Erscheinung trat und damit das Prinzip in angeblich reiner Form. Nun stand er nicht an, mein Werk zu entwerten, weil es eben, wie ohne Zweifel ganz richtig war, sein an sich originales Prinzip keineswegs durchführte. (CA 11, 496)1
HauptmannHauptmann, Gerhart sah den Einfluss von HolzHolz, Arno v.a. in der Art der ästhetischen Reproduktion von Sprache.2 Wenn er hier einen signifikanten Unterschied zwischen beiden Texten feststellt, dann bezieht er sich auch auf die gewichtigen Unterschiede in den theoretischen Voraussetzungen des jeweiligen Menschenbildes, die sich in der Figurenzeichnung manifestieren. Die Familie Selicke ist, so Peter Sprengel, „Antwort auf und ‚konsequent-naturalistische‘ Alternative zu Vor Sonnenaufgang“.3 Die entscheidenden Unterschiede – und somit die Antwort Holzʼ und SchlafsSchlaf, Johannes auf Hauptmanns Figuren – fördert eine auf den Menschenwürdebegriff zugespitzte Interpretation zu Tage.
V.2.3.2. Die Überwindung der WürdelosigkeitWürdelosigkeit?
Wie Thienwiebel in Papa Hamlet ist auch die Familie Selicke darauf bedacht, nach außen hin die Insignien einer kleinbürgerlichen Würde zur Schau zu stellen: Die erste Regieanweisung des Textes erwähnt Gipsstatuen von GoetheGoethe, Johann Wolfgang und SchillerSchiller, Friedrich, einen Werther-Stich sowie Bilder Bismarcks und des „alte[n] Kaiser[s]“ (FS 5).1 Diese Requisiten haben eine doppelte Kontrastfunktion: Sie verweisen sowohl auf die Diskrepanz zwischen dem idealisierten, kleinbürgerlichen Lebensstil und den realen, ärmlichen Lebensbedingungen2 als auch auf das mit ihnen assoziierte klassische Menschenbild, das aus naturalistischer Perspektive negiert wird. Ausgerechnet der Theologe Gustav Wendt erweist sich im Dialog mit Toni zunächst als von der DeterminismuslehreDeterminismus überzeugter Naturalist. Leidenschaftlich versucht der angehende Pfarrer, Toni dazu zu bewegen, mit ihm aufs Land zu ziehen und dem „Elend“ (FS 26) zu entfliehen. „Du bist ja auch nur ein Mensch!“ (FS 26), ruft Wendt aus, als wolle er sie auffordern, sich ihren Affekten, die sie sowieso nicht beeinflussen kann, bewusst hinzugeben. Dann zeichnet er ein äußerst negatives Bild von Tonis Eltern, die eine von Hass und Streit geprägte Ehe führen: „Das sind keine vernünftigenVernunft Menschen mehr, das sind … Ae! Sie sind einfach jämmerlich in ihrem nichtswürdigen, kindischen Haß!“ (FS 27). Noch schreckt Wendt zwar davor zurück, die Selickes als TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung zu bezeichnen. Die offenbare WürdelosigkeitWürdelosigkeit der Eltern bedroht jedoch in seinen Augen auch die Existenz der Kinder: „Die Kinder müssen ja zugrunde gehen!“ (FS 27). Die Interdependenz von Milieu und Charakter steht für Wendt außer Frage.3 Toni versorgt zu wissen und von ihr finanziell unterstützt zu werden, hätte laut Wendt einen positiven Effekt auf die gesamte Familie: „Und wenn erst ihre äußere Lage etwas besser ist, dann ist ja auch vieles, vieles gleich ganz anders!“ (FS 28). Der durch das Elend der Großstadt determinierteDetermination Mensch ist für ihn jedenfalls vollkommen würdelos:
Die Menschen sind nicht mehr das, wofür ich sie hielt! Sie sind selbstsüchtig! Brutal selbstsüchtig! Sie sind nichts weiter als TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, raffinierte Bestien, wandelnde Triebe, die gegeneinander kämpfen, sich blindlings zur Geltung bringen bis zur gegenseitigen Vernichtung! Alle die schönen Ideen, die sie sich zurechtgeträumt haben, von GottGott, Liebe, und … eh! das ist ja alles Blödsinn! Blödsinn! Man … tappt ja nur so hin. Man ist die reine MaschineMaschine! (FS 29)4
Wendt artikuliert ein Menschenbild, das zwei nur auf den ersten Blick unvereinbare Begriffe enthält: „Bestien“ und „MaschineMaschine“. Mit Bezug auf die Lehren der Natur- und Sozialwissenschaften sieht Wendt den Menschen als brutales TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung unter Tieren, das in einen ständigen, egoistischen ‚Kampf ums Dasein‘ verstrickt ist. Zudem sind diese Menschtiere ihren Trieben ausgeliefert, also vollkommen determiniertDetermination. Die Maschinenmetapher ist mehrdeutig, da der genaue Bezug unklar ist: Der Mensch ist eine Maschine, insofern seine Handlungen von seinen Affekten und seinem evolutionären Überlebenswillen vorgegeben, gleichsam gesteuert werden und ihm, wie der Maschine, jede AutonomieAutonomie- und Moralfähigkeit fehlt. Doch das Indefinitpronomen „Man“ könnte sich auch auf Wendt selbst beziehen, der über den Mangel an Handlungsalternativen klagt – und so proleptisch sein eigenes, vorgezeichnetes Verlassen Tonis vorwegnimmt. Dass gerade ein Theologe zum Vertreter eines solchen Menschenbilds wird, entlarvt nicht nur „religiöse Tröstungsangebote als falsche Versprechungen“,5 sondern delegitimiert auch die theologische Begründung der Würde des Menschen als von GottGott geschaffenes, der SchöpfungSchöpfung übergeordnetes und mit einem freien Willen ausgestattetes Wesen. Die „schönen Ideen“ von der besonderen Würde des Menschen kommen Wendt lächerlich vor; der Mensch wird vielmehr zur entmystifizierten, in seiner Determination genau untersuch- und erklärbaren „Maschine“. Dass Wendt trotz gegenteiliger Äußerungen an die Liebe glaubt und Toni für sich gewinnen will, ist zunächst widersprüchlich. Er glaubt, nicht ohne Eskapismus, auf dem Land, „in ruhigen, schönen Verhältnissen“, abseits der determinierenden Macht des Milieus, ein anderes Leben führen zu können: „Wir werden ganz andre Menschen sein! […] Wir verstehen das Leben! Wir wissen, wie miserabel es ist, aber wir haben dann auch, was mit ihm versöhnt!“ (FS 31). Die Einsicht in die conditio humana ist für Wendt Voraussetzung einer glücklichen Existenz, in der immerhin eine Versöhnung mit der WürdelosigkeitWürdelosigkeit des Menschen, ja eine persönliche Besserung möglich scheint. Problematisch ist jedoch, dass er dies nur abseits der Großstadtrealität für möglich hält und dass seine Lösung einen eindeutig egoistischen Zug trägt – stellt er doch seinen eigenen Wunsch nach privater und beruflicher Sicherheit niemals in Frage.
Diesem Egoismus setzt Toni einen nicht auf anthropologischen oder philosophischen Überlegungen fußenden, sondern vollkommen intuitiven Altruismus entgegen: „Nicht wahr, Gustav? … Wir dürfen doch nicht nur an uns denken?!“ (FS 61). Aus Sorge um das Wohl ihrer zerrütteten Familie verzichtet Toni auf ein vermeintlich sicheres Leben und entsagt dem gemeinsamen Glück.
Bisherige Interpreten haben Tonis Verhalten recht unterschiedlich bewertet; dabei ist gerade die präzise Beschreibung dieser Figur entscheidend. Fritz Martinis Bewertung oszilliert zwischen der Feststellung der WillensunfreiheitWille, freier Wille der Figuren und dem Versuch, in Tonis als Beweis der menschlichen Würde interpretiertem Verzicht doch Ansätze einer freien und selbstständigen Entscheidung zu sehen – wenn auch mit tragischen Folgen für das IndividuumIndividuum.6 Für Siegwart Berthold basiert Tonis Entsagung auf einer ausschließlich sittlich motivierten Entscheidung, die eklatant der Auffassung von der DeterminiertheitDetermination des Menschen widerspricht.7 Die vielen Stellen, die auf MitleidMitleid und Rührung des Zuschauers zielen und dem Ideal des nüchternen naturalistischen Beobachterblicks eigentlich widersprechen, deutet Berthold im Kontext dieses Leitgedankens.8 Dieter Kafitz schließlich widerspricht solchen Deutungen, die das naturalistische Grundpostulat der Willensunfreiheit aufweichen wollen. Vielmehr sei Toni gefangen im nicht mehr zeitgemäßen Ideal des Kleinbürgers; letztlich ist ihr Verhalten durchaus Resultat der Determination durch ihr Milieu, durch die Selbstbilder und -ansprüche ihrer Familie und ihres sozialen Umfelds – ihr Verzicht kann nach Kafitz somit kein Akt der Würde sein.9
Dieser Blick auf die Forschung legt Grundprobleme der Interpretation offen: Ist Tonis Verhalten als Beweis der menschlichen Würde zu lesen, als Überwindung der WürdelosigkeitWürdelosigkeit des naturalistischen Dramenpersonals, wenn doch gleichzeitig jede Entscheidungsfreiheit und der freie WilleWille, freier Wille im Stück geleugnet werden? Handelt es sich schlichtweg um einen unauflösbaren Widerspruch, eine dramaturgische Schwäche? Steht am Ende doch das dem idealistischen Menschenwürdebegriff verpflichtete Lob einer sittlichen Handlung, die aus der Überwindung der eigenen Neigung resultiert? Oder bestätigt Tonis Verzicht das naturalistische Menschenbild, da er, letztlich vorhersehbar und notwendig, aus Milieu und Charakterdisposition ableitbar ist?
Nimmt man HolzHolz, Arno’ Auffassung von der „durchgängige[n] Gesetzmäßigkeit alles Geschehens“10 ernst, muss der Befund lauten: Tonis Entscheidung gegen das eigene Glück (und somit für die Familie) kann nur als angelernte Verhaltensweise, als ein notwendiges Fügen in ein sozial vermitteltes Rollenbild (das Bild der fürsorglichen, liebenden Tochter) gedeutet werden. Als Frau wird ihr keinerlei eigene Entscheidungsgewalt zuerkannt. Entsprechend artikuliert sie auch keinen Entscheidungsprozess, sondern