fußt auf einem egalitären Menschenbild, das Menschlichkeit, Empathiefähigkeit und SolidaritätSolidarität, wie sie nicht zuletzt im Kunstgespräch im Lenz zum Ausdruck kommen, als Grundvoraussetzungen des menschlichen Zusammenlebens setzt, und dem (ex negativo durch die Schilderung von zu verurteilenden Instrumentalisierungen postulierten) Recht auf SelbstbestimmungSelbstbestimmung, was der allgegenwärtigen DeterminationDetermination keineswegs widerspricht.1 Sein Menschenwürdebegriff ist nicht normativ in dem Sinne, dass der Mensch bestimmte Kriterien erfüllen muss, um als würdevolles Wesen zu gelten. Vielmehr klagt er für jeden Menschen, ohne Rücksicht auf äußerliche oder innerliche Merkmale, Würde und bestimmte Rechte ein. Würde ist ein dem Menschen nicht zu nehmendes Wesensmerkmal. Das hat eine starke naturrechtliche Komponente, verzichtet bei der Begründung der Würde aber auf die Bindung an die VernunftVernunft. Menschenwürde bedeutet nicht primär die Pflicht des Trägers, auf eine bestimmte Art, mithin ‚moralisch‘ zu handeln, sondern vor allem sein Recht, auf eine bestimmte Weise, und zwar ‚menschenwürdig‘, behandelt zu werden.
V. Die Menschenwürde und die Literatur des Naturalismus
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist der Begriff der Menschenwürde als Epitheton in Formulierungen wie „menschen(un)würdiges Dasein“ ein politisches Schlagwort, besonders im Denken der frühen Sozialisten.1 Es verrät die Einsicht, dass die Menschenwürde mit der zunehmenden Dringlichkeit der ‚Sozialen Frage‘ und im Zuge von Urbanisierung, Industrialisierung und Proletarisierung sehr realen, materiellen Bedrohungen ausgesetzt ist, und dass dem Menschen bestimmte Lebensumstände nicht zuzumuten sind; die Menschenwürde wird zu einer politisch-sozialen Kampfformel.2 Für die Literatur des Naturalismus, die sich der Wiedergabe der modernen Welt und deren Folgen für die conditio humana verpflichtet sieht, hat die Menschenwürde aber nicht nur diese sozialgeschichtliche Relevanz, sondern sie gewinnt auch für die Ästhetik und das der KunstKunst, Künstler zugrundeliegende, auf zeitgenössische wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifende Menschenbild an Bedeutung.
Die Literatur des bürgerlichen Realismus beschreibt vielfach die Aporie des IndividuumsIndividuum, das einem von der GesellschaftGesellschaft normativ verstandenen, tendenziell äußerlichen Würdebegriff gegenübersteht. Wenn als menschenwürdiges nur ein den bürgerlichen Normen und gesellschaftlichen Werten entsprechendes Leben gilt, wenn Ehre als Leitideal die Würde übertrumpft, müssen SelbstbestimmungSelbstbestimmung, SelbstverfügungSelbstverfügung und AutonomieAutonomie des Einzelnen zurückstehen. Entsprechend dominant sind in der literarischen Welt des 19. Jahrhundert die Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft – die nicht selten im SuizidSuizid enden, der den Rezipienten zu einer Reflexion über die Werte der Gesellschaft und deren Kollision mit der Würde des Menschen drängen soll.3 Auf der darstellungsästhetischen Ebene tendiert der nicht umsonst als ‚poetischer‘ bezeichnete Realismus dazu, das HässlicheHässliche, die Würde Bedrohende auszusparen, es unter die Oberfläche zu verbannen oder aber es zu verklären. Das würdige Sterben ist in der Literatur des Realismus noch möglich – anders als in den Jahrzehnten darauf.4
Im Naturalismus sind es weniger Konflikte zwischen IndividuumIndividuum und GesellschaftGesellschaft als die das Individuum und seine Würde bedrohenden sozialen Kräfte, die in den Fokus rücken. Dass gerade die Naturalisten Georg BüchnerBüchner, Georg, vor allem Lenz und Woyzeck, wiederentdecken und feiern, ist kein Zufall: In Büchner finden sie einen Dichter, der mit bemerkenswerter Genauigkeit und Drastik die entwürdigendeEntwürdigung Macht gesellschaftlicher Verhältnisse und deren Auswirkungen auf Leben und Erleben des einzelnen Menschen beschreibt – und dies mit einem vehementen Plädoyer für EmpathieEmpathie, Menschlichkeit und Menschenwürde verbindet.
Das naturalistische Menschenbild, seine Konsequenzen für den Menschenwürdebegriff sowie dessen Relevanz für Kunstverständnis und -praxis werden im Folgenden mit Blick auf einschlägige naturalistische Programme und auf kanonische Texte der bedeutendsten Vertreter der Bewegung, des Autorenduos Arno HolzHolz, Arno und Johannes SchlafSchlaf, Johannes sowie Gerhart HauptmannsHauptmann, Gerhart, expliziert.
V.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde für die Literatur des Naturalismus
V.1.1. Theoretische Voraussetzungen
Der Biologe und monistische Philosoph Ernst HaeckelHaeckel, Ernst, der die Thesen des Darwinismus in seinen auflagenstarken, populärwissenschaftlichen Werken beim deutschsprachigen Publikum verbreitete, erklärt in seinen „gemeinverständlichen Studien“ Die Welträtsel (1899) die neue Sicht auf den Menschen. Dieser ist weder ein aus der Natur herausragendes, von GottGott als sein EbenbildGottebenbildlichkeit geschaffenes Wesen, noch zeichnet er sich durch eine Doppelnatur (Leib vs. Seele / VernunftVernunft) aus.1 Es gibt vielmehr nur eine Substanz; der Mensch, dessen Verwandtschaft mit dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung seit Darwin als erwiesen gilt, ist das Resultat einer genau nachzuvollziehenden Evolution. In Haeckels streng deterministischem Menschenbild findet die WillensfreiheitWille, freier Wille keinen Platz mehr. Jede menschliche Handlung ist von der inneren Disposition des Einzelnen sowie den äußeren Umständen abhängig, gehorcht letztlich den Gesetzen von Vererbung und Anpassung an die Lebensbedingungen.2 Gleichwohl betrachtet Haeckel die Vernunft immer noch als des Menschen „höchste[s] Gut“ und als „de[n]jenige[n] Vorzug, der ihn allein von den Tieren wesentlich unterscheidet“.3 Die Vernunft und der Grad ihrer Ausbildung sind jedoch ebenfalls Resultat der Evolution und abhängig vom Einfluss äußerer Umstände. Diese Theorie versucht Wilhelm BölscheBölsche, Wilhelm in seiner Programmschrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie für die aufstrebende naturalistische Strömung fruchtbar zu machen. Gerade die „Thatsache der Willensunfreiheit“ rückt er in den Vordergrund:
[W]enn sie nicht bestände, wäre eine wahre realistische Dichtung überhaupt unmöglich. Erst indem wir uns dazu aufschwingen, im menschlichen Denken Gesetze zu ergründen, erst indem wir einsehen, dass eine menschliche Handlung […] das restlose Ergebniss gewisser Factoren, einer äussern Veranlassung und einer innern Disposition, sein müsse und dass auch diese Disposition sich aus gegebenen Grössen ableiten lasse, – erst so können wir hoffen, jemals zu einer wahren mathematischen Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen zu gelangen und Gestalten vor unserm Auge aufwachsen zu sehen, die logisch sind, wie die Natur.4
Die künstlerischeKunst, Künstler Darstellung des Menschen fußt auf wissenschaftlichen Gesetzen und beachtet die Faktoren Erziehung, Vererbung, Gewohnheit und die vom französischen Philosophen Hippolyte TaineTaine, Hippolyte formulierten Basiskategorien race, milieu und moment.5 HaeckelHaeckel, Ernst und BölscheBölsche, Wilhelm setzen wesentliche Begründungsmuster der Menschenwürde außer Kraft: Der Mensch ist nicht per se der SchöpfungSchöpfung überlegen, sondern nur, insofern er ein besonders weit entwickeltes TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung ist; seine Handlungen sind nicht autonomAutonomie, sondern Ergebnis verschiedenster Einflüsse; VernunftfähigkeitVernunft an sich kann für die Zuschreibung von Würde nicht entscheidend sein, denn der Grad ihrer Ausprägung ist ebenfalls den Gesetzen von Evolution und Vererbung unterworfen.
Obwohl die Erkenntnisse der sich rasant entwickelnden Natur- und Sozialwissenschaften den Menschen seines Status als per se der restlichen Natur überlegenes Wesen berauben, bleibt der Mensch weiterhin das Hauptsujet literarischer Produktion. Die Literatur behält sogar nach BölscheBölsche, Wilhelm ihre aufklärerische Rolle als „Erzieherin des Menschengeschlechts“, kann sie doch nur so mit den Wissenschaften Schritt halten im Bestreben, „den Menschen gesund zu machen“.6 Die Idee der Menschenwürde wird keineswegs verabschiedet, wie Bölsche und andere explizit festhalten. Trotz des naturwissenschaftlichen Fortschritts bleibe der Mensch, so Bölsche, „was er ist. Das raubt ihm niemand. Es bleiben alle seine Ideale“.7 Emphatisch beschwört Michael Georg ConradConrad, Michael Georg das Ziel seiner Generation, einen „Tempel der HumanitätHumanität“ zu errichten und „das vernünftigVernunft verfasste […] Programm einer menschenwürdigen Existenz in unablässiger Arbeit an und um uns [zu] verwirklichen“, denn: „Der Mensch ist Selbstzweck.“ Conrad entfaltet die geradezu utopische Vision eines „Kampf[es] […] um die idealen Güter der Menschheit. Damit finden wir eine sichere, würdige