Lena Schönwälder

Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq


Скачать книгу

Anzahl an Publikationen zu dem hier untersuchten Text, Le Jardin des supplices, jedoch überschau­bar.41 Erwähnung findet der Text in Alts Ästhetik des Bösen und auch in Achim Geisen­hans­lükes Monographie Die Sprache der Infamie.42 Im Rahmen dieser Arbeit soll die Diskussion um den Roman aktualisiert werden, der in vielerlei Hinsicht paradigmatisch für das ästhetische Programm der Dekadenzliteratur ist. Doch in seinem Bestreben, dem Menschen ein schockierendes Abbild seiner Natur und Welt aufzuzeigen, weist er bereits auf zukünftige Literaturen, vor allen Dingen auch die Romane Houellebecqs, voraus.

      Wie auch bei Flaubert handelt es sich bei Pasolini um einen Autor und Regisseur, zu dessen Werken (sowohl filmisch als auch literarisch) bereits gearbeitet wurde. Auch sein letzter Film Salò o le 120 giornate di Sodoma fand und findet in der Wissenschaft nach wie vor Beachtung.43 Umfassend setzt sich besonders Klaus Theweleit mit dem Aspekt des Faschismus in Pasolinis Film auseinander.44 Im Rahmen dieser Arbeit soll vor allen Dingen die filmische Umsetzung der Schockästhetik Sades in Salò Beachtung finden,45 wobei gleichwohl ihre unterschiedlichen Funktionen sowie die Umdeutungs­prozesse, die Pasolini vornimmt, herausgearbeitet werden sollen. Verfahren der Zuschauer- bzw. Leser­akt­i­vierung46 und die Frage nach den Möglichkeiten einer ethischen Erfahrung durch visuelle Grenzerfahrungen (oder diesen zum Trotz) stehen dabei im Mittelpunkt. Diese Arbeit sucht damit insofern einen neuen Blickwinkel auf Pasolinis Salò zu bieten, als dieser in Bezug zu Texten des 19., 20. und 21. Jahrhunderts gesetzt wird, um Parallelen aufzuzeigen, die so noch nicht erarbeitet wurden.

      Die literarische Bewegung der giovani cannibali kann in gewisser Weise als repräsentativ für einen Trend der Kunst der 90er Jahre gelten. So erschienen in den Folgejahren nach der Veröffentlichung des Sammelbands Gioventù cannibale mehrere Studien, die diesem literarischen Zeitgeist-Phänomen Rechnung zu tragen suchten.47 Zu Aldo Noves und Ammanitis Erzählsammlungen liegen bisher vornehmlich kleinere Beiträge vor, die vor allen Dingen den Aspekt der im Text abgebildeten Konsumgesellschaft besprechen.48 Im Kontext dieser Arbeit sollen jedoch bereits vorgenommene Interpretationen durch Überle­gungen zu der Bedeutung des Textes im europäischen Vergleich ergänzt werden. Beson­ders die Gegenüberstellung mit den Romanen Houellebecqs wird sich dabei als auf­schluss­reich erweisen.

      In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei letzterem um einen äußerst medien­präsenten Autor handelt, überrascht es wenig, dass besonders in den letzten Jahren eine Reihe an Publikationen zu seinen Werken erschienen ist. Dass sich in seinem Falle gar von einem »Phänomen« sprechen lässt, bestätigen diverse Titel, die es sich zum Ziel setzen, eben diesem analytisch auf den Grund zu gehen, darunter z.B. der von Thomas Steinfeld herausgegebene Sammelband Das Phänomen Houellebecq (2001), die 2005 erschienene Monographie Houellebecq non autorisé: enquête sur un phénomène von Denis Demonpion, ferner Dominique Noguez’ Titel Houellebecq, en fait (2003) oder auch der von Murielle Lucie Clement und Sabine van Wesemael herausgegebene Band Michel Houellebecq sous la loupe (2007) sowie der vornehmlich an literaturpraktischen und ästhetischen Aspekten interessierte Sammelband von Sabine van Wesemael und Bruno Viard (Hg.), L’unité de l’œuvre de Michel Houellebecq. Paris 2013. Houellebecq, der zunächst als enfant terrible den Literaturmarkt aufmischte, wurde damit auch zunehmend Gegenstand des wissen­schaftlichen Interesses. Dass sich sein Œuvre nicht allein in einer aggressiven Provoka­tionsgeste und der Vulgarität des Obszönen erschöpft, sondern darüber hinaus über einen gewissen Ideenreichtum philosophischer Natur verfügt, legen Publikationen wie Dietmar Horsts Houellebecq der Philosoph: ein Essay (2006) und Julia Prölls Monographie Das Menschenbild im Werk Michel Houellebecqs: die Möglichkeit existenzorientierten Schrei­bens nach Sartre und Camus49dar. Letztere stellt – wie der Titel impliziert – eine Verbin­dung zum Existentialismus Sartres und Camus’ her, die Aufschluss über das Gesell­schafts­bild gibt, welches Houellebecq in seinen bis einschließlich 2005 veröffent­lichten Romanen transportiert. Wie eben jenes Gegenwarts­porträt sich im Vergleich zu anderen Werken der internationalen Gegenwartsliteratur verhält, untersucht Constanze Alt.50 Größer angelegte Untersuchungen, die sich mit dem von Houellebecq gezeichneten Welt- und Gesellschafts­bild (vornehmlich auch im Roman Les Particules élémentaires) ausei­nander setzen, liegen damit bereits vor – und im Fall Julia Prölls auch in national literatur­histo­rischer Perspek­tive. Damit wird auch ein Diskurs über intertextuelle bzw. diachrone Beziehungen des Houellebecq’schen Œuvres eröffnet, der es erlaubt, nicht nur einen thematischen, sondern auch stilistischen Zusammenhang zwischen den Werken Houelle­becqs und Schriftstellern wie Lautréamont oder H.P. Lovecraft (vgl. Murielle Lucie Clément, Michel Houellebecq révisité. L’écriture houellebecquienne) oder Émile Zola und der realistischen bzw. naturalistischen Schule (Rita Schober, Auf dem Prüfstand. Zola – Houellebecq – Klemperer. Berlin 2003) herzustellen. Auch Jochen Mecke stellt in seinem Aufsatz »Der Fall Houellebecq: Zu Formen und Funktionen eines Literatur­skandals« eine Beziehung zwischen den Erzählstrategien Houellebecqs und denen Flauberts bzw. Balzacs her.51 Seine Überlegungen zum »Stil der Indifferenz« sollen auch im Rahmen dieser Arbeit aufgegriffen und weiter vertieft werden.

      Ein Novum ist es jedoch, konkret nach der Natur des Houellebecq’schen literarischen Bösen bzw. nach den Funktionen und Formen von Schockstrategien zu fragen und dies unter Berücksichtigung von Verfasstheit und Wirkung sowie von ethischen Implikationen. Neu ist dabei auch, sein Œuvre mit einer literarischen Tradition in Verbin­dung zu bringen, die Bohrer einst die »Schule des Bösen« taufte bzw. durch einen kompa­ra­tistischen Vergleich auf synchroner Ebene zur italienischen und amerikanischen Literatur und Filmkunst in Beziehung zu setzen. In Bezug auf die Möglichkeit einer literarischen Ethik im Werk Houellebecqs (u.a.) hat Susanna Frings52 jüngst ein Werk veröffentlicht, dem weniger die Annahme eines absoluten Pessimismus zugrunde liegt, als vielmehr die Diagnose eines »retour au roman« und gleichbedeutend damit der Möglich­keit einer kritischen Weltbe­sprechung im Raum der Literatur, die dem Leser das Angebot der ethi­schen Erfahrung macht. Ihr Ansatz einer literarischen Ethik, der nach den Bedeu­tungs­potentialen für den Leser fragt, kann damit auch im Rahmen dieser Arbeit nutzbar gemacht werden.

      Während also für Houellebecqs Romane Extension du domaine de la lutte, Les Parti­cules élémentaires, Plateforme und La Possibilité d’une île durchaus bereits (größere) Publikationen vorliegen, ist der preisgekrönte Roman La Carte et le Territoire (natürlich auch aufgrund seiner relativen Neuheit) bisher nur in kleineren Beiträgen53 zur Sprache gekommen, darunter u.a. »Von Körper-Bildern und Zerstückelungen: Zu thematisch-poetologischen Text-Bild-Beziehungen in Michel Houellebecqs La carte et le territoire und zur Autofiktion als Aktionskunst« von Betül Dilmac54 sowie Christine Ott: »Literatur und die Sehnsucht nach Realität. Autofiktion und Medienreflexion bei Michel Houellebecq, Walter Siti und Giulio Minghini«.55 Die vorliegende Arbeit kann damit auch neueren Entwicklungen innerhalb des Houellebecq’schen Œuvres Rech­nung tragen. Es wird damit insofern eine Lücke geschlossen, als Verfahren der literarischen Provokation in Hinblick auf Funktion und Wirkungsweise sowohl in synchroner als auch diachroner Perspektive aufgedeckt werden. Damit kann schließlich ebenfalls eine Aussage über den Status der Gegenwartsliteratur bzw. über einen wichtigen Trend eben dieser getroffen werden.

      1 Theoretische Vorüberlegungen

      1.1 Böses schreiben – böses Schreiben: Überlegungen zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik

      1.1.1 Karl Heinz Bohrer und das Böse als ästhetische Kategorie

      Die Literatur des 18. und insbesondere 19. Jahrhunderts scheint den sich vollziehenden Umwertungsprozess der Kategorie des Bösen zu belegen: Die Tatsache, dass sich Gattungen wie die des Schauerromans besonderer Beliebtheit erfreuen, bescheinigt den Reiz am Abseitigen. Darüber hinaus erfährt das Böse in den Werken einflussreicher und viel disku­tierter Autoren wie de Sade, Choderlos de Laclos, Lautréamont, Baudelaire, Flaubert oder Huysmans unbestreitbar eine fundamentale Radikalisierung – und Positi­vierung. Der Titel von Baudelaires skandal­trächtigem Gedichtband Les Fleurs du mal vermag bereits exem­plarisch die zunehmende Annäherung der Kategorie des Schönen und der des Bösen zu veran­schaulichen. Hinzu kommt, dass – wie Peter-André Alt vermerkt – ein »Wechsel im Register