Max Graff

Literarische Dimensionen der Menschenwürde


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Subjekte, handeln, übrigens unabhängig von ständischen Überlegungen, entsprechen vollständig Lenzʼ Menschenwürdevorstellung14 – die durch die Darstellung in der Tragödie propagiert werden soll. In der Figur des Brutus aus ShakespearesShakespeare, William Julius Caesar erkennt Lenz einen Charakter, der seinen Vorstellungen entspricht, und lobt sie – lakonisch, aber mit bedeutungsschweren Worten: „[W]em die Würde menschlicher Natur nicht dabei im Busen aufschwellt und ihm den ganzen Umfang des Worts: ‚Mensch‘ – fühlen läßt –“ (LW 2, 665).15 Somit macht Lenz den Zusammenhang zwischen seiner Auffassung des Charakters, der Literatur und der Menschenwürde explizit. Würde und Menschsein bestimmt er dabei gerade nicht als rationalRationalität erschlossene oder erkannte Konzepte, sondern als zu fühlende, betont also ihre ästhetischen Dimensionen. Gleichzeitig legt er besonderen Wert darauf, jede Tendenz zur Idealisierung und zur Typisierung zu delegitimieren. „Genauigkeit und Wahrheit“ (LW 2, 653) sind die obersten Kriterien der Figurenzeichnung; die „Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien“ (LW 2, 661) ist es, die das Genie reizt. Es geht, um einen Erzählerkommentar aus Lenzʼ Zerbin abzuwandeln, nicht primär um die Würde der Gattung, sondern um die Würde der Individuen.16

      Würde und FreiheitFreiheit des IndividuumsIndividuum postuliert LenzLenz, Jakob Michael Reinhold freilich in seiner eigenen Dramenproduktion ex negativo. Seine Dramen Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776) etwa sind keine konventionellen Tragödien; vielmehr entwickelt Lenz in der Praxis eine tendenziell offene Dramenform,17 die es ihm erlaubt, den Blick auf das Individuum – die „Hauptempfindung“ der Tragödie – und auf die „Begebenheiten“ – die „Hauptempfindung“ der Komödie – zu lenken, d.h. jene Umstände, Bedingungen, Verhältnisse und inneren Pathologien, die das freie Handeln in Frage stellen.

      Prägnant formuliert: LenzʼLenz, Jakob Michael Reinhold Werk durchzieht zum einen die Idee, dass die Anerkennung des menschlichen Triebes, seiner SinnlichkeitSinnlichkeit, Körperlichkeit und SexualitätSexualität, Sex die Vorstellung der menschlichen Wesenswürde nicht konterkariert, sondern vielmehr ihre notwendige Korrektur darstellt. Zum anderen inszeniert Lenz das Scheitern des Menschen daran, seiner Würde vollends gerecht zu werden – und aktiviert so das sozialkritische Potential der Literatur, lenkt er doch den Blick auf jene Zwänge und Hindernisse, die die Sublimierung des menschlichen Triebes und somit emanzipiertes, autonomesAutonomie Handeln verhindern.18 Würde ist in diesem Sinne ein Gestaltungsauftrag nicht nur für das IndividuumIndividuum, sondern für die gesamte GesellschaftGesellschaft.19

      II.5. Ästhetische Menschenwürde: Karl Philipp MoritzMoritz, Karl Philipp

      Karl Philipp MoritzʼMoritz, Karl Philipp Beiträge zum Menschenwürdediskurs sind insofern von grundlegender Bedeutung, als der vielseitige, produktive Autor unterschiedliche, mitunter konfligierende Positionen artikuliert und so beispielhaft für die geistes- und literaturgeschichtlichen Strömungen zwischen Aufklärung und Weimarer Klassik und darüber hinaus steht.1

      MoritzʼMoritz, Karl Philipp Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–1793) war die erste deutsche psychologische Zeitschrift. In einer Ankündigung seines Projekts skizziert er das Menschenbild, das das Interesse an den „Krankheiten der Seele“2 rechtfertigt – und verbindet damit auch programmatische Aussagen zur Literatur. Methodisch setzt Moritz bei seinem Unternehmen, das er als ein dezidiert moralisches mit „praktischem Nutzen“ versteht, auf „Beobachtungen und Erfahrungen“ (MW 1, 794) statt auf ein apriorisches System.3 Das IndividuumIndividuum als Objekt der Beobachtung, als Nutznießer der erfahrungsseelenkundlerischen Praxis, aber auch als Subjekt von MoralMoral, Moralität, erhält eine emphatische Aufwertung4 – zunächst unabhängig von normativen Vorstellungen des Menschlichen. Gerade vermeintlich Würdelose wie Verbrecher, Selbstmörder, sozial Benachteiligte, Charakterschwache, Lasterhafte, Verrückte, wie auch immer Beeinträchtigte – d.h. all jene Menschen, die von der ‚Norm‘ abweichen oder menschliche Grenzbereiche und Dysfunktionen verkörpern – rücken in den Fokus der Beobachtung. Auch „Karaktere und Gesinnungen aus vorzüglich guten Romanen und dramatischen Stücken, […] welche ein Beitrag zur innern Geschichte des Menschen sind“, lässt Moritz als Erkenntnisquelle gelten, freilich mit der Einschränkung, dass der „praktische Wert“ von „Beobachtungen aus der wirklichen Welt“ um ein Vielfaches höher sei (MW 1, 796). Tatsächlich formuliert Moritz ein anthropologisches Realismuspostulat;5 den Hang zur Idealisierung des Menschen gerade in der Fiktion kritisiert er als realitätsfern und -verfälschend.6 Vielmehr solle – und dies ist eine Bestimmung von zentraler Bedeutung – „auch den geringsten Individuis“ ihr Wert bewusst gemacht werden (MW 1, 804). Denn obwohl Moritz sowohl in der Natur als Ganzem als auch innerhalb der Menschheit von natürlichen Rangunterschieden ausgeht, ist der Mensch trotz aller „Verschiedenheit“ stets ein würdevolles Wesen: „Der Allerunterste auf der Staffel der Menschheit bliebe doch noch immer ein Meisterstück auf Erden, wenn er der einzige in seiner Art wäre“ (MW 1, 807).7 Diesen „Gedanke[n]“ – nämlich die „Würde“ bzw. den „Wert der Menschheit“ (MW 1, 808 bzw. 809) – bezeichnet Moritz als „versöhn[end]“; er stiftet das „Herz“ zu „Liebe“ an, statt „Haß und Verachtung“ gegenüber menschlichen Pathologien und Deformationen hervorzurufen (MW 1, 808). Zwei Aspekte sind auffällig: Die Würde der Menschheit ist in diesem Text zum einen etwas, das, wie bereits bei HerderHerder, Johann Gottfried und LenzLenz, Jakob Michael Reinhold,8 „[ge]fühl[t]“ (MW 1, 808), mithin sinnlichSinnlichkeit empfunden wird, also ein durchaus ästhetisches Konzept – und nicht (nur) Inhalt philosophischer oder theologischer Überlegungen. Zum anderen erscheint Menschenwürde an dieser Stelle als eine von ethischen Bestimmungen unabhängige Qualität.9

      Das Verhältnis von Erfahrungsseelenkunde und Literatur ist für MoritzMoritz, Karl Philipp klar definiert. Literatur als solche ist nur bedingt geeignet, die Kenntnisse vom Menschen zu erweitern. Gerade deshalb muss sie sich zwingend an der neuen Disziplin orientieren: „[Der] Dichter und Romanenschreiber wird sich genötigt sehn, erst vorher Erfahrungsseelenlehre zu studieren, ehe er sich an eigene Ausarbeitungen wagt“ (MW 1, 798). Diese nicht nur wissenschaftlich-philosophische, sondern indirekt auch literarische Aufwertung des vermeintlich Würdelosen, die bereits bei LenzLenz, Jakob Michael Reinhold vorbereitet ist, weist voraus auf BüchnerBüchner, Georg, der seine Figur Lenz im Kunstgespräch postulieren lässt, dass „einem keiner zu gering“ sein dürfe, aber auch auf den Naturalismus und den Expressionismus10 – jedoch besteht ein entscheidender Unterschied: Das Bestehen auf der Menschenwürde auch des Geringsten bleibt im Endeffekt doch stets untrennbar an das Ziel der VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung der Menschheit als Gattung gekoppelt. Sein Magazin, so Moritz, sei deshalb ein „wichtiges Werk für die Menschheit“, weil durch ein solches Projekt „das menschliche Geschlecht durch sich selber mit sich selber bekannter werden, und sich zu einem höhern Grade der Vollkommenheit empor schwingen könnte“ (MW 1, 797).11 Würde ist demnach noch kein eindeutig absoluter Wert.

      Gleichwohl ist MoritzMoritz, Karl Philipp ein „radikale[r] Anthropozentriker“,12 der mit dem Hinweis auf die Menschenwürde bisweilen scharfe Gesellschaftskritik übt. Explizit problematisiert und missbilligt er etwa die Vorstellung kontingenter sozialer Würde;13 sein reges Interesse gilt den sozial Benachteiligten und den Unterdrückten. Nachdrücklich postuliert Moritz die AutonomieAutonomie und die freie SelbstbestimmungSelbstbestimmung14 des IndividuumsIndividuum als unmittelbar mit der Menschenwürde verbundene Wesenszüge; als EntwürdigungEntwürdigung geißelt er deren Einschränkung oder Negation durch Gesellschaftsordnung und Staat.15

      In seinem moralphilosophischen Essay Das Edelste in der Natur (1786)16 begründet MoritzMoritz, Karl Philipp – freilich ohne den Begriff zu benutzen – die Menschenwürde als (auch) ästhetische Qualität:

      Was gibt es Edleres und Schöneres in der ganzen Natur, als den Geist des Menschen, auf dessen VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung alles übrige unablässig hinarbeitet, und in welchem sich die Natur gleichsam selbst zu übertreffen strebt. (MW 2, 15)

      MoritzʼMoritz, Karl Philipp Bestimmung der Würde des Menschen stützt sich hier gleich auf mehrere Motive: Es ist die ratioVernunft – und nicht der KörperKörper –, die den Menschen aus dem übrigen Naturzusammenhang heraushebt, deren „VervollkommnungPerfektibilität,