Urs Schaub

Tanner


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erhebt sich, stützt sich dabei auf ihren Stock, behält dabei aber weiterhin die Tischdecke in der Hand und ruft mit lauter Stimme.

      Zwerg! Wo bleibst du? Wart nur! Hast du mich vergessen?

      Tanner hört hinter sich ein Geräusch und schon schießt die uniformierte Kugel an ihm vorbei, nimmt den Stuhl weg, auf dem die Alte bis jetzt gesessen hat.

      Isch bijn ja da. Nür käinä Aufrägüng, Madame!

      La boule ijst niemand, där värgisst!

      Schon gar nischt, wenn Madame gepisst.

      Isch bringä jätzt zu Hinz und Künz,

      Ihrän gold'nän, teurän Brünz.

      Um Millimeter nur verpasst der niedersausende Stock den Rücken des Zwerges. In dem Stuhl, den Honoré an Tanner vorüberträgt, ist ein Gefäß eingelassen, in dem hörbar Madames Wasser plätschert.

      Während die Alte ihren Rock glatt streicht, offensichtlich trägt sie keine Unterwäsche, oder Tanner versteht ihre Technik nicht, hört er draußen im Gang weitere Dichterworte des großen Honoré. Leider versteht er nur noch den Anfang der nächsten Zeile. Aliäs Läbän fließt in ruhigär Bahn,

      Seulement Madame und ihr Galan …

      Der Rest verliert sich leider in der Ferne. Tanners Sympathie für den kleinen Gnom wächst von Minute zu Minute.

      Die Alte greift unter den Tisch und bringt eine Literflasche Kölnisch Wasser zum Vorschein. Mit einem: Wollen Sie auch, Tanner?, bietet sie ihm die Flasche an. Und mit einem: Danke, ich habe schon!, wehrt er entschieden das Angebot ab. Lieber wäre ihm jetzt eine Zigarette.

      Und wo bleibt der angekündigte Tee, fragt er sich still.

      Eine Wolke des wohl billigsten Kölnisch Wassers, das er je gerochen hat, umhüllt sie jetzt.

      Gibt es für geizig noch eine Steigerungsform? Vielleicht schwergeizig? Analog zu schwerreich.

      Sie stellt das Kölnisch Wasser wieder weg und knallt hintereinander zwei weitere Flaschen auf den Tisch.

      Wollen Sie Malaga oder Orangensaft?, fragt sie und schaut ihn prüfend an.

      Tanner kommt sich vor wie Bassanio in Belmont, der sich für die goldene, silberne oder bleierne Kassette entscheiden muss und dessen zukünftiges Glück – Liebe und Kapital – von der richtigen Wahl abhängt. Die silberne Kassette, das Kölnisch Wasser, hat er ja bereits abgelehnt.

      Es bleibt die alles entscheidende Frage: Gold oder Blei?

      Er entscheidet sich demütig für das Blei, wie der kluge Bassanio, der mit dieser Antwort alles gewann …

      Trinken Sie keinen Alkohol? Wie fad!

      Tanner bereut natürlich sofort seine Entscheidung, aber schon kommt Honoré mit zwei großen Wassergläsern angerollt und schenkt ihm zwei Fingerbreit Saft ein.

      Gerührt und nicht geschüttelt, sagt er leise zu ihm und trollt sich wieder.

      Die Alte schenkt sich selber ihr Glas randvoll mit Malaga ein und prostet ihm zu. Sie leert in einem Zug mindestens die Hälfte des Glases und greift noch einmal unter den Tisch.

      Zum Vorschein kommt ein buschiger Kater, den sie sich auf ihren Schoß setzt. Der Kater glotzt Tanner an.

      Ein Glück, dass seine neue Katzenfreundin Rosalind nicht hier ist! Dieses Monsterexemplar von Kater würde sie nicht mögen. Obwohl man sich in der Hinsicht ganz gewaltig täuschen kann!

      Die Alte krault den Kater hinter den Ohren. Die Stelle müsste eigentlich längst wund sein, so wie sie krault. Dann spricht sie das erste Mal den Namen aus.

      … Ah … wie meinen Sie, äh … das jetzt? Tanner ist verdattert.

      Sie wollten doch vorhin ganz schlau herausfinden, wer Klavier gespielt hat. Stimmt's? Oder habe ich Recht?

      Mit einem zweiten Schluck leert sie ihr Glas.

      Wenn sie ihr Glas gleich nachfüllt, kann Honoré bald wieder den Spezialthron bringen, denkt Tanner, um sich abzulenken. Er macht in dem Moment nicht sein intelligentestes Gesicht. Er lockert die Krawatte und wiederholt einfältig noch einmal den Namen.

      Rosalind? Ach so, Rosalind! … äh … sie hat Klavier gespielt? Und wer ist, äh … Rosalind, wenn ich fragen darf?

      Jetzt fühlt er eine Wärme im Gesicht. Zum Glück ist es hier so dunkel. Tanner denkt an rotblonde Haare und an ein ovales Gesicht …

      Rosalind ist meine Enkelin, sie hat Klavier gespielt. Ist das zu schwierig für Sie zu verstehen, Tanner?

      Nein, nein, ich verstehe schon, beeilt er sich zu sagen.

      Verstehen schon, aber ich kann es nicht so richtig fassen, denkt er und findet es irgendwie gemein, dass sein Gesicht nicht abkühlt. Deswegen habe ich Sie auch hergebeten, Tanner!

      Pause. Der Kater gähnt.

      Ich höre, dass Sie gestern das Pferd, das meine Enkelin abgeworfen hat, eingefangen haben. Dafür möchte ich mich bedanken.

      Diesen Sidian, dieses Saubiest, einzufangen, dazu gehört was, das muss ich sagen. Das würde sich nicht jeder trauen. Es ist außerdem ein wertvolles Tier. Nicht auszudenken, was alles hätte passieren können, ohne Ihr mutiges Eingreifen. Stimmt's? Oder habe ich Recht?

      Also, wissen Sie, es war …!

      Schweigen Sie, Tanner! Ich bin noch nicht zu Ende!

      Tanner schweigt und nippt an seinem Saft.

      Meine Enkelin hatte keine Erlaubnis, mit diesem Pferd zu reiten, weil es noch nicht fertig eingeritten ist. Verstehen Sie etwas von Pferden? Nein! Das habe ich mir gedacht.

      Er hat eigentlich weder Ja noch Nein gesagt, aber sie ist nicht zu bremsen.

      Umso mehr Respekt. Und weiter habe ich gehört, dass mein Sohn nicht gerade höflich zu Ihnen gewesen ist.

      Wieder versucht er dazwischenzugehen.

      Nein, nein, lassen Sie, Tanner. Ich kenne meinen Sohn. Höflichkeit gibt's nicht in seinem Repertoire. Er hat sich gestern sicher saumäßig benommen. Stimmt's? Oder habe ich Recht? Würden Sie von mir eine Entschuldigung für sein Verhalten akzeptieren?

      Er ist leider heute geschäftlich unterwegs, sonst würde er sich selber entschuldigen.

      Jetzt sind Sie unter Ihrem Niveau, Madame. Der Mann, den ich gestern gesehen habe, der würde sich nie und nimmer entschuldigen. Er behält den Gedanken für sich.

      Selbstverständlich, Madame, sagt Tanner stattdessen laut und deutlich. Und macht Anstalten aufzustehen.

      Sitzen bleiben, Tanner! Die Audienz ist noch nicht beendet! Trinken Sie noch Saft! Zweeerrg …!

      Bevor er abwehren kann, ist Honoré schon wieder mit der Flasehe zur Stelle. Während er ihm Saft einschenkt, er muss sich dafür auf seine Zehenspitzen stellen, sagt er ganz sanft, nahe an Tanners Ohr.

      Sie ist die Sonne auf dem Mondhof.

      Bevor er nachfragen kann, wer die Sonne ist, faucht die Alte den Zwerg an.

      Verschwinde, imbécile! Und droht mit dem Stock.

      Schweigend schauen sie sich in die Augen. Sie massiert dabei immer noch die schwarze Katze zwischen den Ohren. Tanner weicht ihrem Blick nicht aus.

      Warum sind Sie eigentlich bei der Ruth eingezogen, Tanner?

      Aha, das ist des Pudels Kern, denkt er und überlegt sich, welche Geschichte er zum Besten geben soll.

      Ach, wissen Sie, ich bin ein sentimentaler Städter, der lange Zeit im Ausland gearbeitet hat, jetzt zurück in die Schweiz kommt, etwas Erspartes auf der hohen Kante hat. Bevor ich mich entscheide, was weiter mit meinem unbedeutenden Leben geschehen soll, will ich mir einen alten Traum erfüllen, nämlich einmal auf dem Land zu leben. Ein bisschen schreiben, spazieren, wilde Pferde einfangen