zu leisten.10
I.2. Exkurs I: Die Menschenwürde in den moralischen Wochenschriften der Aufklärung
Anders als GottschedsGottsched, Johann Christoph Reden thematisieren die moralischen Wochenschriften der Aufklärung auch explizit die „Würde des Menschen“; die inhaltlichen Überschneidungen sind deutlich.1 Beispielhaft illustriert das 5. Stück des Leipziger Zuschauers (1759) diese Vorstellung von Menschenwürde. Der Grundtenor ähnelt dem der Reden: Der Mensch soll gegenüber jenen verteidigt werden, die „die Wuͤrde des Menschen, und seine erhabne Bestimmung“2 verkennen und seine Schwächen und Laster hervorheben. An die „Sittenlehrer“ ergeht die Aufforderung,
die menschliche Natur in ihrer Wuͤrde zu zeigen, […] ihren Muth anzufeuern, die ebnen Wege der TugendTugend zu gehn, ihnen die Bewegungsgruͤnde zum Guten aus dem Verhaͤltniß, in welchem der Mensch mit seinem Schoͤpfer steht, so dringend vorzustellen, daß das Uebergewicht seiner Neigung auf die Seite der Tugend ausschluͤge.3
Menschenwürde wird jedoch, und hier besteht ein gewichtiger Unterschied zu GottschedGottsched, Johann Christoph, ganz explizit sowohl als „angeborne[]“ Qualität als auch Auftrag an den Einzelnen konzeptualisiert: Der Mensch ist Gottes EbenbildGottebenbildlichkeit, doch wenn er „seine Wuͤrde verkennt“, gereicht ihm dies zur „Schande“.4 Der „tugendhafteTugend“ Mensch nähert sich dem „Engel“ an, der „lasterhafte“ dem „Thier“.5 Ziel des Menschen muss es sein, „GottGott, die Tugend, und den unschaͤtzbaren Werth seiner Seele kennen [zu] lern[en]“.6 Auch hier ist Würde letztlich heteronom definiert; der Mensch ist zwar ein würdevolles Wesen, riskiert aber, diesen Status zu verlieren, wenn er sein Potential nicht ausschöpft und die Tugend verfehlt. Der Leipziger Zuschauer verbindet nun den menschlichen Auftrag zur VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung mit den Wirkmöglichkeiten der Literatur; nicht nur die „Sittenlehrer“ sind in der Pflicht, den Menschen an seine Würde zu erinnern, sondern auch die Dichter.7
I.3. Exkurs II: Die Ständeklausel – kontingente Würde als problematische Voraussetzung für Tragödienfähigkeit
In seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst stellt GottschedGottsched, Johann Christoph unmissverständlich klar, wie der HeldHeld einer Tragödie (im Gegensatz zur Komödie) gestaltet werden muss. Um seinen moralischen Lehrsatz zu illustrieren, „sucht [der Dichter] in der Historie […] beruͤhmte Leute“, die dafür geeignet scheinen, „und von diesen entlehnet er die Namen, fuͤr die Personen seiner Fabel, um derselben also ein Ansehen zu geben“ (AW VI/2, 317). Es sind die „Großen dieser Welt“ (AW VI/2, 312), an deren Schicksal Gottscheds Wirkintention gekoppelt ist. Der Held der Tragödie muss einen hohen sozialen Status haben und moralisch vorbildlich sein; trotzdem muss er auch ein mittlerer Held sein, d.h. gemäß des hamartia-Modells des Aristoteles einen charakterlichen Fehler haben, der sein Scheitern erklärt, rechtfertigt und somit die erhoffte Reflexion beim Publikum in Gang setzt.1 Im Hinblick auf die Würdeproblematik formuliert: Kontingente Formen der Würde (soziale Würde, Ansehen, Annäherung an ein TugendidealTugend) werden zur wirkästhetischen Voraussetzung der Tragödie. Die Würde (sowohl die soziale als auch die sittliche) des Protagonisten muss bewundert, sein Scheitern betrauert werden, damit der Zuschauer, nachdem er aus dem beklagten Scheitern die richtigen Schlüsse gezogen hat, zur Nachahmung angeregt wird. Doch dies führt zu einem Widerspruch: Kontingente Würde ist auf der einen Seite Bedingung für die Tragödienfähigkeit eines Charakters, was durch Berufung auf tradierte Regeln legitimiert wird; auf der anderen Seite ist das Ziel des Aufklärers die Förderung und Verankerung eines für alle Menschen geltenden Norm- und Tugendsystems.2 Durch diesen Widerspruch entsteht eine logische Spannung, die der Dichter ästhetisch bewältigen muss.3
I.4. Sterbender Cato
GottschedsGottsched, Johann Christoph zunächst erfolgreiche und wirkmächtige Tragödie Sterbender Cato wird heute meist mit Skepsis betrachtet. Die Forschung prangert die kühle Regelhaftigkeit des vermeintlich unoriginellen Dramas an und weist auf konzeptionelle Schwächen in der Figurenzeichnung hin.1 Gottscheds in der Vorrede formulierte Wirkabsicht, Bewunderung und zugleich „MitleidenMitleid“, „Schrecken und Erstaunen“ zu wecken,2 gehe vollkommen fehl.
Tatsächlich liegen dieser Wirkabsicht unterschiedliche Aspekte des Gottschedschen Menschenwürdebegriffs zugrunde, die unauflösliche Widersprüche zur Folge haben. Die unterschiedlichen Auslegungen der Menschenwürde spitzen sich in der Bewertung des Freitods Catos zu; die Art der Inszenierung des SuizidsSuizid an sich bringt schließlich eine zusätzliche darstellungs- und rezeptionsästhetische Dimension der Menschenwürde ins Spiel. Die Herausforderung des Sterbenden Cato ist demnach die Explikation der Grundspannung des Dramas, die sich aus folgenden Faktoren ergibt: der vermeintlich vorbildlichen TugendhaftigkeitTugend des Protagonisten, dem eindeutig als Fehlhandlung verstandenen Suizid, der genauen Bestimmung des tragischen Fehlers des HeldenHeld sowie der von der historischen Überlieferung merklich abweichenden Darstellung des Selbstmordes.
I.4.1. Catos Handeln als Beweis und Garant seiner Menschenwürde
Damit Cato außerfiktional zum bewundernswerten und somit letztlich zum „mitleidswürdig[en]Mitleid“ (SC 112) HeldenHeld der Tragödie werden kann, muss sein Handeln innerfiktional so geschildert werden, dass er tugendhaftTugend und würdig erscheint, und zwar nicht nur im Sinne des Stoizismus (bei aller Kritik GottschedsGottsched, Johann Christoph an dieser Doktrin), sondern auch und vor allem im Sinne des bereits umrissenen frühaufklärerischen Menschenbildes.1 Deshalb muss der SuizidSuizid, an dessen Illegitimität für Gottsched keine Zweifel bestehen,2 zumindest als Folge einer nachvollziehbar positiv besetzten Eigenschaft inszeniert werden. Dies soll dadurch gelingen, dass Cato als standhafter, seine Affekte reflektierender und überwindender Charakter gezeichnet wird, der autonomAutonomie entscheidet und handelt. Arsene/Portia dient in dieser Hinsicht als Spiegelfigur, die gleichzeitig als vorsichtiges Korrektiv angelegt ist.
In Szene I,4, in der Cato und sein Diener Phocas die Enthüllung der wahren IdentitätIdentität Arsenes diskutieren, wird das, was Cato als bewundernswerte Figur, die menschenwürdig handelt, auszeichnen soll, besonders augenfällig. Die Nachricht, dass seine totgeglaubte Tochter Portia lebt, jedoch als Königin der Parther seinem republikanischen Ideal zutiefst widerspricht, ruft heftigste Emotionen hervor: „Wie? Soll mein eigen Blut mir Brust und Herz zerreißen?“ (SC 28, V. 209). Vaterliebe und politische Gesinnung konfligieren: „Mein Blut erlaubt es zwar“, Portia zu lieben, „doch Rom“, und das heißt: seine tiefsten politisch-moralischen Überzeugungen, „verbeut es allen!“ (SC 28, V. 218). Dass Cato seinen Überzeugungen den Vorrang vor jeder affektiven Regung gibt, wird noch deutlicher, als er die Versuchung, mit Hilfe der Königin Portia Cäsar zu bekämpfen, ablehnt. „Was recht und billig ist, sonst rührt mich nichts auf Erden!“ (SC 29, V. 246) – der Zweck heiligt also keineswegs die Mittel, denn: „[…] wer die TugendTugend liebt, geht lieber selbst darauf“ (SC 29, V. 248). Cato legt seinem Handeln und seinem Entscheiden eine strenge sittliche Maxime zugrunde, die zu diesem Zeitpunkt durchaus bewundernswert erscheint, gleichzeitig aber proleptisch auf seinen Tod verweist – ein Signal, dass seine standhafte Tugendhaftigkeit später zu problematisieren sein wird. Noch aussagekräftiger ist Catos Reaktion auf Phocasʼ Vorschlag, die Götter durch ein Opfer um Rat zu fragen. „Die Götter fehlen nie“, so Phocas (SC 29, V. 254), doch Cato lehnt es ab, in „toten Opfertieren / Des GottesGott, der mich treibt, Befehl und Willen [zu] spüren“ (SC 30, V. 261–262). Dieser GottGott habe ihm
[…] doch damals schon, eh ich das Licht erblickt,
Den Trieb zur Billigkeit in Herz und Sinn gedrückt.
Der lenkt ohn Unterlaß mein Tichten und mein Trachten
Und treibt mich, lebenslang die TugendTugend hoch zu achten,
Dem Laster feind zu sein, so mächtig es auch ist;
Gesetzt, daß ich dabei zugrunde gehen müßt!
Der lehrt mich, Rom sei nur zur FreiheitFreiheit auserkoren
Und