Max Graff

Literarische Dimensionen der Menschenwürde


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Hamlet erscheint WürdelosigkeitWürdelosigkeit als Folge von DeterminationDetermination durch soziale Faktoren, in diesem Falle durch den Alkoholismus der neureichen Familie und der verarmten Bergleute. Auf einer zweiten Ebene zielt der Mensch-Tier-Diskurs auf moralische Selbstbestätigung (Familie Krause, durchaus ironisch!) bzw. moralische Kritik (Loth). Loths moralisches Urteil beruht dabei auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen; er vertritt gleichsam eine naturalistisch fundierte Ethik. Diese Kritik ist nicht nur als innerfiktionale Figurenrede, sondern auch als Autorposition zu bewerten.3 Der Alkoholismus fördert nicht nur die ohnehin wissenschaftlich belegte tierische Natur des Menschen zu Tage, sondern wirft den Menschen auf der evolutionären Leiter zurück. Aus dieser Einsicht heraus vertritt Loth ein normatives Verhaltensideal, den rigorosen Antialkoholismus, den er der durch Alkohol drohenden EntwürdigungEntwürdigung entgegensetzt. Er weist im Dialog nicht nur durch statistisches Material die determinierende Macht des Alkohols nach, sondern postuliert auch dessen Vererbbarkeit: „Die Wirkung des Alkohols, das ist das Schlimmste, äußert sich sozusagen bis ins dritte und vierte Glied“ (CA 1, 35). Loths Menschenbild ist zwar wissenschaftlich fundiert, geht aber darüber hinaus, indem es eine Vision enthält, die dem Programm des Naturalismus vollkommen entspricht: Er will ‚den Menschen gesund machen‘.4 Vor diesem Horizont ist sein späteres Verhalten zu bewerten.

      V.2.2.3. Helenes SuizidSuizid: kein autonomerAutonomie Akt der Würde

      Dass sich Helene am Ende des Dramas ausgerechnet mit einem „Hirschfänger“ (CA 1, 97) das Leben nimmt, ihr Tod also mit dem semantischen Feld ‚TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung‘ assoziiert wird, indiziert, dass ihr SuizidSuizid als Folge einer DeterminationDetermination durch das Milieu zu deuten ist und nicht etwa als autonomerAutonomie Akt der FreiheitFreiheit. Werner Bellmann hat überzeugend dargelegt, dass Helenes Selbstmord mit der naturalistischen Determinationslehre übereinstimmt. Geprägt durch die „außerfamiliäre Erziehung“, die ihr zwar erlaubt, die eigene Situation zu reflektieren und korrekt zu beurteilen, aber auch bewirkt, dass sie konservativ-bürgerliche soziale und Geschlechterrollen internalisiert hat, und durch das familiäre Milieu, in dem sie mit grassierendem Alkoholismus und dessen Folgen konfrontiert ist, sieht sie in Loth ihre einzige Hoffnung auf Rettung. Als sie realisiert, dass Loth sie zurückgelassen hat, „flieht sie in den Tod, um den Zustand der EntwürdigungEntwürdigung zu beenden und der Macht des Milieus zu entrinnen“.1 Dass Bellmann die Vokabel „Entwürdigung“ wählt, ist naheliegend: Tatsächlich zeichnet HauptmannHauptmann, Gerhart die Folgen des Alkoholismus für die gesamte Familie – nicht nur die rein biologischen, sondern auch die zwischenmenschlichen – als Entmenschung. Helene selbst registriert dies im Gespräch mit Loth: „Es ist ganz entsetzlich, wie es hier zugeht; ein Leben wie – das … wie das liebe Vieh – ich wäre darin umgekommen ohne dich – mich schaudert’s!“ (CA 1, 78). Doch selbstständig gelingt es Helene nicht, ihre Situation zu ändern; deswegen stilisiert sie Loth zu ihrem Retter. Hier offenbart sich das Problematische an dieser Figur: Zwar ist sie durchaus der Reflexion fähig, besitzt auch ein intuitives Verständnis für die Differenz von Gut und Böse sowie eine humane Geisteshaltung, aber sie ist unfähig, auf dieser Grundlage einen eigenständigen Willen zu bilden, der zu einer autonomen Handlung werden könnte. Als Frau besitzt sie keine eigene Würde; lediglich in Verbindung mit einem männlichen Retter entwickelt sie ein Gefühl des eigenen Werts, nur an der Hand des Mannes kann sie handeln.2 Genau deswegen ist Helenes Suizid auch nicht als Akt der Würde, als reflektierter, selbstständiger Entschluss zum Freitod nach dem Vorbild von GottschedsGottsched, Johann Christoph Cato inszeniert. Da Helene einer autonomen Entscheidung nicht fähig ist, entfällt der klassische Entscheidungsmonolog.3 Helenes Suizid geschieht fast sprachlos; es geht ihm ein gestisches Spiel voraus, das ihre Verzweiflung, ihren Kontrollverlust verrät. Nach der Lektüre des Abschiedsbriefs Loths irrt sie wie eine „halb Irrsinnige“ umher, hat „Mühe, aufrechtzustehen“, und handelt mit „verzweifelte[r] Energie“ (CA 1, 97). Ihre gestammelten letzten Worte beziehen sich auf Loth; ihre Tat ist kein autonomer Akt, sondern eine Verzweiflungstat, weniger eine Flucht als eine reflexartige Handlung.4

      Eines verbindet Helene aber doch mit GottschedsGottsched, Johann Christoph Cato: Auch Helene tötet sich nicht auf, sondern hinter der Bühne. Auf den ersten Blick ist das inkonsequent; immerhin propagiert der Naturalismus den genauen, nichts verhüllenden Blick und das Überwinden künstlerischerKunst, Künstler Tabus. Zudem hat das Stück das Motiv des ‚vertierten‘ Menschen, zu dem sich Helene durch einen grausigen SuizidSuizid auf der Bühne womöglich machen würde, breit entfaltet und augenfällig vorgeführt (Krause). Erklären lässt sich dieser Sachverhalt durch HauptmannsHauptmann, Gerhart spezifischen Umgang mit dem Begriff der Menschenwürde: Im Einklang mit der naturalistischen Programmatik schildert er eindrücklich die Bedrohung der Menschenwürde durch soziale Faktoren; die vollständige Demontage der Idee unterbleibt aber – denn die Möglichkeit der Überwindung der WürdelosigkeitWürdelosigkeit ist im Stück mitangelegt.5 Deutlich wird dies bei einem genaueren Blick auf die Figur des Loth.

      V.2.2.4. Loth als Überwinder der DeterminationDetermination

      Auch auf Loth scheint zunächst das DeterminismusparadigmaDeterminismus zuzutreffen. Seinen „Kampf um das Glück aller“ will er sich nicht als Verdienst anrechnen lassen, schließlich sei er „so veranlagt“. Doch er schränkt sogleich ein: Nicht durch Geburt oder Vererbung ist er zu dieser Veranlagung gekommen, sondern durch „die Verkehrtheit unserer Verhältnisse“, für die man nur einen „Sinn“ haben müsse; „dann wird man mit Notwendigkeit zu dem“, was er jetzt ist (CA 1, 47). Loth stellt sich als positiv DeterminiertenDetermination dar: Aufgrund bestimmter Faktoren – Lektüre, Unrechtsbewusstsein, Fortschrittsglaube, nicht zuletzt Bildung – ist es ihm möglich und ein Bedürfnis, Missstände zu erkennen und sie zu bekämpfen. Dass Loth aber gerade in seinem nächsten Umfeld, im Umgang mit der Familie Krause, blind und begriffsstutzig wirkt – und so das tragische Ende Helenes erst ermöglicht –, verhindert eine positive Einschätzung dieser Figur.1 Denn Loth vermag zwar, unter Berücksichtigung seines Wissens um die determinierende Kraft äußerer Faktoren reflektiert zu handeln, doch mangelt es ihm vollkommen am Blick für die praktischen Konsequenzen seiner Handlungen.2

      Gegen Ende des Stücks greift der Dialog zwischen Loth und Dr. Schimmelpfennig das Thema DeterminationDetermination auf. Loth bemüht sich, seinen Willen, Helene zu heiraten, „nüchtern“ und „objektiv“ zu begründen (CA 1, 91). Nicht ohne Ironie diagnostiziert der Arzt bei Loth eine „unglückliche[] Ehemanie“, das zwanghafte Festhalten an einer Vorstellung, die er eigentlich „theoretisch längst verworfen“ habe (CA 1, 92) – also einen Mangel an Konsequenz in seiner streng wissenschaftlichen, fortschrittsgläubigen Denkweise. Der weitere Verlauf der Unterhaltung ist entscheidend:

      LOTH. Es ist Trieb bei mir, geradezu Trieb. Weiß Gott! mag ich mich wenden, wie ich will.

      DR. SCHIMMELPFENNIG. Man kann schließlich auch einen Trieb niederkämpfen.

      LOTH. Ja, wenn’s ’n Zweck hat, warum nicht?

      DR. SCHIMMELPFENNIG. Hat’s Heiraten etwa Zweck?

      LOTH. Das will ich meinen. Das hat Zweck! […] Ich hab’s auch vielleicht nicht so gefühlt, […] daß ich in meinem Streben etwas entsetzlich Ödes, gleichsam Maschinenmäßiges angenommen hatte. […] (CA 1, 92)

      Wie Loth für Helene, verkörpert auch Helene für Loth die Hoffnung auf ein besseres Dasein. Vor allem die hier artikulierten Handlungskonzepte sind interessant: Loth sieht seine sich entwickelnden Gefühle für Helene durch seinen ‚Ehetrieb‘ determiniertDetermination; einen eigenen Entscheidungsspielraum sieht er zunächst nicht. Dass dann gerade der Mediziner mit Rekurs auf traditionelle Menschenwürdevorstellungen behauptet, dass der Mensch sich über einen Trieb hinwegsetzen könne, überrascht; immerhin zeigt er sich sonst durchaus auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Loth geht darauf nicht ein. Vielmehr betont er die Zweckmäßigkeit einer Ehe mit Helene, die ihm sein ödes, maschinenartigesMaschine Dasein humaner machen würde. Sein Idealbild des menschlichen Zusammenlebens umfasst demnach sowohl das Bewusstsein für die wissenschaftlich beschreibbaren Gesetze, die das Leben bestimmen, als auch einen