so schnell ich konnte, und stand plötzlich vor einem grösseren Häuschen. Die Tür stand offen, als hätte es auf mich gewartet und sich für mich geöffnet, damit ich nicht durch das Fenster klettern musste.
Drinnen lag ein riesiger Plastikknäuel. Er bewegte sich ganz langsam auf mich zu und machte eigenartige Geräusche. Dieses lebendige Plastik machte mir Angst. Trotzdem blieb ich stehen, starrte ihn an und hielt den Atem an. Er kam näher und näher, und ich wusste nicht, ob er mit mir spielen oder mich fressen wollte. Dann erschien wie aus dem Nichts der weisse Kopf. Er ging langsam zur Tür hinaus, kam wieder zurück und ging wieder hinaus, so als wollte er mir sagen: «Komm mit mir, ich bringe dich zurück.» Ich rannte davon. Mein Herz schien hinter mir herzurennen, so schnell waren meine Beine. Ich wollte an dem kleinen Häuschen mit den bunten Bällen vorbeirennen, doch meine Füsse liefen dort einfach nicht mehr weiter. Also blieb ich stehen und verschnaufte, bis auch mein Herz wieder bei mir war. Die Tür zum Häuschen stand einen Spaltbreit offen. Und auch ihr unfreundliches Knarren konnte mich nicht daran hindern, noch einmal hineinzugehen. Vielleicht warteten die bunten Bälle ja darauf, dass ich mit ihnen spielte.
Ich schaute zur Decke, wo der Kapuzenmann durch die Luft gerannt war, bis er ausgezuckt hatte. Aber es sah alles genauso aus, wie als ich durchs Fenster gekrochen war. Nur die bunten Bälle waren nicht mehr da. Ich dachte, sie hätten sich vielleicht versteckt, und begann sie zu suchen. Ich kletterte auf den Gestellen herum und schob alles zur Seite, aber die schönen Farben waren nirgends zu entdecken, und es lag auch kein Duft nach etwas Neuem mehr in der Luft.
Dann hörte ich eine Stimme meinen Namen rufen und beeilte mich, wieder zu den anderen zurückzukehren. Lauter fragende Augen schauten mich an, als ich wieder auftauchte. Eine Schwester packte mich schimpfend und schüttelte mich, hob ihre Hand und schlug mir ins Gesicht, sodass mein Kopf ganz heiss wurde und meine Wangen Feuer fingen. Ich vergoss keine Träne.
Wieder musste ich ins Büro der Schwester Oberin. Durch das Fenster sah ich auf der Strasse Mutter Lilith mit dem Kinderwagen auf und ab gehen. Ich wollte geradewegs zu ihr laufen. Doch ich musste dableiben und der Schwester Oberin zuhören. Ich hörte ihre Stimme nur aus der Ferne, denn ich wollte doch sehen, was in dem Scheesenwagen war. Ich wollte zu meiner Mutter, wollte sie riechen und bei ihr sein. Ich spürte, wie es mein Herz zerriss, weil ich nicht zu ihr durfte, und mein Körper begann zu weinen. Ich zitterte am ganzen Leib, bis ich mich nicht mehr auf meinen Beinen halten konnte und zusammenbrach. Dann kam der Mann im weissen Kittel, den ich von unserer Ankunft im Heim her kannte. Er stach mich und ich fiel in einen tiefen und heftigen Schlaf.
Von jenem Tag an musste ich jeden Abend ein kleines Becherchen mit einer Flüssigkeit trinken, die mir nicht schmeckte. Am Anfang spuckte ich sie wieder aus, bis die Schwestern anfingen, mich zu zweit dazu zu zwingen, sie zu schlucken. Die eine hielt mich fest, umklammerte mich mit dem Arm, als müsste sie mich ersticken, die andere hielt mir die Nase zu, bis ich den Mund öffnete und sie mir den Trank einflössen konnte. Sie krallte sich solange an meiner Nase fest, bis ich ihn geschluckt hatte. Danach schlief ich sehr schnell ein. Am Morgen war ich immer müde. Der Trank machte mich zu einem kleinen, leblosen Mädchen, das immer lieb und nett bei den anderen Mädchen blieb, nicht sprach und nicht lachte. Ich war in einer Welt, die still und ohne Farben war und in der ich keinen weissen Kopf mehr als Begleiter hatte.
Ich dachte, ich sei gestorben. Bald konnte ich das Bett nicht mehr verlassen. Die Einsamkeit machte mich krank. Ich vermisste die Wärme meiner Geschwister. Man rollte mich in Wolldecken ein, die mich von aussen wärmten, aber in mir drin wurde es kälter und kälter. Im grossen Schlafsaal war ich für Stunden ganz allein. Ab und zu kam eine Schwester, die mich mit viel Geduld und Überredungskunst dazu brachte, etwas zu trinken und zu essen. Eines Tages begann diese Schwester, an meinem Bett zu singen. Mein Herz wärmte sich an ihrem Gesang. Er erfüllte den Raum mit Freude, und ich konnte wieder Farben sehen. Licht und Wärme durchfluteten den Schlafsaal und liessen die Kälte weichen. Meine innere Kraft kam langsam zurück, und bald konnte ich wieder aufrecht sitzen.
Dann begann die Schwester, mir Geschichten zu erzählen. Ihr Singen gefiel mir aber besser, denn die Geschichten handelten immer von einem Mann, der alle Menschen liebte und alles heilen konnte. Das Geheimnis sei, einfach daran zu glauben. Einmal fragte mich die Schwester: «Glaubst du daran?» Ich schüttelte den Kopf. Es konnte nicht stimmen, dass es einen Mann gab, der so lieb war. Wenn sie aber Lieder sang über eine Mutter, die Maria hiess, gefiel mir das. Dann strömte viel Licht aus ihren Augen und Wärme strahlte durch ihr langes, schwarzes Kleid. Und ich stellte mir vor, dass diese Mutter Lilith sein könnte.
Als ich wieder gesund war, durfte ich mit dieser Schwester zusammen oft die Kapelle besuchen. Dort gab es an den Wänden grosse Bilder zu den Geschichten, die sie mir erzählt hatte. Die Mutter Maria stand in einem blau-weissen Kleid in einer Nische und schaute mich mit sanftem Blick an. Auf dem Arm hielt sie ein Kind, das Jesus hiess. Die Mutter und auch das Kind trugen einen strahlenden, goldenen Reif um den Kopf, der mir sehr gefiel. Ich schaute mir die vielen Bilder an den Wänden lange an, doch für meinen kleinen Kopf ergaben sie keinen richtigen Sinn. Maria und alle Erwachsenen in der Himmelswelt waren in lange Kostüme gekleidet. Nur die kleinen Kinder und die Engel, die sich durch diesen goldenen Kranz von den Kindern unterschieden, waren nackt. Die Bilder liessen mich wieder nackt auf dem Tisch tanzen, die Gerüche und das Stöhnen der Männer erfüllten plötzlich den Raum.
Die himmlische Welt war in zarten Farben gemalt, und in allen Gesichtern war ein leidendes Lächeln. Ich sah, wie Mutter Lilith lächelnd und leidend vom Gemälde herabstieg, ihr Kostüm auszog und es gegen kräftig bunte Kleider tauschte. Zuoberst an der