Peter Payer

Auf nach Wien


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      Der Stadthistoriker Peter Payer ist die perfekte Personalunion aus wissenschaftlichem Maulwurf und literarischer Gazelle. Damit spricht Auf nach Wien, eine vielseitige Zeitmaschine ins Gestern und Heute dieser Stadt, eine Einladung aus, der man sich unmöglich entziehen kann.

      WOJCIECH CZAJA

       Architektur- und Stadtjournalist

      EINLEITUNG

      »Nur auf den Wegen, die du täglich gehst,

      begreifst du, wo du wirklich bist.«

      (MONIKA HELD)

      Sich mit wachen Sinnen durch eine Stadt zu bewegen und die Eindrücke sodann in schriftlicher Form festzuhalten, kann als ganz spezielle Form der Welt- und Selbstdeutung gesehen werden. In einem gewissen Sinn verbindet sich hierbei immer die Suche nach der Persönlichkeit der Stadt mit der Suche nach der eigenen Persönlichkeit. Es ist ein interaktives Lernen, Erfahren und Begegnen. Und trotz des genuin Fragmentarischen ist es stets aufs Neue spannend und ertragreich.

      So ist auch der mittlerweile vierte Band meiner urbanistischen Erkundungen von Wien zu verstehen, der Feuilletons versammelt, die in den vergangenen fünf Jahren erschienen sind – einer Zeit, die an Umbrüchen und Turbulenzen wahrlich einiges zu bieten hatte. Inhaltlich geht es zunächst erneut um bislang wenig beachtete Facetten der Stadt. Oder, wie Joseph Roth formulierte, darum, in sachtem Ton »unerhörte Geschichten« zu erzählen: von Trinkbrunnen, Leuchttürmen, Telefonzellen und Pollern über Wiens erste Elektrobusse bis hin zu Garagen, Warenhäusern und Kinos. Auf vielfältige Weise bilden sich in diesen baulichen und technischen Einzelphänomenen die Megatrends unserer Zeit ab, allen voran die Digitalisierung und der Klimawandel. Beide haben Wien massiv zu prägen begonnen, sie durchdringen den urbanen Alltag auf immer nachhaltigere Weise. Besonders offenkundig wird dies in Fragen der Mobilität, denen im Buch gleich mehrere Beiträge gewidmet sind. Eingebettet in die Grunderfahrung, dass sich – wie ich selbst bemerke – die Beschleunigung und Komplexität des Großstadtverkehrs in den letzten Jahren deutlich erhöht hat, gehört dieser wohl zu den wichtigsten Faktoren der künftigen Stadtentwicklung.

      Die anhaltende Verdichtung Wiens hat nicht zu übersehende ökologische und soziale Folgen, gleichzeitig wird der öffentliche Raum zunehmend technisiert. Wahrnehmungs- und Nutzungsformen ändern sich grundlegend, wie sich an teils heftigen Diskussionen über E-Scooter, die Praterstraße oder den Donaukanal zeigt. Die Genese von Nachhaltigkeitsdebatten wiederum spiegelt sich in der historischen Betrachtung des legendären Rinterzelts wider sowie in alten und neuen Visionen zum »Vertical Farming«.

      Neben diesen thematischen Schwerpunkten soll auch an vergessene Persönlichkeiten aus dem Bereich der Journalistik erinnert werden, an Menschen, die uns bis heute faszinierende Einblicke in den städtischen Alltag ihrer Zeit ermöglichen. Zu den zeitlebens bekanntesten gehörte Ludwig Hirschfeld, Feuilletonist der »Neuen Freien Presse« und einer der klügsten und zugleich amüsantesten Vertreter seiner Zunft. Nicht minder bedeutend waren auch jene immer zahlreicher werdenden Frauen, die das Feuilleton für sich eroberten. Von der Pionierin Betty Paoli über Alice Schalek bis zu Ann Tizia Leitich und Hermine Cloeter. Allesamt Journalistinnen, die uns Hinweise auf die weibliche Sicht und Analyse des Wiener Stadtgeschehens geben.

      Dass sich gerade das aktuelle Geschehen immer tiefer in die Stadtgeschichte einschreibt, verdeutlichen schließlich zwei Reportagen aus dem Jahr 2020, die den dramatischen Terroranschlag im jüdischen Viertel der Innenstadt sowie den Ausbruch und Verlauf der Corona-Pandemie behandeln. Beide Ereignisse gehören zweifellos zu den einprägsamsten der jüngeren Zeit. Ihre wirklichen Folgen, innerlich wie äußerlich, werden wir wahrscheinlich erst dann in ihrem vollen Umfang begreifen, wenn sich die Stadt wieder auf stabilem Terrain befindet und sämtliche isolierenden Beschränkungen wegfallen.

      Der Titel des Buches, »Auf nach Wien«, ist auch paradigmatisch als Post-Corona-Parole zu verstehen, als Signal für den auch von mir ersehnten Aufbruch, als Freude auf das Wiedersehen mit einer »freien Stadt«, in der man ungestört seiner Neugier frönen und Menschen und Orten begegnen kann.

      Die vorliegenden nicht ganz dreißig Essays erschienen von 2017 bis 2021 in den Feuilletonbeilagen der Wiener Tageszeitungen »Die Presse« und »Wiener Zeitung«, vereinzelt auch in der »Zeit« und in diversen Fachpublikationen. Sämtliche Beiträge wurden überarbeitet und aktualisiert.

      Für die bewährte und neuen Themen stets aufgeschlossene Zusammenarbeit bedanke ich mich herzlich bei den Zeitungsredakteuren Wolfgang Freitag und Gerald Schmickl; ebenso beim Team des Czernin Verlags, namentlich Hannah Wustinger, Mirjam Riepl und Benedikt Föger, deren Engagement auch diesmal einen wohltuend-professionellen Rückhalt bildete. Freundschaftlicher Dank gilt zudem Wojciech Czaja, Urbanist und Architekturpublizist, der sich trotz vollen Terminkalenders zur Abfassung des Vorworts bereit erklärte. Vielleicht verbindet uns alle eine Einsicht und Haltung gegenüber Wien, die der Feuilletonist Raoul Auernheimer einmal so formulierte: »Es gibt wenige Städte, die mehr Glück erzeugen als sie verbrauchen – und Wien gehört zu diesen ganz wenigen.«

      PETER PAYER

       Wien und Küb, Sommer 2021

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      Vor der Hofoper, Foto: Emanuel Wähner, um 1881

      TYPISCH WIENERISCH

      Die wiederkehrende Diskussion über die Verbannung der Fiaker aus der Wiener Innenstadt verdeutlicht: Was als typisch wienerisch empfunden wird, scheint nahezu unveränderbar – um nicht zu sagen: heilig. Tief verankert im kollektiven Gedächtnis der Stadt ist daran so gut wie nicht zu rütteln. Doch allzu gerne vergessen wir, dass auch die traditionsreichsten Wienbilder historisch gewachsen sind und eine Entwicklungsgeschichte haben, die sie – mit Bedeutung hoch aufgeladen – erst zu dem machte, was sie heute für uns sind. Ob der Steffl, das Riesenrad oder eben die Fiaker, sie alle fungierten über die Zeit hinweg als wichtige soziokulturelle Projektionsflächen und trugen so das Ihre zur sich akkumulierenden Identität der Stadt bei.

      Ihre kritische Hinterfragung, bisweilen auch Erweiterung, ist aus historischer Sicht ebenso erkenntnisreich wie gesellschaftlich notwendig. Hat man, wie ich, regelmäßig mit Texten und Quellen über Wien um 1900 zu tun, stößt man mitunter auf recht kuriose Nachrichten aus der Vergangenheit, die einem das Wesen der Zeit und der Stadt geradezu auf den Punkt zu bringen scheinen. Nicht nur, dass die reichhaltige Publizistik jener Jahre eine Fülle an stilistisch fein geschliffenen Miniaturen hervorbrachte, auch so manche materiellen Zeugnisse vermitteln bis heute ein aufschlussreiches Bild des Alltags jener Jahre. Es folgen drei quintessenzielle Fundstücke, die das zum Klischee geronnene Image der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien auf ihre Weise widerspiegeln.

      »Ameisen im Apfelstrudel«

      Unter diesem Titel berichtete die konservative »Reichspost« am 21. November 1913 über einen aufsehenerregenden Zwischenfall, der auf gerichtlicher Ebene gar bis zur Staatsanwaltschaft ging. Was war geschehen?

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      Konditorei Lehmann, 1. Bezirk, Singerstraße 3, 1906

      Ein Kunde eines Zuckerbäckermeisters in Wien-Fünfhaus hatte in einem Apfelstrudel Ameisen entdeckt. Friedrich Spangenmacher, so der Name des Betriebsinhabers, wurde unverzüglich wegen Übertretung des Lebensmittelgesetzes angezeigt und vor das örtliche Bezirksgericht zitiert. Die Zeitung berichtete über die Details: »In der Verhandlung hatte der Angeklagte angegeben, daß er alles aufbiete, um seinen Betrieb rein zu halten. Die einvernommenen Angestellten erklärten als Zeugen, daß der Meister mit unnachsichtlicher Strenge auf die von ihm angeordnete Reinlichkeit des Betriebes gesehen habe. Ferner wurde nachgewiesen, daß unmittelbar vor dem verhängnisvollen Verkaufe jenes Apfelstrudels die alljährlich zweimal erfolgte Revision durch einen Ungeziefervertilger gerade stattgefunden hatte.