Suzann-Viola Renninger

Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer


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Sie entschuldigt sich, dass sie unser Gespräch nicht ohne regelmäßige Schmerzmittelgabe durchhalten könne. Sie zieht den Rock ein wenig übers Knie und setzt sich eine Spritze in den Oberschen­kel.

      Seit ihrer Kindheit leidet Judith an Pankreatitis, einer chro­ni­schen Bauchspeicheldrüsenentzündung. Ständig wieder­keh­ren­de Schmerzschübe, Übelkeit und Erbrechen quälen sie die gesamte Schulzeit hindurch, ohne dass die Krankheit richtig dia­­gnostiziert wird. Man denkt, sie sei halt ein übersensibles Kind. Nach der Matura studiert sie Ingenieurswissenschaften, muss jedoch wegen der stetigen Schmerzen abbrechen.

      «Ich bin zwar noch jung», erzählt sie, «doch ich habe alles ge­habt, was das Leben einem Menschen bieten kann, vielleicht dürfen wir gar nicht mehr erwarten. Wir sind geneigt, vor allem in den westlichen Ländern, unsere Erwartungen an das Leben zu überfrachten. Damit sind dann so viele Enttäuschungen verbunden, die gar nicht sein müssten. Ich konnte ja trotz meiner Krankheit in die Schule gehen. Nur einige Semester hätten gefehlt und ich hätte mein Studium mit meiner Masterarbeit beenden können. Einmal war ich mit einem guten Mann verhei­ra­tet. Die Trennung war nicht zu umgehen. Ich war zu krank. Das weiß ich heute. Einige Jahre engagierte ich mich beim Schweizerischen Roten Kreuz. Ich habe die Welt kennengelernt! Im Guten wie im Schweren. Es genügt.»

      Knapp dreißigjährig erleidet Judith einen akuten Schub. Die Hälfte des Magens, der Zwölffingerdarm, die Galle sowie die Milz müssen operativ entfernt werden. Bald darauf folgt ein Darmdurchbruch. Innerhalb eines Monats wird sie fünfmal operiert. Seither ernährt sie sich nur von Joghurt und allerlei Breispeisen. Mehr als zwanzigmal täglich spritzt sie sich ein Morphiumpräparat, das ihren ganzen Körper betäubt. Ohne diese Keule müsste sie sich, wie sie sagt, an der Wand den Kopf einrennen. Kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres hält sie es nicht mehr aus. Sie versucht sich mit einer wilden Mischung von Medikamenten das Leben zu nehmen. Sie wird gefunden und reanimiert. Als sie erwacht, erfasst sie ein Heulkrampf. Sie ist derart verzweifelt, dass sie ihre Retter anschreit.

      Judith spricht in aller Ruhe. Sie fürchte sich nicht vor dem Tod, denn sie wisse, dass «das Innere des Menschen» unsterblich sei. Oft würde sie ruhig auf dem Bett liegen und spüren, wie ihre Seele aus ihr herausfließe und spazieren gehe. Sie zeigt auf die blühende Wiese mit den Obstbäumen und sagt: «Schauen Sie dort! Dort ist dann meine Seele. Ich bleibe derweil ruhig auf meinem Bett und atme den Duft der Blüten, den meine Seele zu mir strömen lässt. Wenn meine Seele in den Körper zurückkommt, empfinde ich einen kleinen Ruck in meiner Brust, dieselbe feine Bewegung, mit der sie auch meinen Körper verlässt. Durch die Seelenreisen weiß, ich, es geht weiter. Mein frühes Sterben sagt mir, ich werde an einem anderen Ort gebraucht. Wo und wie, das weiß ich nicht, brauche ich auch nicht zu wissen, aber ich weiß, es geht weiter! Wenn es nicht so wäre, wäre menschli­ches Leben und Leiden doch ein böser Witz!»

      Solche Erlebnisse würde sie sonst niemandem erzählen, denn sie fürchte abschätzige Bemerkungen von Menschen, die kein Verständnis hätten für Erfahrungen, die über den normalen Alltag hinausgehen.

      Judith ist nicht lebensmüde, aber ihre seelischen und körperlichen Kräfte sind aufgezehrt. Sie wünscht, an dem Tag sterben zu können, an dem sie geheiratet hatte. An der Wand hängt ihr Hochzeitskleid, in dem sie eingesargt werden möchte. Bei meinem dritten Besuch bestimmt sie den Tag, an welchem sie ihrem Leben ein Ende setzen will. Der Hausarzt hat das Rezept für das Sterbemittel bereits ausgestellt.

      Zwei Tage vor dem abgesprochenen Sterbetag ruft sie mich an. Sie sagt ab. Mehrfach vereinbart sie mit mir einen neuen Termin. Nach der fünften Absage höre ich nichts mehr von ihr.

      Worüber sprachen Sie bei solchen Anrufen?

      Ich sagte Judith, dass es so gut sei, und versicherte ihr, dass sie mit besten Gewissen immer wieder Termine widerrufen könne. Nur sie allein könne wissen und spüren, ob sie ihrem Leben ein Ende setzen wolle und wann der richtige Zeitpunkt sei. Ich sagte, dass sie wieder auf mich zukommen könne, sollte sie einen neuen Termin wünschen. Und dass sie frei sei, auch diesen Termin je­derzeit abzusagen.

      Fünfmal ein Termin und fünfmal die Absage. Es wirkt, als ob Judith sich nicht sicher war, ausprobierte, was passiert, was sie fühlt und was sie denkt, wenn sie einen Termin festlegt.

      Ja, es ist wie eine Art Experimentieren mit der eigenen Seele. Ich habe das oft erlebt. Wenn jemand unsicher ist, schlage ich da­her manchmal vor: Setzen Sie mal einen Termin. Und schauen Sie, was Ihre Seele macht und Ihr Bauchgefühl sagt. Bei Judith spürte ich eine schon länger andauernde innere Auseinandersetzung zwischen Lebenswillen und Sterbewunsch. Die Aufgabe eines Freitodbegleiters kann dabei nur sein, in solch einer Situation stützend zu begleiten. Und keinesfalls zu werten, keinesfalls in eine Richtung zu lenken. Und zu betonen, dass man jederzeit absagen und auch jederzeit einen neuen Termin holen könne. Ohne Erklärung. Ohne Rechtfertigung.

      Zu den beißenden Kritiken an Exit gehört, dass es um knallhartes Business mit Betriebszielen und Marketing gehe. Dass mit anderen einschlägigen Organisationen um zahlungsbe­reite Sterbewillige am Todesmarkt konkurriert werde. Und dass es daher auch kein Zurück mehr gebe, hätte jemand einen Termin zum Vorgespräch vereinbart.13

      Eine realitätsfremde Vorstellung, dass jemand, der die Hilfe von Exit in Anspruch nehmen möchte, dann auch gezwungen sei zu sterben. Die Tatsache ist: Wir ermutigen die Menschen, sorgsam auf ihre innere Stimme zu hören. Und sich jederzeit die Freiheit zu nehmen, das zu tun, was sie richtig finden. Dazu gehört auch, dass sie immer absagen können. Auch wenn wir schon da sind, der Sterbetrunk oder die Infusion schon bereitstehen. Jederzeit ist ein Nein möglich. Wir erleben das im­mer wieder.

      Auch telefoniere ich immer am Vorabend, um zu hören, wie es diesem Menschen geht, der seine letzte Nacht vor sich hat. Dann spüre ich, ob sie oder er wirklich entschlossen ist. Es kommt vor, dass die Person dann absagt oder verschiebt. Und ich werde es immer wieder betonen: Gerade weil die Menschen unsicher sein und ausprobieren dürfen, fühlen sie sich entlastet und können sich danach zum Weiterleben entschließen. Dieser ganze Weg der Freitodvorbereitung ist ein Weg der Klärung: Passt diese Art des Freitods für mich oder nicht? Und daher beendet rund ein Drittel der Menschen diesen Weg auch nicht mit dem assistierten Freitod, sondern wählen eine andere Abzweigung.

      Einmal war ich einem Altersheim, um einen über achtzigjäh­rigen Mann zu begleiten. Er war die Wochen zuvor immer wieder sehr ärgerlich, dass die Vorbereitung so lange dauere. Ständig drängte er mich, alles zu beschleunigen. Nun saß er am Bettrand, das Glas mit dem Sterbemittel in der Hand. Er schaute hinein. Sonst nichts. Er saß einfach nur da und schaute ins Glas. Da habe ich gesagt: «Wollen Sie mir das Glas zurückgeben? Kommen Sie, wir stellen das Glas auf die Seite …» Ich hatte den Eindruck, dass er sich dies nicht traute, weil er zuvor so gedrängt hatte. Er schwieg. Ich sagte: «Es ist selbstverständlich, dass Sie zweifeln. Das können Sie mit bestem Gewissen.» Er schwieg. Die Knöchel der Hand, die das Glas umklammerten, wurden weiß. Schließlich murmelte er: «Ja, ich will es mir nochmals überle­gen.» Eine Zeit lang habe er gedacht, es müsse endlich vorwärtsgehen. Doch jetzt würde er merken, dass er noch zu sehr am Le­­ben hänge. Wir haben uns dann in einer sehr guten Stimmung voneinander verabschiedet. Er war gelöst und zufrieden. Später habe ich erfahren, dass er ein Vierteljahr danach ohne Exit gestorben sei.

      Nachdem Judith ein fünftes Mal abgesagt hat, haben Sie nichts mehr von ihr gehört?

      In einer solchen Situation nehme ich, nimmt Exit, nicht wieder Kontakt auf. Wir bleiben passiv, machen alles abhängig von einer erneuten Initiative der Person. Alles andere könnte als Druck empfunden werden. Übrigens ist dies auch einer der Gründe, warum Exit nur Menschen mit Wohnsitz in der Schweiz begleitet. Wer eine lange Reise in die Schweiz unternommen hat, wird es schwerer haben, einen einmal ins Auge gefassten Sterbetermin aufzuschieben. Und so könnte der Druck wachsen, den Termin einzuhalten.

      Lebensverlängerung als Sterbeverlängerung

      Auch meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, erlitt einen Hirnschlag. Das war im Jahre 1931. Als es passierte, betteten ihre Angehörigen sie aufs Sofa und eines ihrer Kinder fuhr mit dem Velo ins Nachbardorf. Doch der Arzt war auf Krankenbesuchen unterwegs. Er würde, so hieß es, am Abend, jedenfalls