Urs Schaub

Tanner


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Wind. Die Brise hat wieder aufgefrischt. Im Stall brennt eine nackte Glühbirne. Tanner muss sich zuerst an den scharfen Geruch der Kühe gewöhnen. Zum Glück ist es herrlich warm. Ein Aufenthalt pro Tag im Kühlraum reicht ihm für einen gewöhnlichen Samstag. Viele große Augen schauen ihn an. Nur eine Kuh, ganz hinten im Stall, liegt abgewandt. Tanner vermutet, dass das die werdende Mutter ist. Sie hat andere Interessen,als die beiden Männer anzuglotzen.

      Das dahinten sei seine Laura, bestätigt Karl in diesem Moment seine Vermutung. Die meisten Kühe stehen noch, nur Laura liegt im frischen Stroh. Alle kauen gleichgültig mit mahlenden Geräuschen vor sich hin.

      Karl besitzt dreizehn schwarzweiße Kühe, mit schön geformten Hörnern. Jede Kuh hat in beiden Ohren gelbe Plastikmarken mit einem Code drauf.

      Eine Kuh ohne Hörner ist für mich keine Kuh. Ich bin da altmodisch. Bei mir im Stall hat sich noch keine Kuh verletzt. Voller Stolz redet Karl über seine Kühe.

      Das ist doch, äh … ja, wie wenn du einer Frau die Haare glatt abrasierst. Ihr ganzer Stolz ist hin. Jawohl. Setzen Sie sich, Simon, bitte.

      So viele Worte auf einmal hat Tanner den ganzen Tag von Karl nicht gehört.

      Der Stall öffnet sich hinten nach links in einen kleinen Nebenstall, in dem Strohballen bis unter die Holzdecke gestapelt sind und wo, in seinem rückwärtigen Teil, abgetrennt durch ein abgeschabtes Holzgitter, zwei kleine Kälber breitbeinig dastehen und die beiden Männer neugierig beäugen.

      Karl wirft drei Strohballen geschickt zu einer kleinen, improvisierten Sitzgruppe zusammen, legt auf den mittleren Ballen ein kleines Brett, worauf er Flasche und Gläser stellt. Er wiederholt noch einmal seine Aufforderung und sie setzen sich.

      Vor den Ballenstapeln steht ein zusammenklappbares Bett, mit einem weißen Kissen und einer Wolldecke. Karl bemerkt Tanners Blick.

      Ja, ja, vielleicht muss ich heute im Stall übernachten. Es ist ihr erstes Kalb.

      Es ist sehr still im Stall. Manchmal hört man das Stroh rascheln.

      Dann und wann reibt eine Kuh ihren Kopf an einem Balken. Und das gleichmäßige Geräusch des Wiederkäuens.

      Tanner hat das Gefühl, er sitze mitten in einem warmen Bauch.

      Lauter Verdauungsgeräusche.

      Meistens träume ich hier ganz besondere Träume!

      Das Wort besondere dehnt Karl genüsslich und lachend schenkt er ein. Sie prosten sich zu, auch in Richtung Laura.

      Auf eine glückliche Niederkunft und auf dass wir heute Nacht ganz besondere Träume haben!

      Irgendeiner der gelangweilten Götter muss Tanner in diesem Moment ausnahmsweise zugehört haben …

      Der selbst gebrannte Apfelschnaps rinnt warm durch die Kehle. Karl schenkt nach und schweigend trinken sie, beobachtet von den Kühen.

      Wenn es dir recht ist, sagen wir uns du! Was meinst du, Simon? Tanner ist einverstanden und zum dritten Mal schenkt Karl ein. Lange spricht keiner. Der Schnaps und die Wärme im Stall machen Tanner ganz schläfrig. Karl stiert in sein Glas.

      Du, äh … Simon. Ich wollte vorhin nicht länger über deinen Besuch auf dem Mondhof sprechen!

      Pause. Trinken.

      Ruth regt sich dabei immer fürchterlich auf!

      Interessant, denkt Tanner einmal mehr. Hat nicht Ruth dasselbe über ihren Mann gesagt?

      Du warst mit Raoul befreundet, oder?

      Aha, dann hat dir Ruth also doch schon erzählt, stellt Karl fest und trinkt mit einem schweren Seufzer sein Glas leer.

      Tanner behält sein Glas in der Hand. Karl würde es sofort wieder nachfüllen und er will einen klaren Kopf behalten.

      Ja, Raoul und ich waren befreundet. Er war eigentlich kein Bauer. Vom äh … Typ her. Verstehst du, Simon.

      Tanner nickt. Und wartet. Karl will erzählen, kommt aber nicht so richtig in Fahrt. Oder fehlen ihm die Worte?

      Damals war ja Auguste in Afrika und es blieb ihm nichts anderes übrig. Der große Hof und so weiter.

      Karl schenkt sich wieder ein.

      Er hat Orgel gespielt in der Kirche. Medizin hat er zu studieren angefangen. Dann hat ihn die Alte zurück auf den Hof gezwungen. Er war ein Träumer und nicht geschaffen …

      Karl setzt den Satz gestisch fort. Zeigt auf die Kühe. Meint den ganzen Hof und die harte Arbeit.

      Karl beißt sich zwischen den Sätzen immer wieder auf die Zunge. Jetzt räuspert er sich. Gibt sich einen Ruck.

      Als sein Bruder zurückkehrte, was alle überrascht hat, fingen die Probleme erst an. Die beiden Brüder haben sich äh … sofort zerstritten und Raoul wurde hm … niedergeschlagen. Also, äh … seelisch. Er war in ärztlicher Behandlung. Ruth und ich haben ihm damals geholfen, wo es ging. Er war natürlich oft hier und am Anfang hat er noch viel erzählt von seinen Problemen mit Auguste. Aber mit der Zeit wurde er immer schweigsamer.

      Karl hat unterdessen sein Glas auf das Brett gestellt. Er spaltet jetzt Strohhalme. Offensichtlich hilft es ihm, sich zu konzentrieren.

      Er kam zwar immer noch zu uns zum Essen. Oder auf ein Glas Wein. Hat aber oft kein einziges Wort gesprochen und ging wieder nach ein, zwei Stunden. Regelrecht unheimlich ist sein Schweigen gewesen!

      Ist es die Wärme und Stille des Stalles oder der Schnaps, der ihm jetzt immer mehr die Zunge löste? Tanner nickt nur und wartet, bis Karl weitererzählt.

      Als dann seine Frau Selbstmord begangen hat, hörten seine Besuche bei uns auf. Wir haben ihn zum letzten Mal an dem Grab gesehen. Wir haben ihn besuchen wollen oder haben telefoniert. Aber immer hieß es, er wolle niemanden sehen und er sei krank. Er war zu der Zeit auch öfters auf Reisen. Hieß es. Manchmal war er drei Wochen lang weg.

      Karl zuckt mit der Achsel, schenkt sich ein und trinkt.

      Die Tochter war damals gerade zehn Jahre alt. Das Mädchen war oft hier. Bei Ruth. Wir haben sie sehr gerne.

      Karl hält inne, als ob er in der Ferne etwas hören würde. Eine Kuh hustet heiser.

      Eines Tages kommt Auguste hier vorbei und teilt uns mit, dass sein Bruder über Nacht den Hof verlassen habe. Seine Tochter habe er zurückgelassen und ziemlich viel Geld sei auch verschwunden. Raoul war regelrecht wie vom Erdboden verschwunden und niemand wusste, wo er hingegangen sein könnte.

      An dieser Stelle zögert Karl.

      Die äh … Polizei vermutete damals, dass er vielleicht auch Selbstmord begangen haben könnte, wie seine Frau, denn es war ja allerorts bekannt. Das mit seiner Niedergeschlagenheit.

      Jetzt blickt Karl Tanner direkt in die Augen.

      Wir kannten Raoul besser. Das alles passte überhaupt nicht zu ihm.

      Karl schweigt und starrt in sein leeres Glas.

      Vor allem, dass er Rosalind einfach so zurückgelassen hatte, das konnte einfach nicht sein. Das war unbegreiflich. Ruth und ich haben damals keine Nacht mehr geschlafen.

      Karl wischt sich irgendwas aus den Augen und stellt das Glas auf das Brett zurück.

      Tanner möchte seine Hand auf Karls Arm legen, tut es dann aber doch nicht. Sagt auch nichts und denkt nur an das weinende Mädchen, das er gestern kurz gesehen hat. Und an die Musik, die er heute gehört hat.

      Das Medaillon! Er hat immer noch nicht das Medaillon geöffnet, fällt Tanner jetzt ein.

      Karl spricht weiter. Aber er hat sich noch nicht wieder gefangen. Die Polizei suchte die ganze Umgebung ab, hat aber keine Spur gefunden. Es war unbegreiflich, aber niemand hatte ihn gesehen! Karl schnäuzt sich.

      Drei Wochen später taucht plötzlich ein Brief auf. Aus Australien. Raoul schreibt darin, dass er es nicht mehr ausgehalten habe und dass seine einzige Chance zum Überleben sei, ein vollständig neues