und literaturtheoretischen Implikationen der Menschenwürde im Vordergrund – unter Berücksichtigung der wichtigsten Forschungsliteratur und mit kurzen Blicken auf die wichtigsten Primärtexte.
II.2. Die Menschenwürde im 18. Jahrhundert zwischen Philosophie, Anthropologie und Literatur
Im Jahr 1809 erscheint das Lexem „Menschenwürde“ erstmals in einem deutschen Wörterbuch. In Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der Deutschen Sprache wird es definiert als „die Würde des Menschen als eines vernünftigen über alle Erdgeschöpfe erhabenen Wesens; besonders die sittliche Würde des Menschen“. Auch die Belege im Grimmschen Wörterbuch lassen auf eine erste Blüte des Begriffs um 1800 schließen.1 In den Jahrzehnten davor – literaturgeschichtlich gesprochen: im Zeitalter der Aufklärung, der Empfindsamkeit, des Sturm und Drang, schließlich der Weimarer Klassik – war der Menschenwürdediskurs demnach virulent, auch wenn das Wort selbst nicht unbedingt explizit im Zentrum stand. Dieser Diskurs war nicht zuletzt ein literarischer, ästhetischer.
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Begreift man die Aufklärung nicht einseitig als Zeitalter eines strengen Vernunftoptimismus, sondern als eines, das von grundlegenden Spannungen geprägt ist (RationalismusRationalismus vs. Empirismus, Vernunftideal vs. radikale ‚Rehabilitation der SinnlichkeitSinnlichkeit‘, Intellektualisierung vs. Naturalisierung des Menschen, Normativität vs. Kausalität, Sollen vs. Sein),2 ergeben sich für die Auseinandersetzung mit der Vorstellung der Menschenwürde – und v.a. mit ihrer Beziehung zur Literatur – aufschlussreiche Perspektiven. In einer Epoche, die dezidiert den Menschen ins Zentrum des philosophischen wie literarischen Interesses stellt, befindet sich dieser in einer merkwürdig ambivalenten Stellung: Wird er einerseits als Vernunftwesen emphatisch über die Natur erhoben und aus den Fesseln der religiösen Orthodoxie und der staatlichen wie gesellschaftlichen Bevormundung emanzipiert, droht ihm andererseits die Erniedrigung zu einem von rein triebhaften Zwängen bestimmten Naturwesen.
Die geistesgeschichtliche Stellung und die Wirkmächtigkeit des Menschenwürdebegriffs in der Aufklärung lassen sich anhand von drei Beobachtungen bestimmen. Zunächst verliert die primär theologische Begründung der Menschenwürde zunehmend an Bedeutung. Das Theologem der GottebenbildlichkeitGottebenbildlichkeit des Menschen sowie die daran gekoppelte Lehre von der Erbsünde, die die Sündhaftigkeit und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen erklärt, sind für die Vorstellung einer besonderen Menschenwürde nicht mehr entscheidend.3 Weiterhin spielt die Menschenwürde in den Werken der großen europäischen Aufklärer überraschenderweise eine eher untergeordnete oder vielmehr implizite Rolle.4 Ausnahmen bilden die Naturrechtslehre des Frühaufklärers und Juristen Samuel Pufendorf und die Moralphilosophie Immanuel KantsKant, Immanuel. Kants Würdeverständnis prägt den Würdediskurs der folgenden Jahrhunderte, markiert ideengeschichtlich betrachtet aber eher einen Kulminationspunkt der aufklärerischen Philosophie am Übergang zum Idealismus.5 Schließlich hat der Begriff der Menschenwürde im 18. Jahrhundert, und diese These ist für die weiteren Ausführungen entscheidend, eine doppelte Stoßrichtung: Er bezeichnet sowohl ein Wesensmerkmal des einzelnen Menschen als auch einen Gestaltungsauftrag für das IndividuumIndividuum und das gesamte Menschengeschlecht.6
Die kosmische Sonderstellung des Menschen wird im 17. und im 18. Jahrhundert nicht mehr durch den Verweis auf seinen göttlichen Schöpfer garantiert; auf der anderen Seite erscheint der Mensch im Lichte naturwissenschaftlicher Erkenntnisse als Teil der Natur, mithin als den Naturnotwendigkeiten vollkommen unterworfen. Die Berufung auf die VernunftVernunft erlaubt es nun, diese beiden ‚Angriffe‘ auf die Würde des Menschen abzuwehren, indem sie aus ihm ein autonomesAutonomie, nicht determiniertesDetermination Wesen macht – was für die Moralphilosophie im Besonderen unerlässlich ist. Die vernunftanthropologische Argumentation findet sich etwa in der Naturrechtsphilosophie Pufendorfs. Würde hat der Mensch als rationales Wesen; gleichzeitig ist sie an das Befolgen der Prinzipien von MoralMoral, Moralität und Naturrecht gekoppelt. Jeder Mensch besitzt Würde; hieraus ergibt sich die Gleichheit aller Menschen, aber auch die Verpflichtung zu gegenseitiger AchtungAchtung und zu sozialem Handeln.7 Auch für Christian WolffWolff, Christian, den für die Popularisierung aufklärerischen Gedankenguts bedeutendsten deutschen Philosophen vor 1750, besitzen alle Menschen als von GottGott als Gleiche erschaffene vernünftige Wesen Würde. Zudem ist Würde aber ein zu erreichendes Ziel des sich stets perfektionierenden Menschen;8 Wolff glaubt wie GottschedGottsched, Johann Christoph an die Unfehlbarkeit der Vernunft, die die VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung des Menschen – seines Wissens, seiner TugendTugend, seiner Glückseligkeit – garantieren soll.9 Im Zuge der Säkularisierung der philosophischen Argumentationsverfahren10 verschiebt sich auch der Fokus des Menschenwürdebegriffs hin zu einer immer stärkeren Betonung der Aspekte Moral, Autonomie und FreiheitFreiheit. Paradigmatisch heißt es in der moralischen Wochenschrift Der Mensch: „Ein vernuͤnftiger Mensch muß als freyes Wesen die Tugend ausuͤben.“11 Christian Fürchtegott Gellert definiert 1767 die „Tugend“ gar als „die wahre Würde“.12 Systematischen Charakter bekommt die Verbindung von Würde, Freiheit und Moral in der Philosophie KantsKant, Immanuel, der versucht, eine unabhängig von der Anerkennung der Naturgesetze gültige und verbindliche Sittenlehre zu entwerfen.13 Sein Menschenbild ist streng dualistisch: Als Sinneswesen und selbst als vernünftiges Wesen (homo phaenomenon) ist der Mensch Teil des Systems Natur, verhaftet in seiner Tierhaftigkeit. Als geistiges Vernunftwesen (homo noumenon) jedoch besitzt der Mensch Personalität, ist Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft und nicht von sinnlichenSinnlichkeit Reizen und Trieben determiniert. Das Vernunftwesen Mensch besitzt die Fähigkeit, sich selbst die moralischen (kategorischen) Imperative aufzuerlegen, an dem es sein vernünftiges – und das heißt: sittlich richtiges – Handeln ausrichtet; es handelt autonom (selbstbestimmt) sittlich. Die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung begründet die Würde des Menschen; diese ist ein absoluter, unverlierbarer innerer Wert, der von anderen, aber auch in der eigenen Person geachtet werden muss. Würde ist somit ein subjektives und objektives moralisches Prinzip; sie ist Grund für das eigene sittliche Handeln und stellt ein Verhaltensideal gegenüber Mitmenschen dar.14
Die Menschenwürde hat im Jahrhundert der Aufklärung demnach einen Status begrifflicher Ambivalenz: Sie wird sowohl als inhärente Qualität des Menschen,15 die dem Menschen als Menschen zukommt, als auch als kontingente Eigenschaft, als normatives Ideal, verstanden.
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Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts gewinnt eine philosophische und akademische Disziplin an Bedeutung, die einen vollkommen anderen Blick auf den Menschen und seine Würde wirft: die Anthropologie.16 Ihr Ausgangspunkt ist die Doppelnatur des Menschen, doch betrachtet sie diese nicht im Sinne des wirkmächtig von René DescartesDescartes, René entworfenen, streng zwischen KörperKörper und Seele/Geist differenzierenden dualistischen Menschenbildes,17 das letztlich die Vormachtstellung des Geistes gegenüber dem Körper sichern soll, sondern sie bemüht sich um eine angemessene Würdigung des Menschen in seiner durchaus spannungsvollen Gesamtheit. Programmatisch formuliert diese Lehre vom ‚ganzen Menschen‘ – eine Wendung, die sowohl bei SchillerSchiller, Friedrich als auch bei GoetheGoethe, Johann Wolfgang belegt und auch in der Forschung zum Schlagwort geworden ist18 – 1772 der ‚philosophische Arzt‘ Ernst Platner.19 Schillers medizinische Dissertation aus dem Jahr 1780 (Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen [NA 20, 37–75]) wird von einem ähnlichen Impetus getragen.20
Diese anthropologische Sicht auf den Menschen bewirkt nicht nur eine radikale Aufwertung des KörpersKörper und der SinnlichkeitSinnlichkeit – auch und besonders als Erkenntnisvermögen, wie bereits in der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens21 –, sondern auch eine Hinwendung zum „Anderen der VernunftVernunft“, d.h. zu all jenem, was die einseitige Betonung der Vernunft als unvernünftig ausschließt und verdrängt.22 Diese Neubestimmung des Menschen, seines Wesens und seiner Grenzen23 – ein Ansatz, von dem sich KantKant, Immanuel übrigens scharf distanziert24 – hat Folgen für die Vorstellung der Menschenwürde:
Wiewohl seit je um die Bestimmung der ‚Sonderstellung‘ des Menschen im KosmosKosmos, der ‚dignitas hominis‘, bemüht, sind Anthropologie und anthropologisches Denken […] dadurch gekennzeichnet, daß sie diese Würde des Menschen nicht um den Preis