Max Graff

Literarische Dimensionen der Menschenwürde


Скачать книгу

begründete[], lautere[] Ethik“ sein.8 Hermann ConradiConradi, Hermann schließlich formuliert zusammenfassend jene Faktoren, die den Kampf des KünstlersKunst, Künstler um „wahre[] Geistesfreiheit“ ausmachen:

      [D]as klare, aus unparteiischer Selbstprüfung, durch energische Selbstarbeit gewonnene Bewußtsein des eigenen Wertes; eine deutliche, unbeirrte, durchschauende Einsicht in die Dinge, in die Relativität der Beziehungen; eine felsenfeste Überzeugung von der Würde und dem Werte natürlicher MenschenrechteMenschenrechte; eine gewisse historische Philosophie, eine auf pessimistisch-positivistischer Grundlage aufgebaute Weltanschauung, die das natürliche, naturbedingte Maß der logisch notwendigen Umbildung ohne Scheu […] an die Erscheinungen des Lebens legt!9 (Herv. i.O.)

      Als „Mission des Dichters“ sieht ConradiConradi, Hermann das „Erreichen einer reinen vorurteilsfreien HumanitätHumanität“, die den von den darwinistischen Theoremen vermeintlich ‚erniedrigten‘ Menschen ungemein aufwertet, da sie in ihm „den Besitzer natürlicher Rechte, den Träger einer natürlichen FreiheitFreiheit sieht, nicht den Stoff, die Ware, um die gefeilscht und gemarktet wird“.10

      Dies sind die zwei widersprüchlichen Voraussetzungen der naturalistischen Literatur: einerseits das Wissen um die Bedrohung, ja die wissenschaftliche Infragestellung der Menschenwürde durch die DeterminismuslehreDeterminismus, andererseits der Vorsatz, die Idee innerhalb der Literatur zu verteidigen, ja mit literarischen Mitteln zu reformulieren. Die KunstKunst, Künstler müsse deshalb „rein menschlichen Ursprungs“11 sein, fordert etwa ConradConrad, Michael Georg AlbertiAlberti, Conrad. Die fünfte der auf Eugen WolffWolff, Eugen zurückgehenden Thesen der freien litterarischen Vereinigung „Durch!“ besagt:

      Die moderne Dichtung soll den Menschen mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit zeichnen, ohne dabei die durch das Kunstwerk sich selbst gezogene Grenze zu überschreiten, vielmehr um durch die Grösse der Naturwahrheit die ästhetische Wirkung zu erhöhen.12

      Dem naturalistischen Dichter erschließen sich Themen, die einem traditionellen Kunstverständnis als tabuisiert oder nicht kunstfähig galten, da es, so AlbertiAlberti, Conrad, in der Natur „kein[en] Winkel, kein[en] Fleck, kein Geschöpf, kein[en] Vorgang […], der nicht der künstlerischenKunst, Künstler Verkörperung würdig und fähig werde“, gibt.13 Um den Menschen dem Ziel der HumanitätHumanität näher zu bringen, darf, ja, muss sich die Literatur also auch mit dem vermeintlich Würdelosen befassen. Menschenwürde rückt in die Nähe des Begriffs Menschlichkeit; die Aufmerksamkeit gilt insbesondere den Bedingungen der Möglichkeit von Menschlichkeit und Menschenwürde.

      V.1.2. Exkurs: Menschenwürde und MitleidMitleid in der Philosophie Arthur SchopenhauersSchopenhauer, Arthur

      Ende des 19. Jahrhunderts gilt der Mensch als ein von verschiedenen, wissenschaftlich beschreibbaren Faktoren determiniertesDetermination Wesen. Dass der Mensch nur bedingt frei und autonomAutonomie handlungsfähig ist, hatte bereits einige Jahrzehnte zuvor Arthur SchopenhauerSchopenhauer, Arthur gelehrt.1 Schopenhauer formuliert zudem scharfe Kritik am Begriff der Menschenwürde – und stellt der Menschenwürde das MitleidMitleid als Grundlage seiner Ethik entgegen.2

      SchopenhauerSchopenhauer, Arthur stört sich zum einen an der Formulierung „Würde des Menschen“, die aufgrund ihrer strahlenden Aura die inhaltliche Schärfe und die theoretisch-systematische Verwendbarkeit zu verlieren und inhaltsleer zu werden droht:

      Allein dieser Ausdruck ‚Würde des Menschen‘, einmal von KantKant, Immanuel ausgesprochen, wurde nachher das Schibboleth aller rat- und gedankenlosen Moralisten, die ihren Mangel an einer wirklichen oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der MoralMoral, Moralität hinter jenen imponierenden Ausdruck ‚Würde des Menschen‘ versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angethan sehn und demnach damit zufrieden gestellt seyn würde.3 (Herv. i.O.)

      Zum anderen lehnt SchopenhauerSchopenhauer, Arthur KantsKant, Immanuel Bestimmungen der Menschenwürde als absoluter Wert, der dem Menschen eignet, und als moralische FreiheitFreiheit des Menschen ab.4 Schopenhauers Welt- und Menschenbild ist streng deterministisch. Grundprinzip der Welt und allen Lebens, auch des menschlichen, ist der ‚WilleWille, freier Wille‘; den Äußerungen des Willens, etwa Trieben, Affekten, Entwicklungsgesetzen oder Instinkten, ist der Mensch ausgeliefert. Somit kann er auch nicht vollkommen frei und autonomAutonomie handeln; zwar ist er im Stande, dank seiner VernunftfähigkeitVernunft, die ihn nach wie vor vor dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung auszeichnet,5 die Motive seiner Handlungen zu reflektieren, doch die Motive selbst bleiben durch den Willen determiniertDetermination.6

      SchopenhauersSchopenhauer, Arthur Sicht auf den Menschen ist zutiefst pessimistisch. Das menschliche Leben ist beherrscht durch allgegenwärtiges, sinnloses Leid, Unglück, Egoismus und Boshaftigkeit. Der Mensch ist eine fast schon erbärmliche Kreatur – was die Vorstellung einer besonderen Menschenwürde als absurd entlarvt: „[Mir scheint] der Begriff der Würde auf ein am Willen so sündliches, am Geiste so beschränktes, am KörperKörper so verletzbares und hinfälliges Wesen, wie der Mensch ist, nur ironisch anwendbar zu sein“.7 Der Mensch darf deshalb nicht an einem normativen Menschenwürdebegriff gemessen und aufgrund moralischer oder intellektueller Defizite verurteilt werden. Vielmehr fordert Schopenhauer die Besinnung auf das, was allen Menschen gemein ist – das Leiden:

      [M]an fasse allein seine [i.e. des Menschen; MG] Leiden, seine Not, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge – da wird man sich stets mit ihm verwandt fühlen, mit ihm sympathisieren und statt Haß oder Verachtung jenes MitleidMitleid mit ihm empfinden, welches allein die ἀγάπη [Liebe] ist, zu der das Evangelium aufruft. Um keinen Haß, keine Verachtung gegen ihn aufkommen zu lassen, ist wahrlich nicht die Aufsuchung seiner angeblichen ‚Würde‘, sondern umgekehrt der Standpunkt des Mitleids der allein geeignete.8

      Im Leiden sind alle Menschen gleich, nicht aufgrund ihrer vermeintlichen Würde; umgekehrt bedeutet dies, dass allein Mitleidfähigkeit und Menschlichkeit, d.h. die Disposition, die Mitmenschen zu lieben und ihnen zu helfen, Gründe moralischen Handelns sein können. Als schwer fass- und erklärbare Lebenseinstellung des Einzelnen figuriert das MitleidMitleid als utopisches Moment des Menschlichen.9

      Sowohl die in den naturalistischen Programmen formulierte Einsicht in die DeterminationDetermination des Menschen als auch die keinesfalls als Widerspruch dazu verstandene Forderung nach Menschlichkeit, nach HumanitätHumanität sind somit in SchopenhauersSchopenhauer, Arthur Philosophie vorgeprägt.

      V.1.3. Arno HolzHolz, Arno’ kunsttheoretische Schriften

      Die poetologischen Ausführungen Arno HolzHolz, Arno’ bestätigen die bisherigen Befunde. Die Einsicht in die „durchgängige Gesetzmäßigkeit alles Geschehens“, also auch in die DeterminiertheitDetermination des Menschen, stellt für ihn die wichtigste Errungenschaft der Menschheit dar.1 Diese Erkenntnis erlaubt es den Wissenschaften und der Literatur, die Welt, allen voran den Menschen und sein Verhalten, nach den Gesetzen der Empirie zu untersuchen. Nur so kann jenen Faktoren, die die Würde des Menschen bedrohen, entgegengewirkt, ja ein Aufschwung zu wahrer Würde vorbereitet werden:

      Erst durch sie [i.e. durch die Erkenntnis der allgemeinen Gesetzmäßigkeit; MG] haben wir jetzt endlich gegründete Hoffnung, durch Arbeit und Selbstzucht, vertrauend auf nichts anderes mehr, als nur noch auf die eigene Kraft, die es immer wieder und wieder zu stählen gilt, dermaleinst das zu werden, was zu sein wir uns vorderhand wohl noch nicht recht einreden dürfen, nämlich: „Menschen!“2

      Die Ergebnisse der Soziologie machen Verhalten, Wesen und Entwicklung des Menschen und der menschlichen GesellschaftGesellschaft nachvollziehbar und ergründbar:

      [E]s ist ihr Wollen [i.e. der Soziologie; MG], die Menschheit, durch die Erforschung der Gesetzmäßigkeit der sie bildenden Elemente genau in dem selben Maße, in dem diese ihr gelingt, aus einer Sklavin ihrer selbst, zu einer Herrscherin ihrer selbst zu machen.3

      Die naturalistische Literatur legitimiert sich,