ist, insofern sie die Vollendung des Daseins an sich spiegelt, gleichzeitig überhaupt erst Garant für den Gedanken, dass eine solche VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung möglich ist. Mehr noch: Das menschliche Dasein – jenes der Gattung, nicht des einzelnen Menschen, denn MoritzMoritz, Karl Philipp benutzt hier auffälligerweise das Pluralpronomen „wir“ – ist inklusive Zerstörung und Leiden überhaupt erst dadurch gerechtfertigt, dass das autonome (!) Schöne „ist“.33 Durch dieses ontologische Postulat erlangt auch die Menschenwürde ihre Legitimation. Ein Begriff wie Menschenwürde ist erst durch das Schöne, ja im Schönen, in der Kunst denkbar34 – und zwar als genuin ästhetischer, gattungsbezogener, und nicht als realer, individueller Begriff. War Moritzʼ zuvor beschriebener Menschenwürdebegriff insofern ästhetisch, als er Menschenwürde und Schönheit parallelisierte und jene wie diese als zu empfindende, zu fühlende Qualität definierte, kommt es hier zu einer epochalen Verschiebung: Menschenwürde ist ästhetisch, weil die Ästhetik und das Schöne die Bedingungen ihrer Möglichkeit sind.
Statt um die Würde des Menschen geht es MoritzMoritz, Karl Philipp nun um die Würde der Menschheit.35 Man könnte dies eine ästhetisch motivierte, idealisierende Radikalisierung nennen: Moritzʼ früherer Begriff der Selbstzweckhaftigkeit des IndividuumsIndividuum, der trotzdem stets auf die Vollendung der Menschheit an sich bezogen war, wird zu einem durch die KunstKunst, Künstler vermittelten und zu vermittelnden Ideal der Würde der menschlichen Gattung, das vom Individuum abstrahiert und dessen Zerstörung als notwendiges, zu billigendes Übel ansieht.36 Auch wenn die Kunst somit auf jeglichen direkten Nutzen, d.h. wirkästhetische Überlegungen zu Bewegung, Belehrung und Besserung des Rezipienten u.Ä. verzichtet,37 ist ihr Stellenwert als grundlegender anthropologischer Faktor enorm. Moritz vollzieht in der Bildenden Nachahmung, auch in Bezug auf den Menschenwürdebegriff, den Übergang von der aufklärerischen zur klassischen Ästhetik.
Dass MoritzMoritz, Karl Philipp damit einer inhumanen Ästhetik Bahn bricht, die den Wert des IndividuumsIndividuum vollends aufgibt, indem sie gleichsam eine Flucht vor der Realität des Leidens und der MenschenwürdeverletzungMenschenwürdeverletzung in die KunstKunst, Künstler postuliert, die noch dazu jeden unmittelbaren Einfluss auf die soziale Realität und jede außerästhetische Wirkung verweigert,38 wirkt besonders im Hinblick auf seine früheren moralphilosophischen und pädagogischen Schriften überraschend und unbefriedigend. Die Forschung hat diese Deutung bisweilen relativiert: Die „Verklärung des Leidens im Schein“ sei „zugleich Protest“, da das ‚scheinhaft Schöne‘ auf die Missstände in der Wirklichkeit verweise;39 den „inhumanen Grundgedanken seiner Ästhetik“ entschärfe Moritz „wenigstens teilweise“ dadurch, dass sein Vollendungsgedanke nicht den historischen Fortschritt der Menschheit meine, sondern den Fortschritt der unzerstörbaren Geisterwelt;40 das „rigoristische Autonomie-Postulat“ erscheine „als eine emanzipatorische regulative Utopie“, die Moritz – keineswegs eskapistisch, sondern mit dem Impetus des Veränderungswillens – „der schlechten zeitgeschichtlichen Wirklichkeit entgegensetzt“.41 Aus einer solchen Sicht sind es letztlich das Schöne und das Ideal der Würde der Menschheit, die, gleichsam über den Umweg der Zerstörung des Einzelnen, die Möglichkeit individueller Würde garantieren können. Wenn jedoch Menschenwürde entweder ausschließlich als ästhetische Qualität vorstellbar ist und nur im ästhetischen Bereich uneingeschränkte Gültigkeit besitzt oder einer derart schmerzhaften ästhetischen Vermittlung bedarf, dann bleibt sie eine hochgradig prekäre Konstruktion.42
II.6. Dimensionen der Menschenwürde bei SchillerSchiller, Friedrich
SchillersSchiller, Friedrich philosophische, kunsttheoretische und literarische Werke umkreisen immer wieder die (Menschen-)Würde, sowohl das konkrete Wort als auch den Begriff.1 Definitorisch einheitlich sind seine Ausführungen freilich nicht; vielmehr erhält der Kern der Vorstellung unterschiedliche Nuancierungen. Stellung und Bedeutung der Menschenwürde bei Schiller erschließen sich erst nach dem Blick auf einige Prämissen.
1. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie KantsKant, Immanuel2 hat SchillerSchiller, Friedrich zweifellos die Grundzüge von dessen Würdebegriff vermittelt, der auf den Feststellungen beruht, dass der Mensch als Vernunftwesen in der Lage ist, sich selbst jene Gesetze aufzuerlegen, nach denen er autonomAutonomie sittlich handelt, er deshalb einen absoluten inneren Wert hat und von sich selbst und anderen als Selbstzweck zu achten ist.3 Schon vor der Kant-Lektüre artikuliert Schiller ein streng dualistisches Menschenbild, das den Menschen als Misch- und mittleres Wesen konzeptualisiert.4 Die ‚Natur‘ des Menschen ist tierisch und geistig – diese grundlegende Vorstellung prägt Schillers dritte medizinische Dissertation genauso wie die frühe Schaubühnen-Rede und die späteren ästhetischen Schriften.5 Die Bestimmung des Verhältnisses dieser beiden getrennten und doch untrennbar miteinander verbundenen menschlichen Sphären durchzieht Schillers Anthropologie, Philosophie und Ästhetik. In Anlehnung an den dichtenden Mediziner Albrecht von HallerHaller, Albrecht von situiert Schiller den Menschen zudem hierarchisch als „das unseelige Mittelding von Vieh und Engel“ (NA 20, 47).6 In dieser Zwischenstellung muss der Mensch seine Menschlichkeit und seine Würde selbstbewusstSelbstbewusstsein verwirklichen: „Zwingt doch der thierische Gefährte / Den gottgebornen Geist in Sklavenmauren ein – / Er wehrt mir, daß ich Engel werde; / Ich will ihm folgen Mensch zu seyn“ (An einen Moralisten; NA 1, 87).
2. SchillerSchiller, Friedrich analysiert die zeitgenössische Realität kultur- und zivilisationskritisch mit einem Gestus der Diagnose, die er auf den Begriff der Würde fokussiert.7 In Die KünstlerKunst, Künstler (1789; s.o.) erscheint die Würde der Menschheit als prekär, da die HarmonieHarmonie zwischen Wahrheit und Schönheit (und somit das menschheitsgeschichtliche Ziel) kompromittiert wurde. Zwei Jahre zuvor, in Don Karlos, hatte Schiller den Marquis von Posa seine Diagnose menschlicher Erniedrigung und „Verstümmelung“ als politisches Problem formulieren lassen.8 Mit Blick auf den ernüchternden Verlauf der Französischen Revolution9 wird die Frage nach FreiheitFreiheit und menschlichem Fortschritt virulent. In einem Brief an den Prinzen von Augustenburg (Juli 1793) klagt Schiller:
Der Versuch des Französischen Volks, sich in seine heiligen MenschenrechteMenschenrechte einzusetzen, und eine politische FreiheitFreiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht, und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Theil Europens, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarey und Knechtschaft zurückgeschleudert. (NA 26, 262)
Dass die hehren Ziele der Revolution letztlich in blutige GewaltGewalt umschlagen, ist Symptom der menschlichen „Unwürdigkeit“;10 der Mensch ist noch nicht in der Lage, seine sinnlichSinnlichkeit-tierische Natur auf der einen und seine geistig-vernünftigeVernunft auf der anderen Seite in ein Verhältnis zu setzen, das wahre sittliche wie politische FreiheitFreiheit ermöglicht. Die Lösung liegt in SchillersSchiller, Friedrich Augen in der Förderung der „ästhetische[n] Kultur“ (NA 26, 266). In den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), die die Gedanken der Augustenburger Briefe systematisieren, formuliert Schiller wieder eine Diagnose der menschlichen WürdelosigkeitWürdelosigkeit, diesmal nicht so sehr mit Blick auf die konkreten politisch-historischen Ereignisse, sondern aus allgemeinerer Perspektive. Im fünften und sechsten Brief zeichnet Schiller sein Zeitalter als würdelos, seiner Bestimmung entfremdet und degeneriert.11 Die „gegenwärtigen Ereignisse“ in Frankreich entlarven „Verwilderung“ und „Erschlaffung“ der Menschen, „die zwey Aeussersten des menschlichen Verfalls“ (5. Brief; NA 20, 319).12 Grund sei der Verlust an „Totalität“ (NA 20, 322), sowohl innerhalb der Gattung als auch innerhalb des IndividuumsIndividuum. Die Folge menschlichen Fortschritts und wissenschaftlicher Spezialisierung ist eine GesellschaftGesellschaft, in der der einzelne Mensch nur ein „Bruchstück“ des Ganzen ist (6. Brief; NA 20, 323) und auch seine eigene Natur nur noch fragmentarisch ausbildet.13 Solange diese „Trennung in dem innern Menschen“ nicht „aufgehoben“ ist, muss jede politische Revolution scheitern (7. Brief; NA 20, 329). Anthropologische Voraussetzung jeder Verbesserung ist daher die Überwindung dieser „tiefen EntwürdigungEntwürdigung“,14 die den „Charakter der Zeit“ ausmacht (NA 20, 329). Um die „Totalität in unserer Natur, welche die KunstKunst, Künstler“ – gemeint sind weniger