eine Form der bürgerlichen Öffentlichkeit, die, folgt man Habermas, die Grundlage der politischen darstellt, dieser also gewissermaßen vorausgeht;2 zumindest aber eröffnen Literatur und Theater einen Raum, in dem moralische Probleme ohne juristische oder politische Festlegungen mit genuin künstlerischenKunst, Künstler Mitteln verhandelt werden.
Tatsächlich erschienen in den Jahren um 1800 auch mehrere deutschsprachige Dramen, die das Thema der Sklaverei aufgriffen.3 Dieses erlaubte den Dichtern, sowohl die in den Deklarationen der Französischen Revolution kulminierenden Freiheitsideale zu diskutieren als auch aktuelle gesellschaftspolitische Fragestellungen analogisch zu behandeln.4 Neben Karl Freyherr von Reitzenstein, Ernst Lorenz Michael Rathlef, Gustav Hagemann u.a. verfasste auch August von KotzebueKotzebue, August von mehrere Sklavenstücke.5
In seinem „historisch-dramatische[n] Gemaͤhlde“ Die Negersklaven (1794) gestaltet KotzebueKotzebue, August von die Menschenwürde als zentrales Thema.6 Anschaulich und publikumswirksam stellt der Dramatiker die Frage nach der Bedeutung und der Reichweite des Begriffs – auch jenseits des exotischen Themas.7 Im Gegensatz zum vermeintlich elitären und intellektuell fordernden Theater GoethesGoethe, Johann Wolfgang und SchillersSchiller, Friedrich weiß der „Volksdichter“ und „Theaterpraktiker“ genau,8 was dem gemeinen Zuschauer tatsächlich zuzumuten ist – sowohl auf der Ebene der Reflexion und der Interpretation als auch auf der Ebene der Darstellung.
Die Grundfrage des Stückes ist recht einfach: Sind Sklaven Menschen, die eine zu achtende Würde haben? Diese Position vertritt der aufgeklärte, in Europa geschulte William, der auf Jamaika mit den Gräueln der Sklaverei konfrontiert wird. Oder sind die „Negersklaven“, wie es sein Bruder, der grausame Plantagenbesitzer John, behauptet, eher TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung oder Waren, die weder Würde noch Rechte besitzen? Dieser dramatische Konflikt – hier prallen zwei Weltsichten und vor allem Menschenbilder aufeinander, die zumindest subjektiv gleichwertig erscheinen9 – ist der Ausgangspunkt für einen Plot, der zum einen konventionelle Erwartungen des Publikums erfüllt und handlungsreich, spannend, bunt, bisweilen schockierend, aber auch hochpathetisch und rührselig ist, zum anderen jedoch immer wieder die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf den Begriff der Menschenwürde und seine anthropologischen, ethischen, theologischen und juristischen Implikationen lenkt. Der horazischen Maxime folgend versucht das Stück, das delectare und das prodesse massentauglich zu verbinden.
III.1. Bemerkungen zu Vorbericht und Quellen
Im Vorbericht stimmt KotzebueKotzebue, August von „Leser, Zuschauer und Recensenten“ auf das zu Erwartende ein. Sein Text sei „nicht blos“ ein „Schauspiel“, sondern „bestimmt, alle die fuͤrchterlichen Grausamkeiten, welche man sich gegen unsre schwarzen Bruͤder erlaubt, in einer einzigen Gruppe darzustellen“.1 Kotzebue verspricht mehr als bloße illusionistische Unterhaltung; er erhebt – wie bereits die Gattungsbezeichnung suggeriert – nicht nur Anspruch auf historische Genauigkeit, sondern auch auf außerliterarische Relevanz. Das programmatische Substantiv „Bruͤder“ nimmt die Aussage des Stückes vorweg: Die schwarzen Sklaven gehören, im Sinne der revolutionären Maxime der fraternité, gleichberechtigt zur Menschheitsfamilie. Versklavung und menschenunwürdige Behandlung sind somit verwerflich; sie werden zum ästhetischen Stimulans, zum Anlass der literarischen Produktion.
„[L]eider“ gebe es, so KotzebueKotzebue, August von, „keine einzige Thatsache in diesem Stuͤcke […], die nicht buchstaͤblich wahr waͤre“ (NS 4).2 Dieses Berufen auf ein striktes Wahrheitspostulat rechtfertigt implizit die dramatische Darstellung von vermeintlich Anstößigem, Unästhetischem oder Undarstellbarem, mithin von Vorgängen, die den aufklärerischen Regelpoetikern als mit der Würde des Menschen unvereinbare Grenzüberschreitungen oder Tabubrüche gegolten hätten. Auf der Bühne werden Menschen geschlagen und misshandelt, ein totes Kind wird gezeigt, Trauriges und Grausames mit großem Pathos beweint und beklagt, Emotionen werden ungeniert ausgedrückt.3 Zwischen Wirkintention und darstellungsästhetischen Überlegungen besteht jedoch ein direkter Zusammenhang; gerade eklatante VerletzungenMenschenwürdeverletzung der Menschenwürde setzt Kotzebue bewusst und mit wirkästhetischen Hintergedanken ein.
Am Ende der Vorrede macht KotzebueKotzebue, August von dann eine signifikante Einschränkung:
Da viele Zuͤge in diesem Schauspiele allzugraͤßlich sind, so ist bey der Auffuͤhrung manches weggelassen worden. Das mag fuͤr die Bühne gelten; im Druck aber sah sich der Verfasser genoͤthigt, alles Weggelassene wieder herzustellen, wenn seine Arbeit anders den Titel eines historischen Gemaͤhldes verdienen sollte. (NS 6–7; m. H.)
Die Bewertung von potentiell Tabuisiertem ist demnach vom literarischen Medium abhängig: Auf der Bühne, in der dramatischen Darstellung, ist weniger ‚erlaubt‘ als im Druck, der die Wirkung gewissermaßen abmildert. Hier gibt es – das verlangt das Postulat der historischen Wahrheit – keinen Grund mehr, aus Rücksicht auf das Publikum bestimmte Details oder Szenen wegzulassen oder zu verharmlosen.
Zudem nennt KotzebueKotzebue, August von die Quellen, die ihm „den Stoff geliefert“ haben (NS 3).4 Nicht als Quelle erwähnt, im Laufe des Stückes von Namensvetter William aber mehrmals als Gewährsmann und Hoffnungsträger genannt (NS 55 und 65) wird William WilberforceWilberforce, William, der sich u.a. im Mai 1789 im britischen House of Commons für die Abschaffung der Sklaverei aussprach; seine Rede muss Kotzebue gekannt haben.5 Die Figur William, gleichsam der HeldHeld des Dramas,6 dient als fiktionales Sprachrohr des historischen Wilberforce, den „sein edles Herz zum Redner der Menschheit aufforderte“ (NS 55) und „der euch [i.e. die Sklaven; MG] liebt; der Tag und Nacht auf eure Befreyung sinnt, und von der schoͤnen Glut der Menschenliebe erwaͤrmt, mit feuriger Beredsamkeit eure Rechte vertritt“ (NS 65). Am historischen Wilberforce lobt William zwei Eigenschaften: seine rhetorischen Fähigkeiten und seine humanitas, sein argumentatives und sein emotionales Engagement für die Sache der Sklaven. Ebendiese beiden Strategien verfolgt auch Kotzebues Drama.
III.2. Die diskursive Begründung der Menschenwürde in Dialogen der Figuren William und John
Nachdem in den ersten beiden Szenen des ersten Aktes ausschließlich Sklavenfiguren zu Wort kommen, die expositorisch von ihrem Leid und von dem sich anbahnenden Konflikt um Johns Liebe für die Sklavin Ada berichten, deren Herz jedoch dem in Afrika zurückgelassenen Gatten Zameo gehört, werden die ungleichen Brüder William und John eingeführt. In zwei Dialogen (in den Szenen I,3 und I,6) stehen sich die beiden in einem ‚ideologischen Duell‘ gegenüber. Diese Dialoge muten wie eine argumentative Exposition an, fügen sie der eigentlichen Handlung um die Sklaven doch einen interpretatorischen, theoretischen Rahmen hinzu: William und John entfalten zwei entgegengesetzte Ansichten über das Wesen und den Status der Sklaven und stecken somit den begrifflichen Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Wahrnehmung und Bewertung der Sklaven durch die Rezipienten bewegen soll.
Vorbereitet wird die Schlüsselszene I,6 durch einen kurzen Wortwechsel in Szene I,3:
John. (im Gespraͤch begriffen) Nein Bruder, das verstehst du nicht. Ich habe den CiceroCicero, Marcus Tullius nie gelesen; aber wenn ich, statt Hunger und Peitsche, mir einen Redner halten wollte, der die Sklaven an ihre Pflichten erinnerte –
William. (zwischen den Zaͤhnen murmelnd) Haben Sklaven auch Pflichten?
John. Thut der englische Bauer recht, wenn er seinen Ochsen vor den Pflug spannt, und die Peitsche uͤber ihm schwingt?
William. Ein herrliches Gleichniß. (NS 17–18)
In den Augen des Plantagenbesitzers sind Sklaven TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung; Zweck ihres Daseins ist, für ihren Besitzer zu arbeiten. William weist sarkastisch auf den argumentativen Fehler seines Bruders hin: John spricht von den „Pflichten“ der Sklaven, dabei ist die Pflicht weniger eine ontische Kategorie als eine Zuschreibung, die auf bestimmten Voraussetzungen beruht. Ironischerweise bezieht sich John selbst in seiner Rede auf CiceroCicero, Marcus Tullius; dieser grenzt in seiner Schrift De officiis (dt. „Von den Pflichten“ oder freier „Vom rechten Handeln“), die gemeinhin als Beginn der Begriffsgeschichte der (Menschen-)Würde betrachtet