Urs Schaub

Tanner


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dabei immer mehr in den grünen Schlingpflanzen. Er hört seine Stimme gar nicht, obwohl er doch laut schreit. Plötzlich sieht er einen Schatten auf sich zuschweben. Hilfe, ein Haifisch! Es ist aber bloß ein schwarzes, rundes Ding, das, von der Strömung getrieben, an ihm vorüberschwebt. Wie eine rabenschwarze Qualle.

      Das ist dein Reiterhelm! Der geht ja kaputt im Wasser!

      Das lose Kinnleder schlängelt sich wie ein Aal dem Helm hinterher. Der Helm verschwindet aus seinem Gesichtsfeld, und er schwimmt panisch hinterher.

      Jetzt überholt ihn von schräg hinten ein schmaler, länglicher Fisch. Wie elegant!

      Nein! Es ist eine Reitpeitsche aus geflochtenem Leder. Sie zieht wie ein Pfeil in Zeitlupe seine Bahn. An ihm vorbei in die Tiefe der Dunkelheit.

      Ich kann ja das Wasser atmen. Hallo! Schaut mal her! Ich kann das Wasser atmen! Wie ein Fisch!

      Obwohl er schwimmt, wird es immer dunkler, und er fällt in die Tiefe. Unter seinen Füßen öffnet sich eine Falltür. Grelles Licht blendet ihn unvermittelt.

      Vor Schreck wacht Tanner auf. Durch das Fenster sticht ein flacher Sonnenstrahl und bildet über seinem Bett in leicht verschobener Form ein buntes Fenster ab. In zartrosa Farben. Rosenfing-rig. So wird dieses Licht in dem Buch genannt, das auf seinem Tisch liegt.

      Er schüttelt ungläubig seinen Kopf. Er weiß nicht, wo er ist. Schweißgebadet, das Bett zerwühlt. Auf dem Tisch steht eine kleine Kuh, die ihn neugierig anschaut.

      Ach so! Ich bin in meinem neuen Zimmer!

      Er wundert sich, dass die Katze nicht mehr im Zimmer ist. Das Fenster ist geschlossen und beide Türen auch. Wahrscheinlich hat sich die Katze beim ersten Sonnenstrahl in ein jungfräuliches Mädchen verwandelt und ist einfach aus dem Zimmer geschlichen. Leise, um den fremden Mann nicht zu wecken.

      So, Tanner, nun komm mal in die Wirklichkeit zurück, das ist ja lächerlich.

      Er steht auf und öffnet das Fenster. Eine frische Morgenbrise bläst ihm ins verschlafene Gesicht und die Sonne blendet seine Augen. Er schließt sie.

      Wen habe ich denn da gerufen in meiner Not?

      Und wie wenn man in einem Bilderbuch blättert, kommen ihm einzelne Stationen seines Traumes in den Sinn. Er befand sich, ohne sich einer Vorgeschichte entsinnen zu können, auf einem Schlitten. Hinter ihm saß eine ihm unbekannte Frau und umschlang zärtlich, aber kraftvoll seinen Oberkörper. In ihrer Hand hielt sie eine Reitpeitsche. Auf welchem Belag sie Schlitten fuhren, wusste er nicht. Es war auf jeden Fall kein Schnee. Eher Eis. Aber entweder berührten die Kufen des Schlittens das Eis nicht, oder das Eis sah nur aus wie Eis und war in Wahrheit etwas ganz Weiches und Sanftes. Sie froren nicht und die Fahrt wurde immer schneller und schneller. Die Frau hinter ihm rief immer wieder denselben Satz. Wie ein Refrain.

      Higher, higher to the sky!

      Als Kind bekam Tanner beim Überschreiten einer gewissen Geschwindigkeit immer Angst. In seinem Traum hatte er keine Angst. Er fühlte sich glücklich und behütet. Es war ein Glücksgefühl, so stark, wie er es im wirklichen Leben nur ausnahmsweise erlebt hatte, und wenn, nur in homöopathisch verdünnter Dosis. Unvermittelt landeten sie im Wasser und die ihn so wohlig beschützenden Arme lösten sich. Dann kam die Panik.

      Jetzt kommt ihm in den Sinn, dass er, kurz vor dem Traum, oder war es während des Traumes, einen aufheulenden Motor gehört hat. Und quietschende Reifen beim Bremsen oder bei einem rasanten Start. Kavalierstart nannte man das früher. Tanner hält sein Gesicht unter das kalte Wasser und beschließt, sich vorläufig nicht mehr zu rasieren. Auf dem Display seines Telefons sieht er, dass es eben acht Uhr ist. Eine Uhr trägt er schon lange nicht mehr. Obwohl er zwei besitzt. Er kleidet sich an und ist bereit, sich seinen Vermietern zu stellen. Sie hören sicher seine Schritte. Spätestens wenn er die Außentreppe hinuntersteigt.

      Er öffnet die Haustür und blickt in einen dunklen, engen Korridor. Ein wenig Licht fällt durch eine Glastür, die sich ganz am Ende des Ganges, an der linken Längsseite, befindet. Vorne links ein Holzgestell mit Schuhen und Stiefeln, dann eine Waschmaschine, darüber eine Garderobe, die hoffnungslos überfüllt ist. Mit Mänteln, Jacken und Arbeitskleidung. Weiße Wandschränke schließen sich an, die den schmalen Gang noch enger werden lassen. Am Boden liegt ein großer, wolfsähnlicher Hund mit braunschmutzigem Fell und einem fast schwarzen Kopf. Beim Öffnen der Tür hebt er seinen Kopf und schaut Tanner ruhig an. Unbeweglich.

      Guten Tag! Wir haben uns ja gestern schon durch die Scheibe der Haustür in die Augen gesehen.

      Tanner spricht sehr leise.

      Als ob er zufällig das richtige Passwort gefunden hätte, schnüffelt der Hund einen geradezu andächtigen Moment lang in seine Richtung und legt dann die große Schnauze wieder auf seine mächtigen Pfoten.

      Er schließt daraus, dass er eintreten darf.

      Du bist aber ein schöner Hund! Schöner Hund.

      Aus der ersten Tür rechts hört er jetzt Küchengeräusche und die Stimme eines Nachrichtensprechers. Auch riecht er den unwiderstehlichen Duft von Gebratenem. Sofort meldet sich bei ihm ein bohrendes Hungergefühl. Er hat ja gestern nur noch ein Käsebrot gegessen. Tanner klopft. Die Geräusche brechen abrupt ab und einen Moment später verstummt auch der Nachrichtensprecher mitten in seinem Satz. Er öffnet entschlossen die Tür.

      Das Erste, was er sieht, ist der Kochherd. Genauer gesagt, er blickt in eine Eisenbratpfanne, in der eine goldbraune Röschti brutzelt. An einem großen Esstisch, der links vor dem Fenster zum Gemüsegarten steht, sitzt ein Mann mit krausem, dunkelblondem Haar. Gerade wollte er eine Gabel voll Röschti in den Mund schieben. Eine Bewegung, die er aber wegen Tanners Eintreten eingefroren hat. Rechts am Spültrog, über dem sich ein zweites Fenster auf die Straße hinaus befindet, steht Ruth M. Dunkelblond und kräftig. Sie hält einen Strauß Osterglocken in ihrer Hand.

      Guten Tag, ich bin Simon Tanner. Ihr neuer Zimmerherr.

      Eigentlich wollte er nur seinen Namen sagen. Zimmerherr? Wie ein Findling steht das Wort in der Küche.

      Da beide weiterhin bewegungslos verharren, ihn dabei aber freundlich anschauen, spricht er weiter.

      Ich hoffe, dass es in Ordnung ist, dass ich in Ihrer Abwesenheit das Zimmer bezogen habe. Es gefällt mir sehr gut. Und vielen Dank für die Blumen.

      Der Mann bewegt sich jetzt als Erster, legt seine Ladung Röschti ungegessen zurück auf den Teller, erhebt sich und streckt ihm seine Hand entgegen.

      Guten Tag. Herzlich willkommen. Ich bin der Karl.

      Tanner drückt seine Hand und erschrickt nicht über den kräftigen Händedruck. Den hat er angesichts der Statur erwartet. Tanner erschrickt über die Rauheit seiner Hand. Wie die Rinde einer Eiche.

      Ohne sich gegen diesen Gedanken zur Wehr setzen zu können, fragt er sich, wie diese Hand sich wohl anfühlt für seine Frau, wenn er sie berührt beim Sex?

      Um ihm nicht mehr in seine klaren Augen schauen zu müssen, wendet er sich der Frau zu, die sich ihrerseits abwendet, um die Blumen abzulegen und ihre nassen Hände abzutrocknen. Dann gibt sie ihm ihre Hand, die angenehm weich und vom kalten Wasser schön kühl ist.

      Machen Sie sich darüber keine Gedanken, bitte!

      Sie sagt es mit dunkler Stimme.

      Wie bitte? Siedend heiß wird es Tanner. Kann sie Gedanken lesen?

      Ja, ich meine, darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Wegen dem Zimmer. Ich habe Ihnen ja geschrieben, Sie sollen sich wie zu Hause fühlen. Sie lacht.

      Herzlich willkommen. Ich heiße Ruth. Mögen Sie Kartoffeln zum Frühstück? Nehmen Sie bitte hier Platz, wenn es Ihnen recht ist. Wollen Sie Tee oder Kaffee zum Frühstück? Wir essen immer um acht Uhr. Aber Sie können auch später essen, wenn es Ihnen lieber ist. Hatten Sie gestern eine gute Fahrt? Es ist übrigens erstaunlich, dass der Hund nicht gebellt hat, als Sie eben hereingekommen sind. Sie lacht immer noch.

      Tanner beantwortet die Fragen ungefähr in der gestellten Reihenfolge