Suzann-Viola Renninger

Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer


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Leiden sein. Aber auch ein schreckliches. Wenige Sekunden können da zu einer Ewigkeit werden. In allen Ländern werden hochaltrige Menschen auf diese Weise umgebracht. Viel mehr, als die meisten auch nur ahnen, denn darüber wird nicht gesprochen. Doch ins Pflegeheim auf Besuch gehen, und danach ist die Patientin tot? Da haben Sie gleich den Staatsanwalt im Haus.

      So haben Sie also damals über all diese Möglichkeiten nachgedacht, die legalen wie die nicht legalen?

      Nicht bewusst. Wir haben uns zur Zeit des Leidens meiner Mutter keine Rechenschaft darüber abgelegt, ob wir ihr hätten helfen sollen zu sterben. Noch in den Achtzigerjahren war der Nimbus der Ärzte in den weißen Kitteln immens. Erst der Ster­bewunsch des Gemeindemitglieds konfrontierte mich mit dem Gedanken, dass wir unter Umständen verpflichtet sein können, Angehörigen solch einen Wunsch zu erfüllen. Doch damals lag dies nicht innerhalb des Denkhorizonts, auch nicht in meinem.

      Über dreißig Jahre habe ich als Seelsorger Menschen im Endstadium Krebs besucht. Immer wieder hörte ich ihr Klagen: «Herr Pfarrer, warum kann ich nicht sterben? Herr Pfarrer, warum lässt Gott mich so leiden? Herr Pfarrer, die Schmerzen machen mich kaputt.» Eine Antwort hatte ich nicht. Ich verließ die Betten dieser Menschen mit einem grässlichen Elendsge­fühl.

      Wir können heute kaum noch ermessen, wie sehr eine Organisation wie Exit die Notwendigkeit der Sterbe- und Freitodhilfe ins Bewusstsein der Menschen gebracht hat. Das war vor bald vierzig Jahren. Die Zeit war reif. Die «Affäre Haemmerli» hatte die Schweiz aufgewühlt.

      Herr Kriesi, eine letzte Frage für heute: Bezeichnen Sie sich selbst als Sterbehelfer? Oder als Freitodbegleiter?

      «Sterbehelfer» ist neutraler. Anderseits ist der Begriff von den Leuten besetzt, die tage- und nächtelang am Bett eines Sterbenden sitzen, mit diesem sprechen oder beten und Handreichungen bieten, wie Zunge feuchten, Stirne kühlen und Kissen schütteln. In den meisten Krankenhäusern und Pflegeheimen arbeiten solche Menschen – in der Regel ehrenamtlich –, und oft betonen sie energisch, sie würden nicht zum Sterben, sondern beim Sterben helfen, meist im Ton einer eher gehobenen Moralität gegenüber den Helfern beim assistierten Suizid. Viele dieser Leute haben ein starkes Bedürfnis, sich von den Sterbehelfern abzugrenzen, die bei Organisationen wie Exit arbeiten. Ich selbst ziehe für mich die Bezeichnung Freitodbegleiter vor.

      Die Affäre Haemmerli 1974

      Die «Affäre Haemmerli», wie sie bald genannt wird, beginnt im Dezember 1974, als sich Urs Peter Haemmerli, Chefarzt der Medizinischen Klinik am Zürcher Stadtspital Triemli, an die Zürcher Stadträtin Regula Pestalozzi wendet. Die Juristin ist als Vorsteherin des Gesundheits- und Wirtschaftsamts seine politische Vorgesetzte. Er vertraut ihr an, wie die «Neue Zürcher Zeitung» bald darauf berichtet, «was in medizinischen Kreisen, aber auch darüber hinaus, längst bekannt ist – auch wenn man nicht gerne davon gesprochen hat».1 In einzelnen Fällen werde hoffnungslos Kranken, die gelähmt und nicht mehr bei Bewusstsein sind, nur noch Wasser zugeführt. Diese Beschreibung ergänzt Urs Haemmerli mit der Bemerkung, dass seine Klinik überbelegt sei.

      Die Stadträtin ist schockiert und kommt zum Schluss, dass der Tatbestand der vorsätzlichen Tötung erfüllt sein könne. Rund einen Monat später informiert sie die Zürcher Staatsanwaltschaft. Kurz darauf klingeln Kriminalbeamte am frühen Morgen an der Haustür des Chefarztes, teilen ihm mit, er sei verhaftet, durchsuchen ihn nach Waffen und nehmen ihn mit zum Verhör. Der Verdacht: Er würde Patienten die Nahrung entziehen, um ihr Ableben zu beschleunigen und so dem Bettenmangel in seiner Klinik zu begegnen.

      Die Wellen schlagen hoch. Urs Haemmerli wird von seinem Chefarztposten freigestellt. Doch er – und nicht die Stadträtin, nicht die drohende Anklage – erhält viel Zuspruch. Die «Neue Zürcher Zeitung» berichtet, im Ton sachlich und das verständnisvolle Wohlwollen nicht verbergend. Das Klinikpersonal solidarisiert sich, die Medizinische Fakultät der Universität Zürich spricht ihm das Vertrauen aus. In weiten Kreisen der Bevölkerung erhält sein Tun hohe Zustimmung. In einer Stellungnahme zu Händen der Presse schreibt der Beschuldigte:

      «Ich habe gegenüber meinen Patienten nie etwas getan oder angeordnet, was ich nicht bei meiner Mutter oder bei meinem Vater tun würde, wenn sie in der gleichen Lage wären wie der betreffende Patient. Wenn ich selber als Patient in der gleichen Lage wäre, würde ich mir von meinem behandelnden Arzt dasselbe Vorgehen wünschen.» Er fragt: «Unter welchen Umständen ist ein Arzt nicht mehr verpflichtet, weitere Bemühungen zur Lebensverlängerung eines unwiderruflich be­wusstlosen und sicher dem Tod geweihten Patienten zu un­ter­nehmen?»2

      Die Affäre wird europaweit diskutiert. Ende Jahr reist Urs Haemmerli nach New York City und hält einen Vortrag am 8. Jahreskongress des amerikanischen Bildungsrats zur Eutha­nasie. Die «New York Times» titelt am 7. Dezember 1975: «Arzt stellt Veränderung in der Haltung zur Euthanasie fest». Das Blatt hält aus seinem Vortrag fest, dass die enormen technischen Fortschritte in der Medizin es in den letzten Jahren möglich gemacht hätten, unheilbar kranke Patienten auf unbestimmte Zeit zu versorgen. Wir müssten uns daher wie nie zuvor der Frage stellen, ob wir sie auf natürliche Weise sterben lassen sollen. Das Fazit des Schweizers in den USA: «Ich denke (…), dass passive Euthanasie schließlich legalisiert werden wird.»3

      Urs Haemmerli hatte mit Blick auf die Schweiz insofern unrecht, als die passive Euthanasie – im deutschsprachigen Raum meist «passive Sterbehilfe» oder als «sterbenlassen» bezeichnet – in der Schweizer Gesetzgebung juristisch nie ausdrücklich sanktioniert war. Sie wird aber, wie der Ausgang der Affäre Haemmerli und die weiteren Entwicklungen zeigen werden, unter gewissen Bedingungen «als erlaubt ange­sehen», so die Formulierung des Bundesamtes für Justiz.4 1976, ein Jahr nach der Strafanzeige, stellt die Zürcher Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Urs Haemmerli ist rehabi­li­tiert.

      Werner Kriesi erzählt

      Andelka. Eine junge Mutter mit Krebs

      Neben dem Hauseingang finde ich fünf Klingelknöpfe, alle in kaum leserlicher Handschrift angeschrieben. Eine dunkle, verwinkelte Treppe führt hinauf zur Wohnung. Hier wohnen Ausländer, die in der Schweiz Arbeit gefunden haben. Der Ehemann Andelkas bittet mich freundlich hinein. Einfache, gepflegte Zimmer mit ringsherum großen Fenstern. Ein etwa dreijähriges Mädchen fährt in forschem Tempo mit einem Dreirad vom Gang in die Stube, rings um den Stubentisch, wieder in den Gang zurück und so mit Vergnügen hin und her. Die junge Mutter kommt am Stock in die Stube. Wir begrüßen uns.

      Gestern Abend sprachen wir am Telefon das erste Mal miteinander, heute fühlen wir uns einander bereits vertraut. Andelkas Muttersprache ist Kroatisch, sie versteht alles, was ich sage. Doch ihr Deutsch ist gebrochen, und ich muss oft nachfragen. Mit größter Mühe versucht sie sich zu beherrschen, da sie wohl vor mir nicht weinen will. Sie leidet an einem unheilbaren Osteosarkom, an Knochenkrebs, der vor einem Dreivier­teljahr diagnostiziert wurde. Metastasen in den Lungen führen inzwischen zu schwerer Atemnot. Der Onkologe hat schon zum dritten Mal eine Chemotherapie verordnet. Nicht zur Heilung, sondern als palliative Maßnahme, die im besten Falle zu einer Atemerleichterung führen kann.

      Schweigend, in sich versunken, sitzt der Ehemann auf dem Sofa, das kleine Mädchen fährt Runde um Runde auf dem Dreirad um den Stubentisch. Wenn es an mir vorbeikommt, strahlt es mich an, will ein Kompliment. Andelka nimmt ihr Kind schließlich hoch, drückt es an ihre Brust, streichelt ihm über das Haar. Sie beginnt zu weinen, bald schluchzt sie heftig. Ich ziehe mich zurück, gehe hinaus in den Korridor. Sie und ihr Ehemann sollen sich in ihrem Schmerz nicht beobachtet fühlen. Auch empfinde ich jeden Versuch eines Trostworts in einer solchen Situation als reinen Zynismus.

      Andelkas Eltern betreiben in Kroatien einen Bauernhof mit ein wenig Viehwirtschaft sowie Maisanbau. Hier wuchs sie mit vier Brüdern auf. In die Schweiz kam sie vor zehn Jahren, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse daheim eine anständig bezahlte Arbeit nicht erlaubten. Andelka fand eine Anstellung in einem Privathaushalt. Ihre Arbeitgeberin, eine Anwältin, ist der jungen Frau sehr zugetan und hilft, wo immer sie nur kann. In den Akten von Exit ist sie als Kontaktperson aufgeführt.

      Der Ehemann ruft mich in die Stube zurück. Das Kind fährt alsbald wieder seine Runden, und wir setzen unser Gespräch fort.