Modalverben verweisen auf einen Zwang, den Toni verspürt, ein diffuses Pflichtgefühl, das sie stark empfindet, dessen Ursprung sie aber nicht benennen kann.11 Deshalb will sie sich ständig rückversichern: „Nicht wahr?“ (FS 60; vgl. 61). Ihr individuelles Wohl und Wollen ordnet Toni vollkommen einem heteronomen Anspruch unter, von dem aber nie klar wird, was genau er ist. Von einer freiwilligen, autonomenAutonomie, gar moralischen Entscheidung Tonis kann also nicht die Rede sein. Trotz dieser DeterminiertheitDetermination sind aber Altruismus, Menschlichkeit und Nächstenliebe möglich; sie können nur eben nicht die Folge autonomer Entscheidungen sein. Sie dürfen aber auch nicht als bloße Folge der Determiniertheit abgewertet werden, sondern erscheinen als zutiefst menschliche Qualität. Indem das Stück vorführt, dass der Mensch bei allem Gefangensein in Milieu und Umständen der (Nächsten-)Liebe fähig ist, erhält das Menschsein eine entscheidende Aufwertung, die nicht nur jenem, der menschlich handelt, sondern auch jenen, denen Menschlichkeit entgegengebracht wird, eine Würde verleiht, die die vorher festgestellte WürdelosigkeitWürdelosigkeit überwindet.12 Anders als Wendt kann deshalb Toni mit Bezug auf ihre Familie ausrufen: „Die armen, armen Menschen!“ (FS 58; m. H.). Der Glaube an die Menschlichkeit des Menschen ist jedoch nicht idealistisch begründet.
Innerfiktional deutet die Figur Wendt diesen neu entdeckten Glauben an die menschliche HumanitätHumanität an. Am Ende des Stücks, als klar ist, dass Toni um ihrer Familie willen in der Stadt bleiben wird, formuliert er eine Modifikation, wenn auch keine grundlegende Revision seines Menschenbildes:
[…] du machst mich jetzt zu einem anderen Menschen! … Du hast mich überhaupt erst zu einem gemacht, liebe Toni!
[…]
Das Leben ist ernst! Bitter ernst! … Aber jetzt seh ich, es ist doch schön! Und weißt du auch warum, meine liebe Toni? Weil solche Menschen wie du möglich sind! – Ja! So ernst und so schön! … (streichelt ihr über das Haar.) (FS 62)
Die doppelte Kennzeichnung des Lebens als „ernst“ und „schön“ entspricht dem vermeintlich widersprüchlichen Menschenbild des Naturalismus, der die traditionellen Begründungen der Menschenwürde aufhebt, eindrucksvoll deren vollkommene Unangebrachtheit illustriert, den Begriff aber trotzdem nicht aufgeben will. Menschenwürde wird redefiniert als Fähigkeit zur Menschlichkeit.
Die Figur des alten Kopelke illustriert genau denselben Punkt.13 Er ist freundlich, hilfsbereit und versucht, sich in den Dienst seiner Mitmenschen zu stellen, und gleichzeitig zweifelt er nicht an der DeterminationDetermination durch Milieu, Erziehung und Zeitumstände:
Ja! Wenn eener immer ville Jeld hat, wissen Se, denn mag’t ja wol noch jehn! […] Neh’m Se mir mal zun Beispiel! Ick wah ooch nich uff’n Kopp jefallen als Junge! Ick wah immer der Erste in de Schule! Wat meen’n Se woll?! … Abber de Umstände, wissen Se! de Umstände! Et half nischt! Vatter ließ mir Schuster weer’n! … Freilich, mit die Schusterei is det nu ooch nischt mehr heitzudage! Die ollen Fabriken, wissen Se! Die ollen Fabriken rujenieren den kleenen Mann! … Sehn Se! So bin ick eejentlich, wat man so ’ne verfehlte Existenz nennt! Nu bin ick sozesagen alles un janischt! […] Se haben alle nischt, die armen Deibels, den’n ick … [mit meinen Homöopathiekenntnissen aushelfe; MG] (FS 16)
So stellen HolzHolz, Arno und SchlafSchlaf, Johannes den Einsatz für den Mitmenschen als einen jenseits jeder sittlichen Entscheidung liegenden, genuin menschlichen Charakterzug dar, der zwar nicht jedem Menschen eignet, der aber als Potential in jedem Menschen angelegt ist – und selbst bei einer Figur, die mit ihren Ansichten das naturalistische Menschenbild bestätigt, vorkommt. Sogar der Vater, obwohl von Armut, ehelicher Frustration und Alkoholismus gezeichnet, zeigt „verdeckte Äußerungen von Zärtlichkeit“.14 Dass er der Zuneigungsbekundungen gegenüber seinen Kindern und der Äußerung seines Wunsches nach ehelichem Glück nur in alkoholisiertem Zustand fähig ist und ansonsten nur den Kanarienvogel ‚menschlich‘ behandelt (vgl. FS 19), stellt der vorsichtig hoffnungsvollen Überwindung der WürdelosigkeitWürdelosigkeit einen Eindruck entschiedener und bedrückender Negativität entgegen.15 Dieses Spannungsverhältnis ist typisch für den Würdediskurs des Textes.16 Tonis Menschlichkeit resultiert aus einem sozial anerzogenen Reflex; ihr menschenwürdiges Handeln ist Folge ihrer vollkommenen WillensunfreiheitWille, freier Wille und geht einher mit der Aufopferung ihres individuellen Glücks sowie der Preisgabe jedes Anspruchs auf SelbstverfügungSelbstverfügung und AutonomieAutonomie. Insofern ist an ihrem Verhalten auch nichts vorbildhaft, nachahmenswert oder tugendhaftTugend.17 Trotzdem bleibt das Faktum der durch Toni (und Kopelke) belegten Menschlichkeit. Die sozialkritische Dimension des Textes ist in dieser Lesart zu bestimmen als vehemente Kritik an Verhältnissen, die als einzig möglichen Menschenwürdebegriff eine diffuse, reflexartige Menschlichkeit zulassen. Gerade diese jedoch ist der Anlass und Ausgangspunkt des letztlich optimistischen, hoffnungsvollen Glaubens der Naturalisten an eine mögliche und zu leistende Besserung des Menschen.
V.2.3.3. Vor Sonnenaufgang und Die Familie Selicke II
Die Figurenkonstellation ist in beiden Dramen ähnlich; in der Figurenzeichnung sind jedoch entscheidende Divergenzen festzustellen, die Die Familie Selicke tatsächlich zur ‚konsequent-naturalistischen‘ Antwort auf HauptmannsHauptmann, Gerhart Drama machen. Entscheidungsmöglichkeiten gibt es hier nicht mehr. Der Eindruck des Gefangenseins in vorgegebenen Rollen und Verhaltensmustern ist quasi absolut. Während in Vor Sonnenaufgang letztlich doch die Möglichkeit einer autonomenAutonomie Entscheidungsfindung aufscheint, ist diese Möglichkeit in Die Familie Selicke zurückgenommen. In der Entscheidungssituation ist Toni einer eigenmächtigen Willensäußerung und Entscheidungsfindung unfähig. Wendt scheint sich nicht einmal in einer Entscheidungssituation zu befinden; dass er die Familie am Ende verlassen wird, wird kaum ernsthaft in Frage gestellt.1 Im Gegensatz zu Loth, der sich als Moralist entpuppt, ist Wendt dabei eher der um Verständnis bemühte Beobachter, der sogar seinen Glauben an den besonderen Wert des Menschen wiedergewinnt. Wie Helenes SuizidSuizid ist Tonis Verhalten, das als metaphorischer Suizid die totale Preisgabe jedes Anspruchs auf Autonomie zur Folge hat, determiniertDetermination. Beiden Dramen gemeinsam ist das Motiv der praktisch gelebten Menschlichkeit als Überwinderin vermeintlicher WürdelosigkeitWürdelosigkeit: Anhand der Figur Loth wird fehlende Mitleidfähigkeit und HumanitätHumanität gerade bei einer in Ansätzen autonomen Person angeprangert; Tonis Philanthropie wird zwar als zutiefst menschlich, aber untrennbar mit einer Perspektive bedrückender Ausweglosigkeit verknüpft dargestellt.2
V.3. Dimensionen der Menschenwürde in der Literatur des Naturalismus
Zwei literarische Dimensionen der Menschenwürde prägen die Literatur des Naturalismus. Zum einen kommt ihr eine doppelte programmatische Relevanz zu: Thematisch rücken menschenunwürdige, den Menschen entwürdigendeEntwürdigung soziale Realitäten und Phänomene in den Fokus. Theoretisch wird traditionellen Menschenwürdebegriffen von den aus den Wissenschaften entlehnten Annahmen über den Menschen das Fundament entzogen (z.B. WillensfreiheitWille, freier Wille, GottebenbildlichkeitGottebenbildlichkeit), und doch wird die literarische Tätigkeit in den Dienst des Menschen und seiner VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung gestellt. Zum anderen wird in den besprochenen literarischen Texten das neue Menschenbild übernommen. Es kommt jedoch nicht zu einer Wiederherstellung der Menschenwürde durch genuin ästhetische Mittel, vielmehr wird durch Figurenzeichnung und -konstellation der Begriff in den Texten zur Diskussion gestellt und auf Möglichkeiten seiner Neuformulierung überprüft. Während in Papa Hamlet die pessimistische Sicht auf den tatsächlich würdelosenWürdelosigkeit Menschen überwiegt, sind die beiden analysierten Dramen ambig: Der Würdelosigkeit bzw. der Entwürdigung durch MilieudeterminationDetermination steht der vorsichtig optimistische Verweis auf das geradezu utopische Therapeutikum der HumanitätHumanität gegenüber, das die Möglichkeit des Glaubens an einen besonderen Wert des Menschen garantiert. Will man die sozialkritische Tendenz der Texte stärker betonen, muss man die Texte als Enthüllung der den Menschen entwürdigenden Faktoren lesen.
In diesem Zusammenhang wird jedoch auch das grundlegende Paradox des naturalistischen Umgangs mit der Menschenwürde offenbar: Die naturalistische Literatur