Max Graff

Literarische Dimensionen der Menschenwürde


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      V.2. Die Menschenwürde in literarischen Werken des frühen Naturalismus

      V.2.1. „So’n Hundeleben!“ – Arno HolzHolz, Arno / Johannes SchlafSchlaf, Johannes: Papa Hamlet (1889)

      V.2.1.1. Proletarisierung und Menschenwürde

      Papa Hamlet schildert die Folgen eines Proletarisierungsprozesses:1 Verarmt und verelendet haust der arbeitslose Schauspieler Niels Thienwiebel mit seiner kranken Frau und seinem neugeborenen Sohn in einer Dachwohnung. Thienwiebels Lebensumstände und sein Selbstanspruch klaffen weit auseinander: Die gelegentliche Arbeit als Aktmodell hält er für eine „EntwürdigungEntwürdigung“ (PH 28),2 eine Anstellung bei einer Wandertruppe lehnt er aus Angst, „sich zu degradieren“, ab (PH 43). Würde ist hier zunächst kontingent und bezieht sich auf den sozialen Status; Thienwiebel hält stur und verzweifelt an seinem Selbstbild als genialer KünstlerKunst, Künstler, als „große[r], unübertroffene[r] Hamlet aus Trondhjem“ (PH 19), aber auch als selbstbewusster Kleinbürger fest.3 Mit seiner Frau die jämmerlichen, aber realen Lebensbedingungen zu besprechen, hält er für „unter seiner Würde“ (PH 29). Thienwiebels mit Pathos (und bisweilen eindeutig komischem Effekt) vorgetragenen Hamlet-Zitate sind nicht nur der seltsam anmutende Versuch eines Schauspielers, Worte für das ihn umgebende Elend zu finden; sie verraten auch das lächerliche Bemühen, an einem in Realität bereits überholten Selbstbild festzuhalten und durch die hochpoetische Sprache eine äußerliche Form der Würde zu bewahren. Seine Fixierung auf die Sprache ShakespearesShakespeare, William ist grotesk, ist diese doch vollkommen unangemessen, die Verhältnisse in der fiktionalen (und auch der realen!) Welt zu versprachlichen. Außerfiktional betrachtet, dient die Sprache des elisabethanischen Theaters als Hinweis darauf, dass der Text als kritische Auseinandersetzung mit einer inadäquaten Theater- und Literatursprache zu lesen ist – und mit einem als überkommen betrachteten Menschenbild. Das humanistische Menschenbild der Renaissance, auf dem die idealistische Tradition gründet, prallt auf jenes, das der naturalistischen Ästhetik zugrunde liegt. Besonders ein Hamlet-Zitat verdeutlicht, dass Papa Hamlet gerade auch als Beitrag zum Menschenwürdediskurs zu lesen ist. Ironischerweise entspricht die Figur, der das Zitat in den Mund gelegt wird, dem humanistischen Ideal überhaupt nicht mehr:

      Welch ein Meisterwerk war der Mensch! Wie edel durch VernunftVernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig im Handeln, wie ähnlich einem Engel; im Begreifen, wie ähnlich einem Gotte; die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch: was war ihm diese Quintessenz vom Staube? (PH 28)4

      Der euphorischen Feier des vernünftigenVernunft, autonomenAutonomie Menschen, dem als EbenbildGottebenbildlichkeit Gottes und als ‚Krone der SchöpfungKrone (der Schöpfung)‘ die FreiheitFreiheit der Gestaltung der ihm untergebenen Welt eignet, steht in dieser Passage die christliche Einsicht in die Nichtigkeit des Daseins gegenüber: Der Mensch vereinigt in sich Elend und Größe – eine für das 16. und das 17. Jahrhundert charakteristische Position.5 Durch die Transposition des Zitats in erlebte Rede erscheint das Verbum im Präteritum („war“) – gleichzeitig eine Absage an das nicht mehr zeitgemäße Menschenbild. Papa Hamlet relativiert die Vorstellung von der herausragenden Qualität des Menschen und seiner damit verbundenen Würde auf zeittypische Weise: durch das Wissen um seine biologische und soziale DeterminationDetermination.

      V.2.1.2. Die Relativierung der Menschenwürde

      In einem versöhnlichen Moment artikuliert Thienwiebel selbst das im Text entwickelte Menschenbild: „Ich kann ja auch nicht dafür! … Ich bin ja gar nicht so! Is auch wahr! Man wird ganz zum Vieh bei solchem Leben!“ (PH 60). Nur wenig später tötet er, wie zum Beweis, in einem Wutanfall seinen Sohn. Der Bezug zu BüchnersBüchner, Georg Woyzeck geht über die simple Anspielung („Vieh“ – „viehdummes IndividuumIndividuum“) hinaus; ist es bei Büchner perverserweise gerade der Mord an Marie, durch den Woyzeck seine Würde zu behaupten trachtet und somit beweist, dass er eben kein Vieh ist, so wird Thienwiebels Tat zum ultimativem Beleg für seine WürdelosigkeitWürdelosigkeit.1

      Die fiktionale Welt in Papa Hamlet ist tatsächlich von Tieren bevölkert; das suggerieren zumindest Namen, Metaphern und Apostrophen, die auf die verschiedenen Figuren verweisen und die auf rhetorischer Ebene deren Menschenwürde in Frage stellen.2 Innerfiktional fungieren diese Bezeichnungen bisweilen als Kosenamen, die zudem auf problematische zwischenmenschliche Beziehungen hindeuten (z.B. zwischen Vater und Kind). Außerfiktional betrachtet, deuten sie das dem Text zugrundeliegende Menschenbild an. Dass vor allem der kleine Fortinbras fast ausschließlich mit Tiernamen belegt wird, illustriert auf bedrückende Weise die naturalistische Lehre von Vererbung und Degeneration. Das Kind ist von Geburt an nicht nur durch seine eigene biologische Disposition, sondern vor allem durch die ihm von seinen Eltern und deren Umgebung vererbten Anlagen determiniertDetermination.

      Die Figuren leben in ihrer Selbstwahrnehmung ein „Hundeleben“ (PH 59). Die außerfiktional als menschenunwürdig gekennzeichneten Lebensbedingungen lassen sie zu tierähnlichen Wesen verkommen, die nicht mehr imstande sind, einen autonomenAutonomie, auf selbstständiger Reflexion und dem Abwägen ethischer Gesichtspunkte beruhenden Willen zu bilden.3 Im Text greifbares Symptom der im Hintergrund ablaufenden sozialen Prozesse, die das Leben des Einzelnen dramatisch verändern, ist das anhand aussagekräftiger, metonymischer Details beschriebene Milieu, das die WürdelosigkeitWürdelosigkeit der Figuren erzeugt. Die Einrichtung etwa ist heruntergekommen (ein „Milchtopf[] ohne Henkel“, ein „alte[s], berußte[s] Handtuch[]“; PH 21). Die Erbärmlichkeit ihrer Behausung färbt ganz offensichtlich auf Niels und Amalie ab: Er trägt „ausgetretene[] Pantoffeln“, ihre Haare sind „dünn[]“, ihre Nachtjacke ist „schmutzig“, ihr Kind säugt sie „nachlässig“ (PH 21). Diese indexikalischen Zeichen verweisen auf die Armut, die den Figuren zu schaffen macht: Ole muss sich zeitweise von „aufgeweichten Brotkrusten“ ernähren (PH 35), den Thienwiebels fehlt das Holz zum Heizen (PH 48), Amalie zittert vor Kälte (PH 55, 56). Mit der Vermieterin Frau Wachtel wird jedoch eine Figur eingeführt, die ein vernichtendes, auf das Ehepaar selbst als Verursacher seiner Misere abzielendes Urteil fällt:

      Der alte, alberne Kerl flözte sich den ganzen Tag auf dem Sofa rum und trieb Faxen, das faule, schwindsüchtige Frauenzimmer hatte nicht einmal Zeit, seinem Schreisack das bißchen blaue Milch zu geben, zu fressen hatten sie ja alle drei nichts, und die Miete – ach du lieber Gott! (PH 35–36)

      Frau Wachtels Sicht ist gewissermaßen eine ästhetische Norm, die Figur dient als ästhetisches Mittel, um die Theorie der DeterminationDetermination innerfiktional zu problematisieren. Der Mangel an sinnvoller Beschäftigung, ob selbstverschuldet oder nicht, ist demnach die Ursache des erbärmlichen Zustands; dieser wirkt sich wiederum auf die Psyche der Betroffenen aus. Amalie versinkt in Gleichgültigkeit und Stumpfheit (vgl. PH 36 und 56); Niels kokettiert wie Hamlet mit dem Wahnsinn (vgl. PH 36–38). Ob man nun die Armut als Folge von Persönlichkeitsstruktur und Umständen oder diese als Folge der Armut begreift, ändert nichts daran, dass die Figuren in ihrem Milieu, das sowohl ihre realen Lebensverhältnisse als auch ihre überholten Ideale beinhaltet, gefangen erscheinen. Zu Handlungen, die auf reflektierten Willensäußerungen beruhen, sind diese ‚vertierten‘ Menschen in diesen unwürdigen Bedingungen nicht mehr fähig. „Was macht man nu bloß? Man kann sich doch nicht das Leben nehmen?!“, klagt Thienwiebel (PH 60). Zwar sind ihm einzelne, kurze Momente der Selbstreflexion nicht abzusprechen; aber selbst der Freitod als freie Willensentscheidung gegen ein elendiges, würdelosesWürdelosigkeit Leben kommt nicht ernsthaft in Betracht. Entsprechend ironisch klingen Niels’ Erziehungsratschläge an Amalie, und zwar nicht nur, weil er damit die Misshandlung seines Sohnes rechtfertigt: „Ein Kind darf nicht eigenwillig sein! Ein Kind bedarf der Erziehung, Amalie!“ (PH 41). Der Text zeigt auf beklemmende Weise, dass die Entwicklung eines ‚eigenen WillensWille, freier Wille‘ nicht nur durch die Erziehung, sondern vor allem durch die als für die zeitgenössische Großstadtgesellschaft typisch erscheinenden ärmlichen Lebensumstände gehemmt wird.4

      Unter diesen Voraussetzungen besitzt der Mensch an sich, der infolge der DeterminationDetermination durch Milieu, Vererbung und Zeitumstände seine AutonomieAutonomie, seine WillensfreiheitWille,