Max Graff

Literarische Dimensionen der Menschenwürde


Скачать книгу

weiteres einflussreiches Menschenwürdeparadigma. Auch dieses impliziert jedoch eine Ziel- oder Idealvorstellung: die harmonische Vereinigung aller Kräfte und Vermögen des Menschen, wie sie HerderHerder, Johann Gottfried oder SchillerSchiller, Friedrich vorschwebt.

      *

      Nun stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Menschenwürde zu einem Schlüsselbegriff des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts: dem für die Literatur der Weimarer Klassik entscheidenden Begriff der HumanitätHumanität. Dieser hat besonders im Werk Johann Gottfried HerdersHerder, Johann Gottfried eine überragende Bedeutung:26 Humanität beschreibt sowohl das Wesen der Mittelgattung Mensch zwischen „Angelität“ und „Brutalität“ als auch das geschichtliche Entwicklungsziel des Menschen – und offenbart die gleiche Ambivalenz wie die Menschenwürde.27 Explizit verbindet Herder sogar die Begriffe Humanität und Menschenwürde, jedoch in unterschiedlicher Akzentuierung. Einerseits ist Humanität der „Zweck der Menschen-Natur“; daher kann Herder die „ganze Geschichte der Völker“ als „Schule des Wettlaufs zu [sic] Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde“ betrachten.28 Humanität und Menschenwürde (wie auch „VernunftVernunft und Billigkeit“29) erscheinen hier als fast synonyme Umschreibungen eines teleologischen Endpunkts. Später definiert Herder andererseits „Menschheit, Menschlichkeit, MenschenrechteMenschenrechte, Menschenpflichten, Menschenwürde, Menschenliebe“ als „Teilbegriffe“ des „Wort[s] Humanität“.30 In Bezug auf den menschlichen Ist-Zustand ist Herders Diagnose niederschmetternd: „Das Menschengeschlecht, wie es jetzt ist und wahrscheinlich lange noch sein wird, hat seinem größesten Teil nach keine Würde; man darf es eher bemitleidenMitleid als verehren. Es soll aber zum Charakter seines Geschlechts, mithin auch zu dessen Wert und Würde gebildet werden.“31 Menschenwürde ist – wie ihr Oberbegriff Humanität – in dieser Hinsicht eine zu fördernde und herauszubildende Anlage des Menschen. Wenn die Menschenwürde derart deutlich in den Dunstkreis des Humanitätsbegriffs tritt, sich sogar mit ihm überschneiden kann, erweitert sich auch ihr Bedeutungsinhalt: Neben den bereits genannten sowie traditionellen Begriffskomponenten wie Vernunft, FreiheitFreiheit und TugendTugend können Aspekte wie Toleranz, Glückseligkeit, Bildung, Kultur, Wahrheit, Schönheit und sogar Religion hinzukommen.32

      Das Ideal, das am Ende der menschlichen Entwicklung steht, ist jenes der neuen Anthropologie: der ganzheitliche Mensch, der selbstbestimmt die unterschiedlichen in ihm wirkenden Vermögen auf harmonische Weise synthetisiert.33 HerderHerder, Johann Gottfried steht insofern prototypisch für das Denken der deutschen (Spät-)Aufklärung, als er die Auseinandersetzung mit dem Menschen auf den Prozess der Humanisierung – im vorliegenden Kontext könnte man präzisieren: des Aufstiegs zu wahrer und vollkommener Menschenwürde – fokussiert.34 Diese begreift Herder als Bildungsprozess, bei dem gerade die Auseinandersetzung mit den „schöne[n] Wissenschaften“ – „Sprachen und Poesie, Rhetorik und Geschichte“ sowie Philosophie – dazu beitragen soll, sich dem „Gefühl der Menschlichkeit“, dem „Sinn der Menschheit“ zu nähern.35

      *

      Das Nachdenken über die Menschenwürde hat im 18. Jahrhundert auch weitreichende politische und soziale Konsequenzen. Aus der menschlichen VernunftfähigkeitVernunft und dem Vermögen zur SelbstbestimmungSelbstbestimmung wird nun das Recht auf Selbstbestimmung, Selbstgestaltung und Selbstzweckhaftigkeit des einzelnen Menschen abgeleitet. Das IndividuumIndividuum und sein absoluter Wert, unabhängig von Kontingenzen wie Stand, Herkunft oder Ehre, werden als relevante Größen politischen Handelns und gesellschaftlichen Gestaltens eingefordert und in der Idee allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte 1789 in Frankreich kodifiziert. Vor allem aber ist die Menschenwürde in dieser Hinsicht ein genuin bürgerlicher Begriff, der sowohl emanzipatorische (gegenüber dem Adel) als auch abgrenzende (gegenüber den unteren sozialen Schichten) Funktion hat36 – und insofern aus heutiger Sicht nicht unproblematisch ist, als er auf diese Weise die Idee einer allen Menschen als inhärente Qualität eignenden Würde konterkariert.37

      Gleichwohl werden Menschenwürde und MenschenrechteMenschenrechte Schlagworte in der publizistisch-literarischen Auseinandersetzung mit der französischen Revolution, ihren Motiven und Folgen, etwa bei Johann Heinrich VoßVoß, Johann Heinrich. Schon als er sich um den Posten des badischen Hofpoeten bewirbt, avisiert er, seine literarische Tätigkeit in den Dienst der Menschenwürde der sozial Benachteiligten zu stellen, indem er „dem verachteten Landmann feinere Begriffe und ein regeres Gefühl seiner Würde beizubringen“ beabsichtige.38 In seinem Gesang der Deutschen beschwört er einen revolutionären Umsturz in Deutschland – mit einschlägigen Vokabeln: „Der Wild […] / Wird Mensch“, die „VernunftVernunft, durch Willkür erst befehdet“, „redet / von Menschenrecht, von Bürgerbund“. Der Begriff der Würde wird neu definiert: „Nur TugendTugend, nicht Geburt, gibt Würde“ – dann kann das „Volk“ „[v]eredelt“ zur „FreiheitFreiheit“ aufsteigen.39 Würde wird somit abgekoppelt von der sozialen Stellung, bleibt allerdings kontingent, ist doch auch die Tugend als Grund der Würde ein heteronomes Ideal.40

      Im „4ten Jahr der Frankenrepublik“ erscheinen ohne Ortsangabe die Poetische[n] Sammlungen zur Erweckung des Gefhls fr Menschenwrde, eine Zusammenstellung deutschsprachiger lyrischer Texte und Fabeln.41 In seiner Vorrede gibt der anonyme Herausgeber an, die Texte wollten für die „unterdruͤckte Menschenwuͤrde“ werben. Zwar preist er die Demokratie als die der „hohe[n] Wuͤrde der Menschheit“ angemessenste Staatsform; als Aufruf zum Aufruhr will er seine Sammlung jedoch nicht verstanden wissen. Vielmehr dienen die Texte als „redender Beweis“, dass die Ideale der französischen Revolution – „Gleichheit, Freyheit, Haß gegen gekroͤnte und ungekroͤnte Tyrannen“, MenschenrechteMenschenrechte und Menschenwürde – bestimmende Themen und Anliegen der deutschen Literatur, auch vor der Revolution, waren und sind.42

      *

      Die Spannung, die durch den doppelten Impetus des Menschenwürdebegriffs am Ende des 18. Jahrhunderts (Wesenszug und Ideal, Eigenschaft und Zielvorstellung) entsteht, macht ihn für die Literatur in Theorie und Praxis besonders attraktiv und fruchtbar. Der Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Literatur eröffnet nun drei grundsätzliche Perspektiven:

      1. Literatur fungiert nicht nur als Spiegelmedium, in dem sich zeittypische Diskurse niederschlagen – anders formuliert: Die Literatur der Aufklärung thematisiert nicht nur die Menschenwürde, ihre Bedingungen und Grenzen. Vielmehr versteht sie sich auch als Mittel, den Menschen zu bessern, ja zu vervollkommnenPerfektibilität, Vervollkommnung, und das heißt: ihn durch die genuin ästhetischen Potentiale der Literatur43 dem Ideal der wahren Menschenwürde anzunähern. Dies führt speziell in der Weimarer Klassik zu regelrechten literarischen Bildungsprogrammen und zu SchillersSchiller, Friedrich ästhetischer Theorie, die die Menschenwürde explizit ins Zentrum stellt. Die Literatur als gesellschaftliche Kraft, gleichsam als Institution, erfährt durch ihren Auftrag, die Menschenwürde als Ziel des Menschengeschlechts zu fördern, eine ungeheure Aufwertung.44

      2. Diese hehren Ziele bergen die Gefahr eines verengten, normativ höchst aufgeladenen Literaturverständnisses, das bestimmte Themen, Lebens- und Erfahrungsbereiche, aber auch Darstellungsweisen als unwürdig ausschließt – unwürdig in einem doppelten Sinne, nämlich die Würde des Menschen verletzend und deshalb der künstlerischenKunst, Künstler Darstellung nicht würdig. Die Menschenwürde droht so im literarischen Diskurs und in der Literaturkritik zu einer Art Totschlagargument zu werden, das dazu dient, ein bestimmtes Bild von Literatur zu konservieren.45

      3. Diametral steht dem die sog. „literarische Anthropologie“ entgegen.46 Aus ihrer Sicht ist Literatur „der Diskurs des Anderen der VernunftVernunft“,47 neben der philosophischen oder medizinischen Anthropologie also ein eigenes anthropologisches Medium, das den Menschen in seiner Gesamtheit anspricht, darstellt und untersucht, gerade auch das vermeintlich Unwürdige und Grenzwertige als Erkenntnisfelder mit eigener Berechtigung betrachtet und so dem Wissen um den Menschen und das Menschliche dient. Dies hat zum einen Konsequenzen für die Beschaffenheit der Literatur selbst, etwa durch das Aufkommen neuer Gattungen – (Auto-)Biographie, Fallgeschichte, Roman48 –, zum anderen für die Vorstellung der Menschenwürde. Lehmann hat zu Recht festgestellt,