Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq
32 Une blessure large et creuse,
Et, vertigineuse douceur!
À travers ces lèvres nouvelles,
Plus éclatantes et plus belles,
36 T’infuser mon venin, ma sœur!12
Als »böse« ist hier wohl der nach moralisch-ethischen Maßstäben unmotivierte Gewaltakt zu qualifizieren, den das lyrische Ich imaginiert. »Brisanz« gewinnt die hier vorstellbar gemachte Mordphantasie durch ihre besondere Verfasstheit: Der Kontrast von zunächst traditionell anmutendem Lobpreis auf die Schönheit und Unschuld der Geliebten mit der Erörterung der starken Aggression, die diese (wider Erwarten) im lyrischen Ich freisetzt, verleiht dem Gedicht eine besondere Pointiertheit. Im Grunde der Dramaturgie von Poes The Black Cat nicht unähnlich inszeniert Baudelaire hier die Pervertierung der ursprünglich reinen Liebe in Hass und sadistische Lust bzw. expliziert einen Zustand, in dem sich Liebe und destruktive Wollust vereinen (»Je te haïs autant que je t’aime«, V. 16).13 Und besonders provokant ist in diesem Zusammenhang eben genau das Moment der Lust, das der Gewaltimagination eingeschrieben ist: »vertigineuse douceur!« (V. 33) Der emphatische Ausdruck der Lust am Bösen präsentiert das Abseitige als Quell des Vergnügens. Was auf der rationalen Ebene als verwerflich gelten muss, wird auf der sprachlichen Ebene positiv besetzt, und zwar affektiv mit Zeichen der Lust. Der Mord ist schwindelnde Süße, die dem Opfer zugefügte Wunde schön. Bei der Lektüre dieses Gedichts realisiert sich, was Alt eine »unsaubere Mischung« nennt: »Das klandestine Sympathisieren mit dem Verbrechen, das Verständnis für das Laster und die Lust am Schrecklichen bilden kombinierte Einstellungen, die durch die Koexistenz von Emotion und Urteil zustandekommen«.14 Die Provokation15 des Textes liegt vornehmlich im Einsatz der »Rhetorik des Bösen als des Schönen,«16 welche zum Nachvollzug des als lustvoll vorstellbar gemachten Bösen animiert – unabhängig von der Tatsache, ob vom Leser ein reales »klandestines Vergnügen« am dargestellten Gegenstand selbst empfunden wird.
1.2.2 Das Böse und (ästhetischer) Genuss
Das Verflüssigen der Grenzen zwischen Abstoßung und Anziehung, das Ineinanderwirken von scheinbar gegensätzlichen Emotionen ist wohl eines der besonderen Merkmale der Wirkungsästhetik des Bösen. Der Text transportiert eine explosive Mischung, der im Rezeptionsakt verschiedene Bereiche anspricht: das moralische Bewusstsein und das Lustempfinden. Wollte man dies in Freud’schen Termini ausdrücken, könnte man von einem Gefühlsamalgam der Unbehaglichkeit sprechen, bei dem das normativ regulierende Über-Ich und das nach Lust strebende Es in ein Spannungsverhältnis treten. Dieses Lustgefühl muss dabei zweifelsohne nicht von sinistrer Natur sein bzw. von verdrängten Wünschen herrühren, sondern kann unterschiedlichen Quellen entspringen. H. R. Jauß definiert drei basale Kategorien der ästhetischen Erfahrung bzw. des »[ä]sthetisch genießenden Verhalten[s]«: 1) Poeisis, d.h. der Genuss des »produzierende[n] Bewußtsein[s] im Hervorbringen von Welt als seinem eigenen Werk«; 2) Aisthesis, d.h. der Genuss, der im »Ergreifen der Möglichkeit, seine wahrnehmende der äußeren wie der inneren Wirklichkeit zu erneuern« bzw. im »genießende[n] Aufnehmen des ästhetischen Gegenstands als ein gesteigertes, entbegrifflichtes oder – durch Verfremdung […] – erneuertes Sehen« ruht; 3) Katharsis, d.h. der Genuss der eigenen durch das Werk erweckten Affekte, des »Selbstgenusses im Fremdgenuss« und der damit verbundenen Freisetzung von der Lebenswelt bzw. der spielerischen Identifikation mit dem ästhetischen Gegenstand und der Freiheit, sich über die vom Werk definierten Handlungsnormen ein Urteil zu bilden.1 Für den Rezeptionsakt sind dabei natürlich die Formen der Aisthesis und Katharsis relevant.
Es erweist sich, dass ein Gegenstand, der per definitionem nicht schön, wahr oder gut ist, durchaus ästhetischen Genuss vorbringen kann. Das nur scheinbare Paradox des Gefallens an per se missfälligen Sujets wird schon in Aristoteles’ Poetik thematisiert und besonders seit dem 18. Jahrhundert im kunsttheoretisch-philosophischen Diskurs vielfältig diskutiert und reflektiert.2 In der Poetik heißt es: »Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.«3 Und gelöst wird dieses Paradox dadurch, dass dem Menschen das Nachahmen und der Wunsch zu lernen angeboren ist, sodass die Nachahmung auch eines widrigen Gegenstandes in der Kunst Interesse und Neugier erweckt und ein jeder Mensch Freude daran hat zu lernen, welcher Qualität das vorgestellte Sujet ist.4 Es ist das Erfreuen an der gelungenen Nachahmung und die Wissenslust, die auch das Hässliche in der Kunst zu einem genießbaren Sujet macht. Wie Jauß in Anlehnung an Augustins Confessiones bemerkt, sind Lust (voluptas) und Fürwitz (curiositas) die Triebfedern der Augenlust (concupiscentia oculorum), wobei curiositas auf das Widrige ausgerichtet ist.5
Andererseits ist es die schöne »Form« des vorgestellten Gegenstands bzw. die »Mittelbarkeit« des Mediums Kunst selbst, die zu gefallen vermag (und damit gemäß Aristoteles den Gefallen an der gelungenen Nachahmung bezeichnet). Im ›Zerrspiegel‹ der Kunst verliert das missfällige Sujet seine repulsive Wirkung, wird gleichsam ästhetisiert und durch künstlerische Formgebung neutralisiert. So hebt auch Boileau im Art poétique (1674) hervor:
Il n’est point de Serpent, ni de Monstre odieux,
Qui par l’art imité ne puisse plaire aux yeux.
D’un pinceau delicat l’artifice agreable
Du plus affreux objet fait un objet aimable. (Chant III, V. 1–4)6
So wird auch Kant in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) eben dies als besondere Leistung der Kunst hervorheben: »Die schöne Kunst zeigt eben darin ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt. Die Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges, u. dgl. können, als Schädlichkeiten, sehr schön beschrieben, ja sogar als Gemälde vorgestellt werden«.7 Die Kunstdifferenz erlaubt demnach eine »unschädliche« Darstellung und Betrachtung des widrigen Gegenstands; im Kunstwerk findet sich das Hässliche durch die »dialektische Prozessualität der metaphysischen Idee des Schönen« aufgehoben.8 Aisthetisch besteht der Reiz des Hässlichen und Bösen also im kontemplativen Genießen der gelungenen künstlerischen Form und der Befriedigung der curiositas, der Neugier und der Faszination am Missfälligen. Und wenn aisthetischer Genuss »Renovation der inneren und äußeren Wirklichkeit« durch »erneuertes Sehen« bedeutet, ist Bohrers Konzept des Bösen als »Sinnentzug im Entsetzen« und Grenzerfahrung gleichfalls dieser Kategorie des ästhetischen Erlebens zuzuordnen.
Kathartisch ist dann jene Lust, die das Subjekt anlässlich seiner eigenen Erregbarkeit empfindet. Es ist die Lust, bewegt zu werden. Katharsis ist – wie oben bereits erwähnt – das Wirkziel der Tragödie: Durch die Erregung der Affekte phobos und eleos ist das Tragische überhaupt erst möglich; ihr Gelingen hängt eben genau von ihrer (emotionalen) Wirkung ab. In seinem Essay XXII Of Tragedy (Essays: Moral, Political, and Literary, 1742–54) greift David Hume die Argumentation des bereits zitierten Abbé Du Bos auf, »that nothing is in general so disagreeable to the mind as the languid, listless state of indolence, into which it dalls upon removal of all passion and occupation«.9 Es sei dem Menschen ein Grundbedürfnis, zu spüren; nichts ist dem Menschen größere Qual als innere Leere und es ist der horror vacui, die Angst vor dieser Leere, die ihn emotionale Agitation und große Passionen suchen lässt.10 Je mehr »sorrow, terror, anxiety, and other passions« der Zuschauer von einer Tragödie empfange, desto mehr Vergnügen bereite sie ihm.11 Dies lässt sich mit Descartes auf die Formel bringen: »on prend naturellement plaisir à se sentir émouvoir à toutes sortes des Passions«.12 Diese Form des ästhetischen Genusses bezeichnet Hans Blumenberg als Modus der »inneren Distanz«, bei dem das Subjekt auf »die pure Funktion seiner Vermögen« und »nicht auf die Gegenstände und deren Spezifizität« bezogen bleibt.13
Innerhalb der Diskussion über Grenzphänomene des Ästhetischen