Suzann-Viola Renninger

Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer


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im Moment nicht tun. Dann ging er wieder zurück in sein Dorf. In der darauffolgenden Nacht starb meine Großmutter, ohne nochmals aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht zu sein. So kam es, dass sie in ihrem Bett zu Hause sterben konnte. Ohne Ambulanz. Ohne Blaulicht. Ohne Magensonde. Ohne wochen-, monate-, jahrelanges Leiden, gelähmt und sprachlos in einem Pflegeheim. Ich bin mir sicher, meine Mutter hätte sich nach ihrem letzten Hirnschlag einen sanften, raschen Tod wie den ihrer Mutter gewünscht.

      Ich möchte damit nichts gegen den Fortschritt der Medizin sagen. Er ist in vielerlei Hinsicht ein Segen. Die Ärzte, die meine Mutter behandelten, entschieden sicher nach bestem Wissen und Gewissen, in der berechtigen Hoffnung, ihr noch einige Lebensjahre zu schenken. Dass es dann zu diesem dreijährigen Sterbemartyrium kam, ist eine unbeabsichtigte Folge. Doch mehr als fünfzig Jahre zuvor, zu der Zeit, als meine Großmutter starb, kannten wir diese Probleme nicht. Es gab keine Möglichkeiten, einen bewusstlosen Menschen künstlich zu ernähren und ihn so am Leben zu erhalten.

      Die Entwicklungen der Medizin in den letzten siebzig Jahren haben dazu geführt, dass bei Schwerkranken und Sterbenden der Tod hinausgeschoben und das Leben verlängert werden kann. Doch der Gewinn an Lebenszeit kann für die Betroffenen zur Qual werden. Andelka und Judith sind tragische Beispiele, wie selbst die beste medizinische Behandlung zur Folter werden kann.

      Folter. So ein Begriff schießt nun doch übers Ziel hinaus. Folter meint ja das absichtsvolle Zufügen von physischen und psychischen Qualen, um den Willen des Opfers zu brechen oder um es zu demütigen.

      Von vielen Leidenden hört man: Meine Schmerzen foltern mich Tag und Nacht. Davon bin ich wohl beeinflusst. Was meiner Mutter, was den beiden jungen Frauen passierte, war von niemandem so geplant. Die Behandlungen sollten das Leben verlängern und führten doch gleichzeitig zu einem Zustand, der für die Patientinnen quälend war. Auch wenn meine Mutter es nicht äußern konnte, so hatte sie doch ebenso wie die beiden jungen Frauen den sehnlichsten Wunsch, aus diesem Leib und Seele zermürbenden Zustand durch den Tod erlöst zu werden.

      Nun waren die Situationen ja sehr unterschiedlich. Ihre Mutter war über siebzig und gelähmt. Andelka war terminal an Krebs erkrankt, und ihr rascher Tod war absehbar. Judith schließlich, jung wie Andelka, hatte dank Medizin gleichwohl noch eine Spanne an Lebenszeit vor sich.

      Doch bei allen drei Frauen wurde das Sterben durch die Medizin verlängert, ob es nun Wochen, Monate oder Jahre waren. Am längsten bei Judith. Bei ihr folgte ein Spitalaufenthalt auf den anderen. Sechs Jahre lebte sie von Operation zu Operation. Die Tage waren eingeteilt durch die stündlichen Morphiumspritzen, ohne die sie die Schmerzen nicht auszuhalten vermoch­te. Die fünf Operationen nach dem Darmdurchbruch änderten an ihrem aussichtslosen Leiden nichts. Diese medizinischen Be­­hand­lungen mussten selbstverständlich gemacht werden, sie hatten aber eine paradoxe Wirkung. Sie verlängern Judiths Le­­­ben – und zugleich ihr Sterben.

      Sie sprechen also dann von Sterbeverlängerung, wenn die Medizin einen Menschen zwar am Leben erhält, ihn jedoch nicht mehr heilen, seine Situation nicht mehr verbessern kann?

      Ja.

      War diese Art der medizinischen Behandlung nicht der Wunsch von Judith? Sah sie es denn auch so, dass zugleich mit ihrem Leben auch ihr Sterben verlängert wurde?

      Judith war beseelt vom Willen, am Leben zu bleiben. Doch in der Phase, als sie mit Exit Kontakt aufnahm, hatte sie begon­nen, ihre Behandlungen nicht mehr zu ertragen. Sie wollte sich keiner weiteren Operation mehr unterziehen. Sie hatte den Wunsch, diese Qual zu beenden. Auch wenn sie sich dann anders entschied und nicht mit Exit aus dem Leben ging.

      Die Volksabstimmung 1977: Eine Panne der Demokratie?

      «Die unterzeichneten Stimmberechtigten des Kantons Zürich verlangen: Der Kanton Zürich reicht gemäß Artikel 93 der Bundesverfassung eine Standesinitiative mit folgender Forde­rung ein: Die Bundesgesetzgebung ist dahingehend zu ändern, dass die Tötung eines Menschen auf eigenes Verlangen straffrei ist, falls folgende Voraussetzungen erfüllt sind …»14

      Die «Volksinitiative Sterbehilfe auf Wunsch für Unheil­bar-Kranke», 1975 lanciert, wird von keiner Partei unterstützt. Re­gierung und Parlament stehen ihr ablehnend gegenüber. Das Zürcher Stimmvolk, davon unbeeindruckt, nimmt sie zweieinhalb Jahre später, am 25. September 1977, mit fast 60 Prozent Ja-Stimmen an.

      War dieses vom politischen Establishment unerwünschte Ergebnis eine «Panne der Demokratie»?15 War die Bevöl­ke­rung überfordert und wusste nicht, was sie tat? Hatte die «heftige öffentliche Diskussion um den Fall Haemmerli» zu Missverständnissen beigetragen? Das Eidgenössische Parlament muss reagieren. Eine Kommission wird eingesetzt.

      Urs Haemmerli hatte passive Sterbehilfe geleistet, den «Verzicht auf die Aufnahme oder den Abbruch von lebenser­hal­ten­den Maßnahmen», um die Formulierung des Bundesamts für Justiz zu zitieren.16 Die «direkte aktive Sterbehilfe» ist hingegen, so ebenfalls das Amt, eine «gezielte Tötung zur Verkür­zung der Leiden eines anderen Menschen», bei der ein Arzt oder ein Dritter dem Patienten absichtlich eine Spritze verabreicht, die direkt zum Tod führt.

      Nur um diese aktive Sterbehilfe dreht sich die Initiative. Sie verbindet ihre Forderung nach Straffreiheit mit einer Reihe von Bedingungen. So müsse der Sterbewillige an einer unheilbaren, schmerzhaften und mit Sicherheit zum Tode führenden Krankheit leiden. Er müsse außerdem seinen Sterbewunsch in zwei öffentlichen Urkunden festhalten, wobei ein Psychiater seine Urteilsfähigkeit zu bestätigen habe. Erst danach dürfe sein Leben von einem bis zu diesem Zeitpunkt nicht beteiligten Arzt beendet werden.

      Die Kommission holt sich Rat bei der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. Diese hatte in ihren 1976 publizierten «Richtlinien für die Sterbehilfe» festgestellt, die Aufgabe des Arztes sei Lebenshilfe, «ausgerichtet auf die Erhaltung und Verlängerung des Lebens».17 Die Kommission folgt dieser Linie. Gezielte Lebensverkür­zung durch Tötung sei kein ärztliches Anliegen. Sie fasst zusammen: «Kann ein Arzt nicht mehr zur Genesung eines Patienten beitragen, dann soll er sich auf Linderung des Leidens beschränken», und empfiehlt dem Eidgenössischen Parlament, der Initiative keine Folge zu leisten. Und so geschieht es dann auch.

      Viele Begriffe, ein Wunsch

      Herr Kriesi, warum haben noch immer viele Ärztinnen und Ärzte ein Problem, wenn ihre Patienten sie bitten, ihnen sterben zu helfen?

      Die Tradition der Medizin, die medizinische Ausbildung und auch die FMH, der Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, setzen auf lebenserhaltende Maßnahmen und nicht auf solche, die beim Sterben helfen. Zwar hat sich seit dem Fall Haemmerli vieles verändert, und viele Ärzte unterlassen etwa in aussichtslosen Situationen lebenserhaltende Maßnahmen wie eine künstliche Ernährung oder nehmen sie zurück. Doch dabei unterliegen sie weiterhin dem Trugschluss, das passive Vermeiden sei moralisch höherwertig als das aktive Zurücknehmen. Dabei macht es nach meiner Meinung keinen Unterschied, ob der Patient sterben kann, weil ein Arzt eine bestimmte, aussichtslose Behandlung erst gar nicht beginnt oder ob er diese wiedereinstellt, weil er merkt, dass sie mehr belastet als Gutes tut.

      Beides – der Behandlungsabbruch durch Unterlassen oder Einstellen – gilt juristisch als passive Sterbehilfe. Doch psychologisch macht es einen Unterschied. Es fällt, so meine Erfah­rung, schwerer, eine Maßnahme wieder zurückzunehmen, die den Patienten am Leben hält. Die Verantwortung scheint in diesem Fall größer, und größer können daher auch die damit einhergehenden Schuldgefühle sein. Man hat schließlich mit den eigenen Händen etwas getan – etwa den Hahn der Infu­sion zugedreht und damit die Flüssigkeitszufuhr gestoppt –, was das Sterben beschleunigt hat, weil es zuvor durch genau diese Maßnahme noch aufgeschoben wurde.

      Hier liegt psychologisch eine viel größere Hürde. Ja. Doch in der Konsequenz ist es dasselbe. Der Patient stirbt, ob ich die Maßnahme erst gar nicht beginne oder ob ich sie einstelle. In beiden Fällen habe ich geholfen, sinnloses Leiden abzukürzen. Nur dar­auf kommt es an.

      Wenn es nur darauf ankäme, dann ist kaum nachzuvollziehen, mit welchem Aufwand weitere begriffliche Unterscheidungen verteidigt und moralisch und juristisch bewertet werden. Es gibt ja neben