Lena Schönwälder

Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq


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unterläuft und dekonstruiert. Auf ähnliche Weise versucht auch Alt, das Böse als spezifisch literarisches Phänomen zu beschreiben, welches im Wesentlichen auf drei Grundmodelle zurück­zuführen ist: Das literarische Böse manifestiert sich ihm zufolge in den Strukturmustern der Wiederholung, der Paradoxie und der Transgression. Das Böse in seiner Evidenz ist das Resultat einer Imaginationsleistung, bei der ein moralisch-ethisch vorgeschriebener Bedeu­tungs­kern erst durch kreative Form­gebung zur Entfaltung kommt. Wie aus den Analysen sowohl Alts als auch Friedrichs deutlich wird, kann jedoch mitnichten von einem rein ästhetischen Bösen im Sinne einer autonomen Kategorie gesprochen werden. Vielmehr bezeichnet »ästhetisch« in diesem Zusammenhang den Status des relevanten Repräsen­tationsgegenstands (Ästhetik des Bösen als Ästhetisierung des Bösen) sowie die Tatsache, dass es sich um ein ›Kunstprodukt‹ handelt, das nicht allein von außer­literarischen mora­lisch-ethischen Wertvorstellungen abhängig ist und ausschließlich daraus seine Wirkmacht bezieht, sondern durch kreativ-imaginative Formgebung in der Literatur erst seinen besonderen Reiz entwickelt. Dieses Konzept des »ästhetischen Bösen« vor dem Hinter­grund literarisch-künstlerischer Provoka­tions- und Schockstrategien erweist sich als besonders relevant für jene Literatur, die noch ihren Autonomiestatus zu beweisen hat. Besonders für Flaubert und Mirbeau, die noch gegen den an die Kunst herangetragenen Anspruch der moralischen Unterweisung anschrieben, zeigt sich eine Untersuchung spezifischer Strukturen, die den potentiell brisanten Darstellungsgegenstand in seiner ästhetischen Wirkmacht freisetzen, als besonders fruchtbar.

      1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik

      1.2.1 Das Böse und (ästhetische) Empfindungen

      L’art de la Poësie & l’art de la Peinture ne sont jamais plus applaudis que lorsqu’ils ont réüssi à nous affliger.1

      Jean-Baptiste Du Bos, Réflexions critiques sur la poësie et sur la peinture

      Nur wenn ein Kunstwerk in der Lage ist, uns zu betrüben, handelt es sich um ein wirklich gelungenes Kunstwerk, heißt es in den Réflexions critiques (1719) von Jean-Baptiste Du Bos. Damit wird die wirkungsästhetische Dimension des Kunstwirkens betont, die bereits in der aristotelischen Poetik fest verankert ist: die Ebene der Affekte bzw. der ästhetischen Empfindungen oder auch der Emotionen. Schon die antike Tragödie suchte, durch das Hervorrufen von phobos und eleos die Katharsis zu effektuieren,2 und auch für die Lite­ratur des 18. Jahrhunderts wurde das sentiment essentiell: Man denke dabei nur an Rous­seaus Julie, ou la Nouvelle Héloïse (1761), Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) oder Samuel Richardsons Pamela, or Virtue Rewarded (1740). Gewiss wurde die Beto­nung des Emotionalen – besonders als Wirkziel der Dichtung – im Zuge der Ausbil­dung einer Autonomieästhetik zunehmend in Verruf gebracht, sodass es nunmehr in den Bereich der Trivialliteratur verbannt wurde.3 Wie H.R. Jauß diesbezüglich bemerkt, »wird […] weithin ästhetische Erfahrung erst dann als genuin angesehen, wenn sie allen Genuß hinter sich gelassen und sich auf die Stufe ästhetischer Reflexion erhoben hat«.4 Und dieser Genuss besteht gerade auch in der emotionalen Lektüre, im »selbst- und realitätsvergessene[n] Aufgehen des Lesers in der Welt der Fiktion«,5 in der spielerischen Partizipation an der fiktiven Welt.6 So zeichnet sich besonders in den letzten Jahren ein neues Interesse an sprachlichen Kodierungen von Emotionen in der Literatur ab und den Möglichkeiten der Kunst, im Rezipienten eine emotionale Reaktion abzurufen.7

      Relevant für eine Ästhetik des Bösen wird diese Dimension des Kunstschaffens im Zusammenhang mit dem eigentümlichen Wirkungspotential des Bösen, das ihm allein schon durch das subversive Moment der Grenzüberschreitung eingeschrieben ist. Die Skandal­er­folge der Schriftsteller Baudelaire (Les Fleurs du mal, 1857), Flaubert (Madame Bovary, 1857; Salammbô, 1862), Lautréamont (Les Chants de Maldoror, 1869) und J.-K. Huysmans (A rebours, 1884) belegen die außerordentliche Wirkung, die ihre Werke auf das bürgerliche Publikum haben sollten: rechtliche Strafver­folgung aufgrund von Belei­digung der öffent­lichen Moral und/oder Zensur. Wenn sich Flaubert von dem Vorwurf, mit Madame Bovary den Ehebruch zu befürworten, freisprechen konnte, dann nur mit dem Verweis darauf, dass es im Gegenteil um eine »excitation à la vertu par l’horreur du vice« ginge, und der Verfasser kaum dafür angeklagt werden könne, dass er die Realität so abbilde, wie sie ist.8 Tatsache ist, dass sein Werk als anstößig empfunden wurde. Dem ließe sich sicherlich hinzufügen, dass die Kunst dabei in ihrer Autonomie verkannt wird, d.h. dass jene Leser, die sich ob der vermeint­lich unmoralischen Botschaft des Werkes entrüsten, nicht über die erforderliche ästhetische Distanz im Rezeptionsakt verfügen: ein Zeugnis von »literarischer Inkompe­tenz«, welche im Falle Flauberts von der Protagonistin Emma mit ihrer romantisch-verklärenden Lesesucht selbst veranschaulicht wird.9

      Das emotionale Lesen bildet damit wohl den Gegenpol zu der »göttlichen Perspektive«, der es nach Bohrer bei der Lektüre bedarf. Wenn bei ihm das Böse als ästhetische Kate­gorie erscheint, die einen positiven Lustgewinn durch imaginative Entgrenzung ermöglicht, dann wird auch hier der ›bösen Literatur‹ das Vermögen zugestanden, den Rezipienten zu bewegen – doch das hierbei resultierende Vergnügen ist intellektueller Art. Es setzt gera­de­zu voraus, dass Emotionen moralischer Natur ausgeschaltet werden. Und erneut muss daher gefragt werden: Wie kann sich auch der geübteste, literarisch gebildete Leser einer sponta­nen affektiven Reaktion auf den vorstellbar gemachten Gegenstand erwehren? Kann überhaupt vom »Bösen« gesprochen werden, wenn es nicht zuallererst intuitiv, emotional und spontan als solches wahrgenommen wird? Alt verneint dies entschieden: »[D]er sich im literarischen Text vollziehenden Aufhebung der ethischen Wertung steht die Unaus­weichlichkeit eben dieser Wertung im Akt der Rezeption gegenüber«.10 Ohne dabei allzu sehr vorauszugreifen, soll dies kurz anhand eines Gedichtes Baudelaires veranschaulicht werden, und zwar »A celle qui est trop gaie«, welches zu den »Pièces condamnées« gehört, die nach dem Prozess um die Fleurs du mal aus der ursprünglichen Fassung getilgt wurden. Dieses mutet zunächst wie ein klassischer Lobgesang auf die Schönheit der Geliebten an, schlägt jedoch bald um in eine Gewaltimagination, bei der das lyrische Ich die als allzu belastend empfundene Reinheit der Geliebten in einer als lustvoll erlebten Mordphantasie zu vernichten sucht:

        Ta tête, ton geste, ton air

        Sont beaux comme un beau paysage;

        Le rire joue en ton visage

       4 Comme un vent frais dans un ciel clair.

        […]

        Les retentissantes couleurs

        Dont tu parsèmes tes toilettes

        Jettent dans l’esprit des poètes

       12 L’image d’un ballet de fleurs.

       

        Ces robes folles sont l’emblème

        De ton esprit bariolé;

        Folle dont je suis affolé,

       16 Je te haïs autant que je t’aime!

       

        Quelquefois dans un beau jardin

        Où je traînais mon atonie,

        J’ai senti, comme une ironie,

       20 Le soleil déchirer mon sein;

       

        Et le printemps et la verdure

        Ont tant humilié mon cœur,

        Que j’ai puni sur une fleur

       24 L’insolence de la Nature.

       

        Ainsi je voudrais, une nuit,

        Quand l’heure des voluptés sonne,

        Vers les trésors de ta personne,

       28 Comme un lâche, ramper sans bruit,