Urs Schaub

Tanner


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ein Fleck mit niedergetrampeltem Gras.

      Hier ist das Mädchen vom Pferd gefallen, murmelt er leise und beginnt, die Stelle zu untersuchen. Es gibt einige Blätter mit braunen Flecken. Das könnte ihr Blut sein. Er riecht daran und reibt einige Flecken zwischen seinen Fingern.

      Er ist sich nicht sicher. Aber dass die Halskette mit dem kleinen goldenen Medaillon, die er jetzt zwischen den Grasnarben findet, auch dem Mädchen gehört, da ist er sich sofort sicher. Auf der Rückseite des Medaillons ist zwar nicht der gleiche Buchstabe wie bei der Reitpeitsche eingraviert, aber trotzdem. Tanner versucht das Medaillon zu öffnen, aber es bleibt verschlossen. Er sucht in seiner Jackentasche, aber er hat kein Messer dabei.

      Er sucht noch eine gute halbe Stunde das ganze Umfeld systematisch ab, kann aber nichts mehr finden. Nur viele Hufspuren von dem großen Pferd.

      Vom Friedhof aus, der auf einer leichten Kuppe liegt, sieht man die Autobahn, die noch ziemlich neu sein muss. Je nachdem, wie der Wind dreht, kann man die Autos sicher bis hierher hören. Heute nicht. Geräuschlos ziehen die Autos und Lastwagen ihre Bahn. Über der Autobahn kreist gelassen ein großer Vogel.

      Hinter der Autobahn steigt das Gelände wieder sanft an. Man sieht vier Bäume nebeneinander stehen. Gegen den hellen Horizont geben ihre noch blätterlosen Baumkronen eine scharfe Silhouette ab.

      Unwillkürlich muss er an eine Kinderzeichnung denken.

      Die Bäume sehen aus wie Vater, Mutter, ein Junge. Und ein Mädchen. Alle geben sich die Hand. Nur das Mädchen steht etwas abseits, und seine Baumkrone wächst, als wäre es erschreckt worden, von seinen Eltern weg.

      Rechts von der Baumgruppe erkennt man die Dächer eines Bauernhofes und ein hohes Silo, über dem eine zerrissene Fahne flattert. Da man nur die Dächer sieht, spürt man das sanfte Abfallen der Landschaft zum See hin.

      Auf der geteerten Straße, die an dem Friedhof vorbei ins Dorf führt, fährt ein heller Opel Kombi vorüber. Eine Hand winkt ihm aus dem offenen Fenster zu. Tanner winkt etwas unsicher zurück. Ob das Ruth ist, die vom Einkaufen zurückkommt? Bei der Fahrt ins Städtchen hat er sie nicht bemerkt. Vielleicht gibt's noch eine andere Straße?

      Ob er ihnen beim Mittagessen von seiner gestrigen Begegnung erzählen soll? Sie wüssten bestimmt, wer das war. Denn immerhin möchte er ja die Peitsche und das Medaillon nicht einfach behalten.

      Tanner, sagt er lachend zu sich selber, du willst doch einfach dieses Mädchen wiedersehen.

      Sein besseres Ich sagt vor seinem inneren Hohen Tribunal tapfer etwas von Bürgerpflicht und wertvollen Gegenständen, die man doch nicht einfach behalten kann …

      Ach, lass es, Tanner. Und damit basta!

      Er schaut auf sein Telefon und sieht, dass er doch mehr Zeit mit seiner Untersuchung des Bodens zugebracht hat, als er dachte. Es geht schon gegen zwölf Uhr. Bald ist Mittagessenszeit. Er fotografiert den Friedhof und auch die frischen Gräber. Eigentlich weiß er nicht genau, warum.

      Bloß indem ich die Gräber der Kinder fotografiere, finde ich den Mörder nicht!

      Der Kuckuck ruft. Diesmal aus der Ferne.

      In der Küche sitzt Karl schon am gedeckten Tisch und liest die Zeitung. Ruth steht am Kochherd und hantiert mit einem Stabmixer. Sein Gruß geht im Lärm der Küchenmaschine unter.

      Karl nickt und bedeutet ihm, er solle nur reinkommen.

      Da der Kochherd direkt bei der Eingangstür steht, muss er gezwungenermaßen sehr nahe an Ruth vorbei, und trotz der vielfältigen Gerüche aus den vielen Pfannen riecht Tanner ganz deutlich ihr Parfum. Vanille und Zitrone. Er könnte schwören, dass sie heute Morgen noch kein Parfum verwendet hatte.

      Das Geräusch des Stabmixers bricht ab und jetzt hört man wieder den Nachrichtensprecher. Wie am Morgen.

      Stört es Sie, wenn wir die Nachrichten hören? Uns Bauern interessiert ja vor allem das Wetter. Sie seufzt.

      Wenn der Boden nicht bald trocken wird, bekommen wir Probleme.

      Sie prüft mit einem schnellen Blick, ob er, der Städter, auch versteht. Ihre Zunge schnellt kurz über ihre lächelnden Lippen.

      Sie haben mich vorhin im Auto nicht erkannt, als ich Ihnen zugewinkt habe, oder?

      Karl blickt über den Zeitungsrand.

      Wahrscheinlich bist du so schnell gefahren, dass man dich gar nicht sehen konnte.

      Seine Augen blitzen heiter in Tanners Richtung und verschwinden wieder hinter die fett gedruckte Überschrift des Leitartikels.

      BSE und MKS – APOCALYPSE COW?

      Seine Augenbotschaft soll wohl heißen, jetzt geht's los. Achtung. Und tatsächlich dreht sich Ruth erst zu ihm, holt tief Luft und sagt dann doch nichts. Dann lächelt sie Tanner an.

      Sie essen kein Fleisch, Simon.

      Feststellung oder Frage?

      Unser gemeinsamer Freund hat es uns verraten. Für uns ist das kein Problem. Wir essen sowieso viel Gemüse. Wenn es Sie nicht stört, dass wir Fleisch essen, gibt es also kein Problem. Heute allerdings habe ich, quasi zu Ihrer Begrüßung, nur Gemüse gekocht. Ich hoffe, es wird Ihnen schmecken.

      Ohne seine Antwort abzuwarten, dreht sie das Radio lauter, denn jetzt kommt der Wetterbericht. Erleichtert setzt er sich an den Tisch. Karl blättert in der Zeitung. Der Wetterbericht ist, landwirtschaftlich gesehen, deprimierend. Regen, Regen und nochmals Regen. Dazu Bise. So nennt man hier den strengen Nordwind, der tagelang durch die Seelandschaft bläst. Und Schnee bis in die Niederungen. Ruth und Karl schweigen.

      Ruth setzt sich ans Kopfende des Tisches, den Kochherd im Rücken. Sie schöpft eine goldgelbe Suppe in die Teller.

      Wir haben letztes Jahr sehr viel Kürbis tiefgefroren. Guten Appetit!

      Tanner denkt an rotblonde Haare! Das Medaillon hat er in seiner Jackentasche.

      Drei Löffel senken sich synchron in das flüssige Gold.

      Wie sich ihre Haare wohl anfühlen?

      Drei Löffel verschwinden in drei Mündern.

      Sanft! Ruth sagt es leise zu ihm.

      Wie bitte? Seine Augen fragen. Vor dieser Frau musst du dich in Acht nehmen, Tanner!

      Ich sagte sanft! Kürbis ist ein sanftes Gemüse. Hat meine Mutter immer gesagt. Finden Sie nicht auch, Simon?

      Wie Recht Sie haben, Frau Ruth Marrer! Sie wissen ja gar nicht, wie Recht Sie haben!

      Laut fragt er, ob ihre Mutter denn noch lebe?

      Ja. Ruth antwortet schlicht.

      Gemeinsam tauchen ihre Löffel in die köstliche Suppe.

      Karl hält seinen Löffel schwebend über dem Teller. Und fällt damit aus dem gemeinsamen Takt.

      Der Thévoz hat angerufen, dass er sich leider erst heute Nachmittag um Ihr Auto kümmern kann.

      Macht nichts!

      Insgeheim ist Tanner natürlich enttäuscht, dass sein Auto immer noch in diesem bedauernswert lächerlichen Zustand verbleiben muss.

      Wieder tauchen die Löffel in die Suppe.

      Diesmal bestreiten Karl und Tanner den Suppen-Pas-de-deux. Ruth steht auf.

      Ich habe ja was vergessen. Es tut mir Leid.

      Sie holt aus dem Kühlschrank ein Töpfchen und löffelt in jeden Teller eine Wolke Crème fraîche. Während sie sich über Tanners Teller beugt, riecht er wieder Vanille und Zitrone.

      Die Suppe ist wirklich perfekt. Als leidenschaftlicher Koch schmeckt Tanner zufrieden die angebratene Buttermehlschwitze, die Schalotten, den geraffelten sauren Apfel und den Honig. Vielleicht hat sie den Balsamico am Schluss vergessen, aber das behält er für sich.

      Die Suppe würde auch Königin Elisabeth von England schmecken! Beide