dabei zwar nicht unbedingt ein Ersatz für die historische Wirklichkeit, aber doch ein notwendiger Umweg (2. Brief; vgl. NA 20, 312). Um den Extremen menschlicher Entzweiung, den exzessiv sinnlichSinnlichkeit getriebenen „Wilde[n]“ und den exzessiv von reinen Vernunftgesetzen geleiteten „Barbar[en]“ (4. Brief; NA 20, 318) gleichermaßen entgegenzuwirken, will Schiller das menschliche „Empfindungsvermögen[]“ ausbilden (8. Brief; NA 20, 332) – durch die „schöne Kultur“, die „zugleich anspannen und auflösen“ (10. Brief; NA 20, 336) soll. Um die beiden menschlichen Pole zu harmonisieren und in ein reziprokes, sich gegenseitig befruchtendes Verhältnis zu bringen, postuliert Schiller einen „mittleren Zustand“ bzw. eine „mittlere Stimmung“ (18. bzw. 20. Brief; NA 20, 366 bzw. 375).41 Der vermittelnde Spieltrieb hebt den Antagonismus zwischen sinnlichem Stofftrieb und Formtrieb (vgl. 12.–15. Brief; NA 20, 344–360), zwischen Neigung und moralischem Pflichtgefühl (vgl. 12. Brief; NA 20, 346), zwischen Sinnlichkeit und VernunftVernunft (vgl. 20. Brief; NA 20, 375) zumindest zeitweise auf. Nur im Spiel, d.h. im freien ästhetischen Erlebnis, das dem Menschen die Schönheit „in weitester Bedeutung“ (NA 20, 355) zugänglich macht und „seine doppelte Natur auf einmal entfaltet“ (NA 20, 358), ist er „ganz Mensch“ (NA 20, 359).42 Diese Vereinigung der Gegensätze konzeptualisiert Schiller als Vollendung des „Begriff[s] der Menschheit“ (15. Brief; NA 20, 356), als Annäherung an die „Idee seiner [i.e. des Menschen] Menschheit“ (14. Brief; NA 20, 353). Die ästhetische Kultur vermag, dieses menschliche Potential zu aktivieren, mithin den Menschen in die Lage zu versetzen, seine – durchaus normativ gedachte – Würde wiederzuerlangen:
Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Werth eines Menschen, oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr, von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freyheit, zu seyn, was er seyn soll, vollkommen zurückgegeben ist. (21. Brief; NA 20, 377–378; m. H.)43
Die ästhetische Würde ist die Fähigkeit zur vollkommen freien SelbstbestimmungSelbstbestimmung des mit sich versöhnten, ‚totalen‘ Menschen.44 SchillersSchiller, Friedrich Projekt der ästhetischen Erziehung wird so zum Garanten von FreiheitFreiheit und Menschenwürde, zunächst in anthropologischer, ultimativ jedoch auch in politischer Hinsicht, soll der ästhetische Mensch doch Bürger des ästhetischen Staats werden, eines Staats der Freiheit, in dem sich der „WilleWille, freier Wille[] des Ganzen durch die Natur des IndividuumsIndividuum vollzieht“ (27. Brief; NA 20, 410).45
Die letzte Facette der Würde, die Ebert in seiner Analyse nennt, zielt auf ihre leiblichen Bedingungen und zeigt den Idealisten und Ästhetiker SchillerSchiller, Friedrich als pragmatischen Realisten, ja Materialisten.46 In Würde des Menschen, einem Distichon von bemerkenswerter Lakonik, ‚erdet‘ er seine komplexen theoretischen Ausführungen – und zwar 1796, also nach Fertigstellung der Ästhetischen Erziehung: „Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, / Habt ihr die Blöße bedeckt, giebt sich die Würde von selbst“ (NA 1, 278).47 Rezeptionsgeschichtlich wird diese Dimension des Schillerschen Würdebegriffs jedoch eindeutig von anderen überlagert.48
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Grundsätzlich – und darin ist SchillerSchiller, Friedrich voll und ganz ein Sohn des 18. Jahrhunderts49 – ist die Menschenwürde auf zwei Arten bestimmt. Sie ist einerseits naturrechtlich grundierte Eigenschaft des Menschen als potentiell vernünftigemVernunft Nicht-TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, die ihm Rechte und AchtungAchtung garantiert. Andererseits aber ist sie auch bei Schiller noch ein anthropologisches Ideal, und als eben solches wird sie zu einer ästhetischen Grundkategorie, die sich wiederum durch einen doppelten Impetus, eine grundlegende begriffliche Ambivalenz kennzeichnet: die erhabene Würde auf der einen, die ästhetische Würde auf der anderen Seite. Jene bezieht sich einseitig auf den vernünftig-sittlichen Menschen und seine freie, selbstbestimmte, natürliche Affekte negierende Handlungsmacht. Wenn Schiller das Wort „Würde“ benutzt, meint er überwiegend diese erhabene Würde. Die ästhetische Würde jedoch ist genau jenes Ideal, das Schillers Diagnosen der menschlichen WürdelosigkeitWürdelosigkeit zugrunde liegt; der ‚verlorenen Würde‘ entspricht die ästhetische Totalität des Menschen. Welches ist demnach das Verhältnis zwischen erhabener und ästhetischer Würde?
Wenn SchillerSchiller, Friedrich im 23. der Briefe Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen als Ziel der ästhetischen Kultur eine Menschheitsstufe vorschwebt, auf der der Mensch gelernt hat, „edler [zu] begehren, damit er nicht nöthig habe, erhaben zu wollen“ (NA 20, 388), dann erscheint die erhabene Würde als ein nur vorläufig notwendiges Konzept, das irgendwann obsolet werden soll – nämlich dann, wenn der Mensch aus freien Stücken und ohne Willensanstrengung stets moralisch handelt. Diese Vorstellung nähert sich der „schönen Seele“ an, die Schiller in Ueber Anmuth und Würde als „das Siegel der vollendeten Menschheit“ bezeichnet, da in ihr „SinnlichkeitSinnlichkeit und VernunftVernunft, Pflicht und Neigung harmoniren“ (NA 20, 287–288).50 Diese „reifste Frucht [der] HumanitätHumanität“ kennzeichnet er jedoch ausdrücklich als „bloß eine Idee“, nach der der Mensch zwar „mit anhaltender Wachsamkeit streben“ soll, die er aber explizit „bey aller Anstrengung nie ganz erreichen kann“ (NA 20, 289).51 Im 24. Brief der Ästhetischen Erziehung variiert Schiller diesen Gedanken sowohl logisch als auch begrifflich, ohne jedoch das Verhältnis von erhabener und ästhetischer Würde grundlegend zu revidieren:
Es ist dem Menschen einmal eigen, das Höchste und das Niedrigste in seiner Natur zu vereinigen, und wenn seine Würde auf einer strengen Unterscheidung des einen von dem andern beruht, so beruht auf einer geschickten Aufhebung dieses Unterschieds seine Glückseligkeit. Die Kultur, welche seine Würde mit seiner Glückseligkeit in Uebereinstimmung bringen soll, wird also für die höchste Reinheit jener beyden Principien in ihrer innigsten Vermischung zu sorgen haben. (NA 20, 392)
SchillerSchiller, Friedrich umreißt noch einmal die zwei Optionen, mit denen er das Verhältnis der beiden Naturen des Menschen konzeptualisiert: Das, was Schiller hier „Würde“ nennt – und was in der vorangegangen Analyse als erhabene Würde bezeichnet wurde –, meint den absoluten Primat des „Höchste[n]“, der vernünftigenVernunft Natur. Die HarmonieHarmonie, der Ausgleich der Doppelnatur – die ästhetische Würde – figuriert hier (bezeichnenderweise in typisch aufklärerischer Terminologie) als „Glückseligkeit“. Das anvisierte Telos der Menschheitsgeschichte, das Schiller an dieser Stelle keineswegs als per se unerreichbares Ideal beschreibt, sondern indikativisch formuliert, ist hier aber nicht die Ablösung der erhabenen durch die ästhetische Würde, sondern deren Zusammenführung – auch wenn Schiller keine nähere Bestimmung dieser Zusammenführung liefert.52 Gleichwohl bleibt die Aussage des vierten Briefes, dass jeder Mensch „einen reinen idealischen“ – oder: einen würdigen – „Menschen in sich“ trage (NA 20, 316), gültig; Aufgabe der KunstKunst, Künstler ist es, diesen hervorzubringen.
Zusammengefasst und auf die Frage nach der Menschenwürde zugespitzt hieße das: Die ästhetische Würde bleibt tendenziell eine utopische Kategorie, die die eminente gesellschaftliche Stellung und politische Bedeutung der KunstKunst, Künstler und des Dichters53 legitimiert. In der literarischen Praxis bleibt jedoch die erhabene Würde die entscheidendere Kategorie, die mit einer klaren (dramen)poetischen Wirkabsicht verbunden ist.54
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SchillersSchiller, Friedrich Betonung der ästhetischen Würde des Menschen sowie der erhabenen Würde und ihrer ästhetischen Implikationen birgt die Gefahr einer idealistischen Verkürzung des Menschenwürdebegriffs, die vom IndividuumIndividuum, seinem sozialen Kontext und seiner sozialen Bedingtheit zugunsten des normativen Ideals abstrahiert.55 Obwohl Schiller die Menschenwürde durchaus auch als inhärente Qualität denkt, besteht das Risiko, dass sie nur noch als Ideal, als menschliche Potentialität, als Auftrag erscheint, in demselben Maße, in dem KunstKunst, Künstler zu einer eskapistischen, elitären, auf jeden Anspruch auf realgesellschaftliche Relevanz verzichtenden Ersatzwelt zu werden droht.56 Genau diese Vorstellung – Würde als rein ästhetisches Ideal57 – und ihre bildungsbürgerliche Aneignung werden zur Angriffsfläche für radikal antiklassische literarische Gegenentwürfe, u.a. bei BüchnerBüchner, Georg, Kleist,