Urs Schaub

Tanner


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der Lieblingsspruch meines verstorbenen Vaters, wenn meine Mutter gut gekocht hat. Kurz nach dem Staatsbesuch von Elisabeth in der Schweiz, das muss in den Fünfzigern gewesen sein, war sie für viele Leute der Inbegriff von hoher Lebenskultur. Fragen Sie mich nicht, warum. Für meinen Vater war es so.

      Den Rest der Suppe löffeln sie schweigend. Jeder in seinem Rhythmus.

      Danach gibt's Kartoffeln, flache Bohnen mit Kichererbsen, einen mit Gruyère überbackenen Blumenkohl, in Olivenöl gebratene Zucchini, in Butter und Ingwer gesottene Karotten. Die gekochten Kartoffeln werden auf dem Tisch von jedem selber geschält, der Länge nach geteilt und je nach Vorliebe legt man Butterstückchen drauf oder Frischkäse oder bestreut sie nur mit Salz und Pfeffer.

      Das Schälen, Bebuttern, Gemüseschöpfen und Würzen nimmt alle ganz gefangen.

      Zwischendurch klingelt das Telefon und Karl verschwindet für einen kurzen Moment in der guten Stube.

      Als Ruth und Tanner alleine sind, sagt sie unvermittelt zwei Dinge.

      Sie waren ja heute Morgen auf dem Friedhof und haben sicher die Gräber gesehen. Anna Lisa war nicht unsere Tochter. Es gibt hier im Dorf zwei Familien, die Marrer heißen, ohne dass wir miteinander verwandt sind.

      Nachher beim Kaffee werde ich Ihnen sagen, wer die Finidori sind. Einverstanden?

      Sonst sagt sie nichts über die toten Kinder.

      Bevor Tanner antworten kann, ist Karl wieder zurück, und er mag diese kleine Heimlichkeit, die ihm Ruth angeboten hat. Also redet er nicht davon.

      Er ist erleichtert, dass sein Gefühl gestimmt hat. Was die tote Anna Lisa betrifft.

      Tanner mag es, schweigend zu essen.

      Als sie fertig sind und er Ruth seinen leeren Teller reicht, sagt sie ihm auf eine Weise danke, dass es klar ist, wofür sie ihm dankt.

      So! Ich muss in die landwirtschaftliche Genossenschaft, Setzkartoffeln holen. Trinkt heute den Kaffee ohne mich. Ich bin mit dem Haymoz verabredet und da muss ich pünktlich sein, sonst macht er mir einen höheren Preis.

      Aha, sie wusste ganz sicher, dass ihr Mann nicht zum Kaffee bleibt, registriert Tanner.

      Karl steht auf, gibt seiner Frau einen Kuss und verlässt die Küche. Man hört, wie er im Korridor seine Schuhe anzieht, irgendetwas zu dem Hund sagt und das Haus verlässt. Weder Ruth, die weiter den Tisch abräumt, noch Tanner, der einfach dasitzt, sagen ein Wort. Eine Fliege landet exakt vor ihm auf dem Tisch. Als draußen der Traktor wegfährt, fliegt auch die Fliege wieder weg. Er schaut ihr nach und begegnet den Augen von Ruth.

      Wissen Sie, Simon, mein Mann regt sich furchtbar über die Finidori auf. Wenn es keinen triftigen Grund gibt, meiden wir das Thema. Warum mein Mann sich so aufregt, erklär ich Ihnen einmal später, wenn es Ihnen recht ist.

      Es ist ihm recht.

      Wer sind denn nun diese Finidori?

      Ruth bringt Kaffee, Zucker und Milch auf den Tisch. Sie antwortet erst, als beide in ihren Tassen rühren.

      Warum Madame Finidori Sie zum Tee einlädt, kann ich nicht wissen. Hier in dieser Gegend spricht sich natürlich alles sehr schnell rum.

      Ruth rührt in ihrem Kaffee.

      Die Familie Finidori ist eines der ältesten und reichsten Geschlechter hier. Vielleicht sogar im ganzen Land. So genau weiß ich das nicht. Sie besitzen seit langer Zeit den Mondhof. Das ist nicht einfach ein Bauernhof, das ist ein Gutsbetrieb mit zweihundert Hektar Land und hundertzwanzig Kühen im Stall. Früher gehörte ihnen auch das ganze Areal mit dem Schloss vorne an der Straße. Sie haben das Schloss sicher gesehen auf dem Weg hierher?

      Tanner nickt, möchte sie aber nicht unterbrechen.

      Die alte Finidori ist eine strenge Dame. Keiner weiß so genau, wie alt sie ist.

      Ihr Sohn leitet den Betrieb. Nicht nur den Gutsbetrieb, sondern ihm gehört auch noch ein Betonwerk und ein Sägewerk im Welschland und er ist an verschiedenen weiteren Betrieben beteiligt. Unsereins weiß da nicht so Bescheid.

      Ich habe den Eindruck, dass du sehr genau Bescheid weißt, Ruth M., denkt Tanner still für sich.

      Auguste Finidori, so heißt der Sohn der Alten. Entschuldigung! Wir nennen sie einfach so. Er ist ein rücksichtsloser und jähzorniger Mann. Aber er ist ein sehr einflussreicher Mann, auch in der Politik. Er war bis vor kurzem Nationalrat.

      Vielleicht kommt Tanner deswegen der Name so bekannt vor. Aber seine Jahre in Marokko haben sein Interesse für die inländische Politikszene nicht gefördert.

      Der Sohn von Auguste heißt Armand. Er kümmerte sich bis vor kurzem um die Auslandsgeschäfte. Seit einiger Zeit ist er krank und lebt zu Hause auf dem Hof. Er hat irgendeine seltene Hautkrankheit oder Sonnenallergie. Man sieht ihn praktisch nie. Auguste führt mit einem guten Dutzend Angestellten den Hof und kümmert sich um all die anderen Geschäfte. Die Frau von Auguste, also die Mutter von Armand, ist an einem Schlaganfall gestorben, schon damals in Afrika.

      Wie? In Afrika …?

      Bei der Erwähnung von Afrika klingt tief in seinem Inneren eine Saite an, deren Ton ein ganz unbehagliches Gefühl auslöst, das er im Moment aber nicht einordnen kann.

      Also!

      Ruth holt tief Luft und rückt näher an den Tisch, das heißt auch näher zu Tanner. Was für ein Parfum …

      Es tut mir Leid, Simon, aber jetzt wird's kompliziert und ich hoffe, ich kann es Ihnen richtig darlegen.

      Sie rührt unschlüssig in ihrem Kaffee. Überlegt sie sich, was sie ihm sagen soll und was nicht?

      Auguste und Charlotte, so hieß seine Frau, waren zusammen in Afrika. Was sie dort gemacht haben, weiß ich nicht. Aber es gibt halt Gerüchte. Dass er dort sehr viel Geld gemacht hat und nicht immer auf ganz christliche Art. Mehr weiß ich nicht.

      Oder willst du es mir nicht sagen? Tanner ist versucht zu fragen, verbietet sich aber diese Bemerkung.

      Der Sohn von ihnen, eben der Armand, ist dort auf die Welt gekommen. In der Zeit, als Auguste in Afrika war, hat sein Bruder Raoul den Betrieb hier geführt. Zusammen mit der Alten, die zwar damals schon Witwe war, aber natürlich noch um einiges jünger. Den Raoul haben wir gut gekannt, das heißt, vor allem mein Mann war richtig befreundet mit ihm.

      Ruth schweigt. Tanner wartet.

      Raoul war ein liebenswürdiger Mensch, mit vielen Interessen und viel zu zart für so einen großen Betrieb. Seine Frau war ein Engel.

      Pause. Die Fliege dreht wieder eine Runde.

      Nachdem Auguste aus Afrika zurückgekehrt war, führte er den Betrieb zusammen mit Raoul. Das konnte natürlich nicht gut gehen, denn sie waren einfach zu verschiedene Temperamente. Zwei Jahre nach der Rückkehr starb auch die Frau von Raoul.

      Sie schweigt und rührt wieder in ihrer Tasse.

      Sie hat noch keinen Schluck Kaffee getrunken. Dafür ist das jetzt sicher der bestgerührte Kaffee aller Zeiten.

      Woran starb denn Raoul und wann, fragt er vorsichtig, denn Ruth spricht sehr zärtlich von Raoul.

      Wieso gestorben? Die Frage erschreckt sie.

      Tanner macht sie auf die Verwendung der Vergangenheitsform aufmerksam und sie lacht ein nicht ganz überzeugendes Lachen. Nein, nein! Raoul ist nicht gestorben. Er hat es hier einfach nicht mehr ausgehalten und ist nach Australien gegangen, oder besser gesagt, er ist geflüchtet.

      Wieder Pause.

      Seine Tochter hat er allerdings hier zurückgelassen!

      Er hat eine Tochter?

      Ja, er hat eine Tochter, und als er wegging, haben wir uns, so gut es ging, um sie gekümmert.

      Ruth steht schnell auf, nimmt die Zuckerdose vom Tisch und geht zum Schrank. Hinter seinem Rücken, an der Spüle stehend, füllt sie offenbar die Zuckerdose auf. Als er vorhin drei Löffel