Suzann-Viola Renninger

Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer


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was sollen wir uns nun verlassen, wenn wir vor kritischen Situationen stehen? Wenn wir zweifeln, ob wir den Sterbewunsch des Angehörigen, der Freundin mittragen und unterstützen sollen? Wenn wir selber sterben wollen, aber nicht können? Sollen wir der Tradition folgen, dem, was bisher üblich war? Sollen wir uns nach den Handlungsanwei­sungen der philosophischen oder theologischen Ethik richten, nach ihren meist allgemein formulierten Sätzen? Oder sollen wir auf unser Gefühl und unsere moralische Intuition hören, die uns schon den richtigen Weg weisen werden, wenn es konkret wird? Wie lässt sich die Brücke von den abstrakten Vorgaben der Theorie, den grundsätzlichen Überlegungen zum konkreten Einzelfall schlagen, der immer anders ist als alle anderen? Ist es nicht umgekehrt riskant, sich nicht von der Theorie aufklären zu lassen, sondern immer nur den eingespielten Mustern, Bauch und Herz zu folgen? Welchen Stellenwert nimmt bei alldem die Religion ein, die mit Überlieferung und Offenbarung, mit Gottes Wort und Willen argu­mentiert?

      Helfen können hier Erzählungen. Erzählungen von dem, was Menschen in bestimmten Situationen entschieden haben und warum. Erzählungen von ihrer konkreten Not, ihren Bedürfnissen, ihren Wünschen. Erzählungen, die uns vor Augen führen, was sie bewegt, wenn sie den Freitod wählen. Es ist der Weg, den das vorliegende Buch einschlägt. Es enthält die Erlebnisse von Werner Kriesi, einem reformierten Pfarrer, der seit seiner Pensionierung 1997 als Freitodbegleiter für Exit tätig ist, die älteste Schweizer Sterbehilfeorganisation.

      «Glaub niemandem, der vom Schreibtisch aus philoso­phiert und nie die warmen Pantoffeln auszieht», so sagte er bei unserem ersten Treffen. Er erzählte, wie es ihn prägte, als seine durch einen Hirnschlag gelähmte Mutter sterben wollte, aber nicht konnte. Wie ihn, viele Jahre später, die Bitte eines Gemeindemitglieds zu Exit brachte. Wie er Menschen half, de­ren größter Wunsch es war, zu sterben. Erlöst zu werden, wie sie es meist ausdrückten. Es waren Menschen, die litten. An tödlichen Krankheiten. An hohem Alter und Gebrechlichkeit. An Demenz und dem sich abzeichnenden Verlust des Selbst. An psychischen Erkrankungen oder Unfallfolgen. Und an Lebenssattheit oder Lebensüberdruss. Man müsse nah bei den Menschen sein, mittendrin in der Situation, um zu fühlen, um zu verstehen. Dann ändere sich die Einstellung. Den letzten Schritt in den Tod gehe jeder von uns allein. Doch zuvor, bis an die Schwelle, könnten wir uns die Hand reichen lassen.

      Einen Sommer lang bis tief in den Herbst trafen wir uns beinahe jede Woche. Dieses Buch berichtet, wovon Werner Kriesi mir erzählt hat und was wir besprochen haben. Es enthält seine Erinnerungen an Menschen, die er in den Tod begleitete, und an Menschen, denen er dabei half, trotz Sterbewunsch weiterzuleben. Es enthält außerdem Passagen zur Geschichte von Exit wie auch zu Philosophen, deren Haltungen zum Selbstmord oder Freitod unsere Kultur geprägt ha­ben.

      Anfang Juni 2020

      Frau Renninger, Sie haben versucht, mich zu erreichen.

      Ja, ich wollte Sie fragen: Wäre jetzt nicht der Sommer für unser Buch?

      Sie wissen, wie alt ich bin?

      Ja, eben.

      Wir lachen und verabreden uns für die kommende Woche.

      10. Juni 2020

      Sie wissen, wie alt ich bin?

      Ja, 86.

      Nein, 87.

      Trotzdem.

      Ende 1995, in seinem letzten Jahr als Pfarrer in Thalwil im Kanton Zürich, wartet ein Gemeindemitglied nach dem Gottesdienst vor der Kirche. Der Mann – er ist in seinen frühen Siebzigern – sitzt im Rollstuhl.

      «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer, dann sind Sie dabei.»

      Schon fünfzehn Jahre lang ist Werner Kriesi Seelsorger dieses Mannes, er kennt ihn und seine Familie gut, hat zuge­hört, versucht zu stärken. Der Mann leidet an Sklerodermie, einer Verhärtung des Bindegewebes, die inzwischen auch Herz und Lunge ergriffen hat. Er hat das Gefühl, mehr und mehr zu versteinern. Rund um die Uhr auf die Pflege seiner Frau an­­ge­­wiesen, fällt ihm das Atmen zunehmend schwer.

      «Immer wieder träume ich, wie ich eines Tages aus dem Rollstuhl falle, meine Atemschläuche dabei abreiße. Wie ich wie ein Tier am Boden verrecke.»

      Der Mann schildert Werner Kriesi seine schier unerträgli­chen Schmerzen, sein Siechtum. Er hat einen Wunsch: Der Herr Pfarrer möge auch in seiner letzten Stunde auf Erden bei ihm sein, mit ihm und seiner Familie beten. Mit der Sterbehilfeorganisation Exit sei schon alles eingefädelt. Werner Kriesi hört zu, denkt an seine Mutter, deren Sterben und Leiden drei Jahre dauerte. Er ahnt, wie sehr die Krankheit ihn peinigt.

      An dem Tag, an dem Exit dem Mann hilft, den Tod zu finden, ist Werner Kriesi als Seelsorger anwesend. Exit, die 1982 in der Deutschschweiz gegründete «Vereinigung zum humanen Sterben», hatte er bis zu diesem Zeitpunkt nur vom Hö­rensagen gekannt. Bald darauf, 1997, wird er Mitarbeiter bei Exit. Von 1998 bis 2006 ist er Vorstandsmitglied und Leiter der Gruppe von Frauen und Männern, die nach einer Ausbil­dung durch Exit als Freitodbegleiter zur Verfügung stehen, und von 1999 bis 2006 im Vorstand der neu gegründeten Ethikkommission.

      Meine Mutter litt unsäglich

      Herr Kriesi, wie wird man Freitodbegleiter?

      Die Bitte meines Gemeindemitglieds, bei seinem Freitod dabei zu sein, war für mich ein Schlüsselerlebnis. Dieser lapidare Satz, als wir uns nach einem Gespräch über allgemeine Dinge vor der Kirche verabschiedeten: «Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer …» Er hat sich mir unvergesslich eingebrannt. In seiner Wirkung verdoppelt und verdreifacht durch die grässliche Erfahrung mit meiner Mutter. Ein Sterbemartyrium von drei Jahren! Mir kommt noch immer das Elend, wenn ich daran denke. Aus heutiger Sicht ein medizinisches Fehlverhalten, her­vorgerufen dadurch, dass die medizinischen Möglichkeiten unbedacht, jedenfalls zu lange angewendet wurden. Dass man sie nach einer geschenkten Bewusstlosigkeit nicht hinübergleiten lassen konnte. Was für ein Irrsinn!

      Zu Beginn der Achtzigerjahre erlitt meine Mutter zwei Hirnschläge, die sie mit leichten Beeinträchtigungen zurückließen. Nach dem dritten Hirnschlag einige Jahre darauf fiel sie in Bewusstlosigkeit. Sie war 76 Jahre alt. Hätte sie keine Magensonde und somit keine künstliche Ernährung erhalten, wäre sie wohl nach wenigen Tagen gestorben. Doch so überlebte sie. Als sie nach Wochen wieder erwachte, war sie am ganzen Körper gelähmt. Keinen kleinen Finger konnte sie mehr bewegen, keine Fliege mehr aus dem Gesicht verjagen. Auch sprechen konnte sie nicht mehr. Doch geistig war sie noch da. Klar im Kopf. Sie verstand alles, was gesprochen wurde, und musste Sprüche von frommen Leuten über sich ergehen lassen. Sätze, die in der lutherischen Übersetzung einen zynischen Klang haben. Aus Psalm 68 etwa: «Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.»* Denn es ist ja nicht Gott, der die Last auferlegt, sondern in diesem Fall die medizinische Technik.

      * Nach der Lutherbibel: «Gelobt sei der Herr täglich. Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.» Die sich näher ans Original haltende Übersetzung in der Zürcher Bibel ­lautet: «Gepriesen sei der Herr Tag für Tag, der uns trägt, der Gott, der unsere Hilfe ist» (Psalm 68.20).

      Drei Jahre starrte meine Mutter still und stumm an die weiße Decke des Pflegeheims. Dann endlich konnte sie sterben. Meine Geschwister und ich waren dankbar. Doch ich habe heute noch ein schlechtes Gewissen, dass wir damals nicht alle Hebel in Bewegung setzten, um unserer Mutter ein solch grässliches Lebensende zu ersparen.

      Haben Sie jemals daran gedacht, Ihrer Mutter beim Sterben zu helfen?

      Es gab keine legalen Mittel. Ein orales Mittel hätte man ihr nicht geben können, das war damals gar nicht denkbar. Zwar wäre möglich gewesen, sie nicht mehr zu ernähren und so sterben zu lassen. Doch das hätte man niemals gemacht in diesem Heim, das sich übrigens sehr gut um sie kümmerte und ihr die beste Pflege gab. Das kritisiere ich nicht. Doch hätte ich meine Mutter gefragt, ob sie sterben möchte, sie hätte eingewilligt. Sie hätte mit dem Kopf noch Ja oder Nein signalisieren können. Solch ein sinnloses Sterbeleiden hat sie nicht gewollt.

      Und die nicht legalen Mittel?

      Sie denken an den Film «Amour», in dem ein Mann nach fünfzig Jahren Ehe seine gelähmte Frau mit einem