Max Graff

Literarische Dimensionen der Menschenwürde


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Rechte besitzen, anerkennen – was er nicht tut, vergleicht er doch unmittelbar danach den Sklaven mit einem Ochsen. Die Regieanweisung („zwischen den Zaͤhnen murmelnd“) beschreibt nicht nur Williams eigene Gemütslage, sondern suggeriert dem Publikum, dass Johns Position und ihre Legitimation zumindest problematisch sind. Noch wird die Rechtfertigung der Sklaverei nicht direkt negiert; William belässt es bei einem sarkastischen Kommentar („Ein herrliches Gleichniß“).

      In Szene I,6 verteidigt William explizit die Menschenwürde der Sklaven und prangert ihre menschenunwürdige Behandlung an. Der Dialog zwischen den Brüdern wird zum veritablen ‚Rededuell‘, das die jeweiligen Positionen profiliert. William entfaltet seine Auffassung von der Menschenwürde nicht monologartig, sondern greift mit verschiedenen Argumenten und Einwürfen seinen Gegenspieler John an. Die Figuren arbeiten einen Gedanken nach dem anderen, ein Argument nach dem anderen regelrecht ab. KotzebueKotzebue, August von wollte offenbar sicherstellen, dass die Rezipienten den Gedankengängen folgen können – nicht nur die Leser des gedruckten Textes, sondern auch die Zuschauer im Theater, die die kognitive Verarbeitung des Gehörten in kürzerer Zeit leisten müssen.

      John plagt kein schlechtes Gewissen; an die Schreie der misshandelten Sklaven hat er sich längst gewöhnt. Schockiert ruft sein Bruder aus: „[K]ann nur der Mensch allein sich an Alles gewoͤhnen, und von Allem entwoͤhnen, sogar von der Menschheit!“ (NS 33). Im 18. und 19. Jahrhundert meint das Lexem „Menschheit“ das, was den Menschen als Menschen ausmacht.3 Bei KantKant, Immanuel besteht sogar ein direkter Zusammenhang zwischen „Menschheit“ und Würde: „Die Menschheit selbst ist eine Würde […]“.4 Wenn sich John in Williams Augen von der Menschheit entwöhnt hat, hat dies eine doppelte Bedeutung: John sieht in den Sklaven keine Menschen (mehr) – vermutlich hat er es nie getan. Vor allem aber äußert sich in seinem Umgang mit den Sklaven ein vollkommenes Fehlen von Menschlichkeit, von AchtungAchtung vor dem Gegenüber – denn diese setzen die Anerkennung des Anderen als Menschen voraus. Insofern er diese vermissen lässt, kompromittiert er seine eigene Menschenwürde.

      Kurz darauf fragt William explizit nach dem Status der Sklaven:

      Will. – Sage mir Bruder, haͤltst du deine Sklaven für Menschen? […]

      John. Ich behandle sie wie Menschen. […]

      Will. (spoͤttisch) Wuͤrklich?

      John. Ich gebe ihnen zu essen und zu trinken.

      Will. Das giebst du deinen Hunden auch.

      John. Sie sind auch nicht viel besser als Hunde. Glaube mir, Bruder, es ist eine eigene Race zur Sklaverey gebohren. (NS 33–34)

      Johns Behauptung ist zynisch; er entmenschlicht seine Sklaven – auch sprachlich. John und der Meisterknecht, dem als Schwarzer in Diensten der Weißen die problematische Rolle des grausamen Sadisten zukommt, verwenden immer wieder Tiermetaphern und -vergleiche. Diese gewaltsame sprachliche TheriomorphisierungTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung der Sklaven, die ihrer Behandlung durch die Sprechenden entspricht, durchzieht das Stück. Auch die Sklaven selbst vergleichen sich mit Nutz- oder Haustieren.5

      John reduziert das Menschsein und die Menschenwürde zu rein physiologischen, mechanistischen Begriffen: Die (gerade noch arbeitsfähigen) Sklaven sind, was ihre Körperfunktionen betrifft, Menschen. Tatsächlich verschwimmt dann die Grenze zu den zumindest physiologisch ähnlich beschaffenen Nutz- und Haustieren – was John wie selbstverständlich bestätigt. Seine Argumentation ist jedoch zutiefst inkonsequent: Einerseits stellt er zynisch die menschliche IdentitätIdentität der Sklaven fest, wenn es um ihren Unterhalt geht. Andererseits betont er die Differenz zwischen Sklaven und europäischstämmigen Menschen, um die Sklaverei an sich und die entwürdigendeEntwürdigung Behandlung der Sklaven zu rechtfertigen.6 Denn Afrikaner stellen laut John eine eigene „Race“ dar, die sich von jener der europäischen Kolonialherren wesenhaft unterscheidet und deren Mitglieder keineswegs als Selbstzweck, sondern als Mittel zu einem bestimmten Zweck – „zur Sklaverey“ – zu betrachten seien. Die Regieanweisung („spoͤttisch“) gibt nicht nur die unmittelbare Reaktion der innerfiktionalen Figur William vor, sondern deutet auch an, wie die Rezipienten auf John reagieren sollen: ablehnend. Dieser moraldidaktische Impetus wird in der sehr konstruiert wirkenden Szene überdeutlich. Auf teilweise stichwortartige Fragen Johns7 folgen jeweils mehr oder weniger ausführliche Widerlegungen Williams. Johns anaphorisches „Aber“ (vgl. NS 35–36), mit dem er seine Argumente und Fragen einleitet, wirkt lächerlich, macht aber die Funktion des Wortwechsels klar: Es geht um die Kreation einer schroffen (auch rhetorischen) Opposition, deren Positionen implizit eindeutig bewertet werden. Das didaktische Prinzip These – Antithese oder argumentatiorefutatio, das scheinbar allgemeine Vorurteile oder mögliche Einwände des Rezipienten vorwegnimmt und verbalisiert, wirkt in seiner Holzschnittartigkeit zwar plump, lässt die dem Stück zugrundeliegende Intention jedoch umso schärfer hervortreten.

      In Johns Zynismus mischen sich unverhohlen rassistische Vorurteile und eine pseudotheologische Begründung: GottGott habe die Afrikaner als Nachfahren des Brudermörders Kain (und nicht nach seinem EbenbildGottebenbildlichkeit) geschaffen, deshalb seien sie „schwarz“, „spitzbuͤbisch, boshaft und dumm“ (NS 34).8 Diese pauschal zugeschriebenen Eigenschaften negiert William nicht (!), begründet sie aber nicht aus dem Wesen der Sklaven, sondern stellt sie als Folge der EntwürdigungEntwürdigung durch die weißen ‚Besitzer‘ dar: „O ihr habt Alles gethan, um diese Ungluͤcklichen herabzuwuͤrdigen, und dann beklagt ihr euch noch, daß sie dumm und boshaft sind“ (NS 34).

      Danach nimmt der Dialog Bezug auf einen Aspekt des Menschenwürdebegriffs, der gerade im Kontext des Sklavenhandels bedeutsam ist. Zunächst stellt William – geradezu naturrechtlich, aber an der sozialen Realität vorbei – fest, dass auch Schwarze frei geboren werden. Johns Legitimierungsstrategie ist perfide: Er rekurriert auf Schlagworte des Menschenwürdediskurses, um sein Menschenbild zu verteidigen. So wirft er ein, dass, wenn ein Sklave sein natürliches Recht auf SelbstbestimmungSelbstbestimmung wahrnimmt und sich und seine FreiheitFreiheit verkauft, der ‚Käufer‘ nicht zu kritisieren sei. William versucht ihn – seinerseits mit einschlägiger Wortwahl – zu widerlegen:

      Will. Die Freyheit des Menschen hat keinen Preiß.

      John. Desto schlimmer fuͤr ihn, wenn er mir ein kostbares DingObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, DinghaftigkeitDing, Verdinglichung, Dinghaftigkeit (s. Objekt, Objektifizierung) wohlfeil verkauft. […]

      Will. Verkaufen? Das darf er nicht, weil er nicht Alles darf, was ein ungerechter Herr als Sklave von ihm fordern koͤnnte. Er gehoͤrt seinem ersten Herrn, GottGott! Der ihn nie frey ließ. Der Mensch kann sein Leben verkaufen, wie der Soldat, aber nicht den Mißbrauch seines Lebens, wie der Sklave. (NS 35)

      Eindeutig auf kantischeKant, Immanuel Terminologie bezieht sich die Rede vom „Preiß“. Bei Kant ist es jedoch nicht die FreiheitFreiheit des Menschen, sondern der Mensch selbst, „als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen VernunftVernunft“, der „über allen Preis erhaben“ ist – und genau deshalb „Würde“ besitzt.9 Aufgrund dieser Würde verdient er AchtungAchtung; diese darf er auch selbst nicht kompromittieren. Seine „Würde verleugnen“ würde er u.a., wenn er sich „knechtisch“ machte und so die Pflicht der SelbstachtungSelbstachtung verletzte.10 Wenn der Mensch „die höchste Selbstschätzung als Gefühl seines inneren Werts (valor), nach welchem er für keinen Preis (pretium) feil ist“, missachtet, verstößt er gegen die ihm durch seine „unverlierbare Würde (dignitas interna)“ auferlegte Pflicht der Selbstachtung. Zur Illustration dieses Gedankens zitiert Kant einen Bibelvers (I Kor 7,23): „Werdet nicht der Menschen Knechte.“11 Der Sklave wird so zu einem negativen Paradigma des kantischen Menschenwürdebegriffs.

      In Johns Argumentation wird der sich selbst entwürdigendeEntwürdigung Mensch, der freiwillig und selbstbestimmt seine eigene Würde missachtet, durch eigenes Verschulden zum TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung. Da er, mit KantKant, Immanuel gesprochen, „einen gemeinen Wert (pretium vulgare)“ oder „einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium usus)“ erhält,12 zur Ware verkommt und – paradoxerweise – durch einen personalen Akt auf seine Personalität