Max Graff

Literarische Dimensionen der Menschenwürde


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unbedingt die Menschenwürde, sondern das Gebot GottesGott. „Ihr seid teuer erkauft“, heißt es unmittelbar vor der von Kant zitierten Passage im ersten Korintherbrief – nur Christi Knecht soll der Mensch sein. Auf diese metaphorische Knechtschaft spielt auch William an: „GottGott“ ist der metaphorische ‚Besitzer‘ („gehoͤrt“) des Menschen. Zwar könne ein Mensch, so William, sein Leben verkaufen (wie der Soldat oder Söldner), den „Mißbrauch“ desselben aber nicht.

      Diese Unterscheidung bleibt zunächst unklar, denn auch den Einsatz eines Soldaten in einem KriegKrieg kann man als Missbrauch, als HerabwürdigungEntwürdigung zum Mittel zu einem bestimmten Zweck (z.B. dem Sieg in der Schlacht) deuten. William zielt aber hier auf etwas anderes ab: auf die Unmöglichkeit, sich durch einen Verkauf oder eine unmenschliche Behandlung seiner Menschheit und somit seiner Würde berauben zu lassen. Ein Indiz dafür ist das benutzte Modalverb: Er spricht nicht davon, dass der Mensch seine FreiheitFreiheit oder den „Mißbrauch seines Lebens“ nicht verkaufen darf, sondern davon, dass er es nicht kann. Der Mensch besitzt also eine (von KantKant, Immanuel so bezeichnete) „unverlierbare Würde“.14 Eine menschenunwürdige Behandlung ist niemals zu rechtfertigen, auch nicht durch Johns Gedankenkonstrukte. Der Dialog greift aber auch ein immer noch aktuelles begriffliches Problem der Menschenwürde auf: Sie wird einerseits verstanden als unveräußerliches Wesensmerkmal, andererseits als Anspruch gegenüber anderen, der missachtet oder verletzt werden kann.15

      William weist in der Folge noch weitere Argumente seines Bruders zurück.16 Sklavenhalter laden in seinen Augen unweigerlich Schuld auf sich. Auch die Missionierung von Andersgläubigen lässt er als Rechtfertigung nicht gelten: „Wenn die Religion Verbrechen heiligt, hinweg mit ihr auf ewig!“ (NS 37).

      Innerfiktional profiliert dieser Dialog John und William als Protagonisten und Antagonisten, deren unterschiedliche Positionen das dramatische Geschehen um die Sklaven überhaupt erst ermöglichen. Außerfiktional betrachtet, markiert die Konfrontation zum einen die Frage nach der Definition des Menschseins und der Begründung der Menschenwürde als Leitmotiv der Rezeption, zum anderen etabliert sie den begrifflichen Bewertungsrahmen für die im Drama vorgeführten Figuren. Dem Rezipienten wurde – zunächst sprachlich-argumentativ und unter Rückgriff auf naturrechtliche, theologische, aber auch moralphilosophische Argumente – bewiesen, dass die Sklaven Menschen sind, die es in ihrer Würde zu achten gilt. Der Sklaverei wurde dialogisch ihre ideologische Grundlage entzogen.

      Das Ende der Szene problematisiert die vermeintlich klare Aussage jedoch in zweifacher Hinsicht: Zum einen bemerkt John mit bissigem Spott, dass auch Williams Vermögen das Resultat von Sklavenausbeutung ist, „und es behagt dir wohl, nicht wahr?“ (NS 37). Zum anderen verhöhnt er William für sein Vertrauen in die eigene Überzeugungskraft: „Afterphilosophie“ seien seine Ausführungen, „eitel Declamation von hohen Schulen mitgebracht“ (NS 37). Nachdrücklich verweist John auf die Diskrepanz von Theorie und Praxis, von Ideal und Wirklichkeit – ein Vorwurf, den man auch gegenüber den hochtrabenden klassisch-idealistischen Programmen vorbringen könnte. In Bezug auf das konkrete Drama lenken sie jedoch den Fokus auf jene künstlerischenKunst, Künstler Mittel, die über das reine Artikulieren von bestimmten Ansichten hinausgehen: auf die spezifische Leistung der Literatur, die die Menschenwürde mit ihren Mitteln konstituiert.

      III.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde

      KotzebuesKotzebue, August von Stück ist kein Ideendrama. Es ist allerdings auch keine bloße Effekthascherei; vielmehr zieht der Dramatiker bei der Gestaltung seiner Sklavenfiguren unterschiedliche Register, um ihre Menschenwürde im dramatischen Spiel entstehen zu lassen und als Faktum im Rezeptionsvorgang zu transportieren. Kotzebue kreiert ein Zusammenspiel von mentalitätsgeschichtlichen und literaturhistorischen Aspekten, innerfiktionalen Elementen und intertextuellen Verweisen, um, aus der außerfiktionalen Perspektive betrachtet, eine anthropologische Gleichheit zwischen Figuren und Rezipienten herzustellen.

      In seinem Vorbericht bekennt der Verfasser, dass er, „waͤhrend er dieses Schauspiel schrieb, tausend Thraͤnen vergossen“ habe, und schließt daran die Hoffnung, des Zuschauers Tränen möchten sich mit seinen „mischen“ (NS 4). Dies ist aus produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive aufschlussreich: Bewusst schreibt sich der Dichter in eine bestimmte Tradition ein – den Gefühlskult der Empfindsamkeit, das weinerliche Lustspiel, das Rührstück, die radikale Affektbetonung des Sturm und Drang1 – und erwartet ein Publikum, das diese Rezeptionshaltung kennt und kultiviert. Mit der Gestaltung von Handlung und Figuren aktiviert er ein (möglicherweise diffuses, aber doch vorauszusetzendes) Wissen über Theaterkonventionen und Literaturgeschichte und kann so mit bestimmten Effekten kalkulieren.

      Bereits die ersten beiden expositorischen Szenen, die bezeichnenderweise die beiden Sklavinnen Ada und Lilli in den Blick nehmen, sollen ein bestimmtes Bild der schwarzen Sklaven evozieren. Die beiden Frauenfiguren werden nicht als exotische oder tierähnliche Fremde gezeichnet; Ada, die weibliche Hauptfigur des Stücks, ist eine Reflektierende, aber mehr noch Fühlende, Liebende. Ihr „Leiden“ (NS 15) ist kein primär physisches, sondern ein emotionales: Getrennt von ihrem Geliebten, wird sie von John sexuellSexualität, Sex bedrängt. Gedanken und Gefühle artikuliert sie ausgiebig – in genau jener Sprache, die man auch von einer weiblichen Figur europäischen Hintergrunds in einem Stück auf einer deutschen Bühne in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erwarten würde.2 Die Prosa ihrer Rede ist wohlklingend, gefühlsbetont, von Interjektionen („Weh mir!“, „Ach!“; NS 10–13), Parallelismen und Anaphern (NS 11) gekennzeichnet, vor allem aber durchaus poetisch und bildreich.3 Die Reden der Sklavenfiguren durchziehen zudem Schlagworte des bürgerlichen Verhaltens-, Werte- und Befindlichkeitskanons: Immer wieder ist von Treue, TugendTugend, Liebe, Hoffnung, Unschuld u.Ä. die Rede.4 Besonders auffällig sind in dieser Hinsicht zwei Leitmotive: das Herz5 und das Weinen.

      Alle Hauptfiguren sprechen zu irgendeinem Zeitpunkt, meist wiederholt, von ihrem Herzen. Vielsagend sind dabei die Bedeutungsunterschiede: Während für die Sklaven – und William! – das Herz eine Metapher für die eigene Emotionalität, den Schmerz, den Instinkt oder eine auf das gesamte IndividuumIndividuum, die Person, das Ich verweisende Synekdoche darstellt, verspottet John den Gebrauch des Worts. Charakteristisch ist Szene I,3. William ist schockiert über Johns menschenverachtendes Sklavenbild:

      William. Meine Lippen schweigen, aber mein Herz widerspricht laut.

      John. Das Herz! das Herz! Leerer Schnickschnack […] Das Herz ist ein Klumpen Fleisch, weiter nichts. Es gehorcht dem Willen eben so gut als Arme und Beine. (NS 18)

      Kurz darauf versucht Ada, sich gegen Johns Zudringlichkeiten zu wehren:

      John. Du scherzest mein Kind.

      Ada. Scherzt man auch mit thraͤnenden Augen und blutendem Herzen?

      John. Da haben wirs! da ist das Herz schon wieder. Eine verdammte Redensart! Ich wette, dein Herz blutet nicht um einen Tropfen mehr als vorher. (NS 19–20)

      John ridikulisiert den metaphorischen Rekurs auf das Herz, indem er ihn als gefühlsduseliges Gerede brandmarkt und ihm ein wörtliches, mechanistisches Verständnis gegenüber stellt. Statt im Herzen den Ursprung von Empathiefähigkeit und Menschlichkeit zu sehen, reduziert er es, seinem Bild des Sklaven entsprechend, auf das rein Körperlich-Materielle.6 KotzebueKotzebue, August von profiliert so die Figur John – vor der Folie der empfindsamen Affektbejahung – zum eigentlichen ‚Unmenschen‘.7 Dies bedeutet im Umkehrschluss: Jene, die sich auf ihr Herz berufen können, sind würdige Menschen.

      Ähnliches gilt für das Weinen. Im Drama weinen viele, Ada, Lilli, Truro, Ayos8 – also die schwarzen Sklaven – und William. Als eine Sklavin die erschütternde Geschichte erzählt, wie sie ihr eigenes Kind umgebracht hat,9 reagiert William zunächst „zerknirscht“: „Mein Herz will mir springen!“ Truro wischt sich eine Träne aus den Augen, William „verhuͤllt sein Gesicht“ und weint. Einer der Sklaven kommentiert diese Reaktion aufgeregt: „[…] wahrhaftig es sind Thraͤnen. […] Sieh da, ein Weißer, der auch ein Mensch ist“ (NS 60–61). Die wirkästhetische Logik dieser Szene ist bemerkenswert: Indem William beweist, dass er des „MitleidenMitleid[s]“ (NS 60) fähig ist – die