Urs Schaub

Tanner


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      Ruth Marrer setzt sich nicht an den Tisch, sondern hantiert in seinem Rücken weiter mit ihren Blumen. Tanner weiß nicht, ob er essen soll, solange sie sich nicht auch hinsetzt.

      Greifen Sie kräftig zu!

      Freundlich ermunternd löst Karl das Dilemma und sie essen schweigend.

      Tanner spürt in seinem Rücken eine unbestimmte Unruhe. Plötzlich weiß er, dass ein stummer Dialog über seinen Kopf hinweg stattfindet. Allerdings mehr von Ruth zu Karl. Er ist ja ungedeckt Tanners Beobachtung ausgesetzt. Wahrscheinlich signalisiert sie ihm ihren ersten Eindruck über ihn. Negativ oder positiv?

      Wollen Sie nicht auch essen, Ruth?

      Er will damit den stummen Dialog unterbrechen und testen, wie das klingt, wenn er einfach Ruth sagt. Mit den Vornamen haben sich ja beide vorgestellt, bei gleichzeitigem Sie.

      Ich will nur noch die Blumen schneiden und in die Vase stellen, gibt sie lachend zurück.

      Karl legt seine Gabel auf den leeren Teller und räuspert sich umständlich.

      Es tut mir Leid, äh … Ihnen gleich etwas, äh … sagen zu müssen. Er macht eine verlegene Pause. Tanner schaut ihn fragend an. Er spürt, wie Ruth in seinem Rücken den Atem anhält.

      Ihr roter Ford, also … wie soll ich es sagen, wissen Sie … also kurz gesagt … alle vier Pneus sind heute Nacht zerstochen worden. Es ist eine Sauerei!

      Die Fortsetzung übernimmt Ruth.

      Wissen Sie, so etwas ist hier noch nie passiert. Wir haben schon alle Nachbarn gefragt, ob sie etwas bemerkt haben. Aber niemand weiß etwas. So haben wir heute früh die Autowerkstatt im nächsten Dorf benachrichtigt. Die schicken im Laufe des Morgens einen Mechaniker vorbei, der das in Ordnung bringt. Ich hoffe, es ist Ihnen recht, dass wir so gehandelt haben.

      Ruth blüht richtig auf. Nicht weil sie froh ist, dass die Pneus von seinem Auto zerstochen sind, sondern offensichtlich über die Tatsache, dass die Sauerei ausgesprochen ist.

      Dies war also der Dialog hinter seinem Rücken. Sie wollte unbedingt, dass es sofort zur Sprache kommt, Karl wollte vielleicht warten, bis Tanner gefrühstückt hat.

      Vielleicht hat er von den quietschenden Reifen heute Nacht doch nicht geträumt.

      Hat hier im Dorf jemand einen schwarzen Golf GTI?

      Tanner stellt die Frage so sachlich wie möglich.

      Die beiden gucken ganz verdattert ob seiner konkreten Frage. Ruth überlässt es Karl, die nicht sehr überzeugende Antwort zu geben.

      Nein, äh … nicht dass ich wüsste. Kennst du jemanden, Ruth?

      Bevor sie antworten kann, knurrt der große Hund im Korridor. Draußen fährt ein Wagen vor.

      Das ging aber schnell!

      Tanner versteht nicht. Ruth merkt es.

      Der Automechaniker!

      Sie blickt durch das Fenster über der Spüle. Sie zögert.

      Es sei nicht von der Autowerkstatt. Es sei der Portugies' vom Mondhof. Karl solle rausgehen und fragen, was er wolle.

      Karl erhebt sich, verdreht dabei die Augen und fordert Tanner auf, doch ruhig weiterzuessen, bevor die Kartoffeln kalt werden.

      Tanner überlegt, ob er bei der Gelegenheit auch aufstehen soll, um den Schaden am Auto zu begutachten. Aber erstens weiß er, wie vier zerstochene Reifen aussehen, es ist ihm vor drei Jahren in Marokko passiert, und zweitens kann er auch zuerst fertig essen und sich das Auto nachher in aller Ruhe anschauen.

      Draußen bellt kurz der Hund. Danach ist wieder Ruhe.

      Seltsam, dass weder Karl noch Ruth gefragt haben, warum er sich nach einem schwarzen Golf GTI erkundigt hat?

      Und außerdem wäre es doch nahe liegend gewesen, auch die Polizei zu benachrichtigen, obwohl Tanner keine besondere Lust hat, gleich am ersten Tag mit der hiesigen Polizei in Berührung zu kommen. Na ja! Eins nach dem anderen!

      Wie meinen Sie, fragt Ruth und dreht sich einen Moment vom Fenster weg.

      So ein gutes Frühstück habe ich noch nie gegessen, daran könnte ich mich glatt gewöhnen.

      Bevor Ruth auf sein Kompliment antworten kann, fährt draußen das Auto weg und sie hören, dass Karl zurückkommt.

      Karl setzt sich schwer und schaut Tanner prüfend an.

      Kennen Sie die Finidori vom Mondhof, Simon?

      Ich kenne gar niemanden in dieser Gegend, außer unserem gemeinsamen Bekannten, der mir freundlicherweise das Zimmer vermittelt hat. Und der wohnt ja auch nicht mehr hier, antwortet er wahrheitsgetreu.

      Obwohl? Er weiß, dass er diesem Namen schon mal irgendwo begegnet ist. Der Name ist ziemlich ungewöhnlich, aber Tanner kommt nicht dahinter, wo er ihn gehört hat. Das behält er aber für sich und schaut Karl fragend an.

      Ja also, äh … es ist so, und ich verstehe es auch nicht, also kurz gesagt, die Madame Finidori fragt höflich an, ob Sie heute Nachmittag um fünf Uhr zum Tee zu ihr kommen könnten. Auf den Mondhof. Sie hat den Portugiesen geschickt mit der Einladung.

      Die letzte Bemerkung ist mehr an Ruth adressiert denn an Tanner.

      Die Alte Oder …? Ruth fragt mit auffallender Heftigkeit.

      Karl zuckt mit den Schultern.

      Ja also, äh … das müssen Sie halt selber entscheiden, äh … ob Sie da hingehen wollen, Simon. Sie entschuldigen mich. Die Arbeit ruft. Wegen dem Auto machen Sie sich keine Sorgen, das bringen wir in Ordnung. Der Thévoz ist mir sowieso noch was schuldig vom Holz dieses Winters. Aber es tut uns Leid wegen den Umständen.

      Karl lächelt Tanner entschuldigend zu und geht nach draußen. Ruth lächelt auch.

      Ich muss ins Städtchen einkaufen gehen, wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es bitte, es macht mir keine Umstände. Haben Sie genug gefrühstückt?

      Tanner bedankt sich, ebenfalls lächelnd, und sagt, dass er nichts brauche.

      Mittagessen ist um halb eins!

      Von uns war noch nie jemand auf dem Mondhof eingeladen!

      Bevor er sie fragen kann, wer denn die Finidori sind, verschwindet Ruth durch die Tür, die von der Küche in ein weiteres Zimmer führt, wahrscheinlich in das Wohnzimmer, oder wie es hier heißt, in die Stube. Wo das Telefon klingelt.

      Einige Fragen hätte Tanner schon, vor allem auch wegen des vielsagenden Lächelns bei ihrer letzten Bemerkung.

      Und er hätte Ruth auch noch beibringen müssen, dass er kein Fleisch isst. Und das auf einem Schweizer Bauernhof …

      Er hört Ruth leise telefonieren, versteht aber kein Wort. Er trinkt seinen Kaffee aus und beschließt jetzt, seinen Morgenspaziergang in das Dorf zu machen. Abends der Friedhof, morgens das Dorf.

      Er geht kurz in sein Zimmer, zieht einen Pullover an, denn es ist trotz des Sonnenscheins noch kühl. Er entscheidet sich für seine alte Nikon mit dem guten Objektiv. Er stopft noch ein kleines Wachstuchheft in seine Jackentasche.

      Gerade als er die Treppe wieder runterkommt, schließt Karl die vordere Stalltür.

      Heute Abend kriegen wir Zuwachs!

      Tanner setzt eine verständnislose Miene auf und Karl lacht.

      Meine schöne Laura kalbt heute Nacht. Sie kriegt ein Junges. Ich hoffe, ein Mädchen. Die Muni sind ja doch nur für den Metzger. Verstehen Sie mich, Simon?

      Ja, Simon versteht. Auch Simon mag Mädchen lieber.

      Viel Glück denn! Auf die Mädchen!

      Karl steigt auf seinen Traktor und fährt mit elegantem Schwung davon.

      Beim Stichwort Metzger hätte er doch ganz bequem das Thema Fleischessen anschneiden können. Nichts wäre einfacher