sondern auch als die Menschenwürde des Bemitleideten sichtbar machende und garantierende Geisteshaltung markiert. Sympathie und Rezeptionshaltung lenkt Kotzebue recht explizit: durch Regieanweisungen, ausdrücklich formuliert in Redeanteilen, durch Kontrasteffekte. Die Figur William wird als innerfiktionaler Stellvertreter des Rezipienten angeboten; ihre Reaktionen und Bewertungen sollen übernommen und nachgeahmt werden. Die rhetorische HerabwürdigungEntwürdigung der Sklaven durch Sprechakte (Tiervergleiche, sowohl in der Fremd- als auch in der Selbstbeschreibung, und Verdinglichungen) sowie die Szenen und Erzählungen extremer GewaltGewalt gegen die Sklaven führen die Entwürdigungen drastisch vor Augen – und dienen ex negativo als Plädoyer für Gleichheit und Menschlichkeit. Nachdrücklich demonstriert das Stück: Die Entwürdigten sind keineswegs würdelosWürdelosigkeit. Vielmehr sind es jene, die Urheber von Entwürdigungen sind sowie des Mitleidens und der EmpathieEmpathie unfähig sind, die ihre Menschenwürde kompromittieren.
IV. Die Menschenwürde im Werk Georg BüchnersBüchner, Georg
Die Menschenwürde ist das zentrale Thema im Oeuvre Georg BüchnersBüchner, Georg.1 Mit beeindruckender Vehemenz fordern seine Texte die AchtungAchtung der Würde des Einzelnen ein. Sein literarisch-ästhetischer Umgang mit diesem Begriff lässt sich als konsequente Abkehr vom Menschenwürdeverständnis der von Heine geächteten „Kunstperiode“ beschreiben, als Distanzierung von seinem „Lieblingsfeind“,2 dem „Idealdichter“3 SchillerSchiller, Friedrich, und dessen Würdebegriff. Doch das greift zu kurz: Zum einen ist in den Gymnasialschriften Schiller durchaus noch die entscheidende Bezugsgröße, zum anderen greift Büchner Tendenzen auf, die auf den vorangegangenen Seiten benannt wurden: die Apologie des IndividuumsIndividuum, die bei J.M.R. LenzLenz, Jakob Michael Reinhold und K.P. MoritzMoritz, Karl Philipp (in der Erfahrungsseelenkunde) zu beobachten ist, der Fokus auf die KreatürlichkeitKreatürlichkeit und die soziale Bedingtheit des Menschen, die Lenz betont, die von LessingLessing, Gotthold Ephraim formulierte MitleidsMitleid- und Empathiepoetik, die in gesteigerter Form auch bei KotzebueKotzebue, August von zu finden ist, schließlich literarisch artikulierte und ästhetisch transportierte Kritik an Ausbeutung und GewaltGewalt. In den im Folgenden analysierten Texten – den Gymnasialschriften über den Freitod, dem Hessischen Landboten, Lenz und schließlich Woyzeck –, die jeweils einen ganz eigenen Beitrag zum Menschenwürdediskurs liefern, radikalisiert Büchner diese Ansätze. Zusammen ergeben sie die Dimensionen einer revolutionären Ästhetik der Menschenwürde.
IV.1. Die Menschenwürde in BüchnersBüchner, Georg Schulschriften und -reden über den Freitod
Der junge BüchnerBüchner, Georg ist noch in traditionellen Denk- und Deutungsmustern verhaftet. In den Schriften und Reden des Gymnasiasten manifestieren sich jedoch bereits Aspekte, die für seine spätere Menschenwürdeauffassung entscheidend sind.
In seiner Ende 1829 / Anfang 1830 entstandenen Schulrede HeldenHeld-Tod der vierhundert Pforzheimer verherrlicht BüchnerBüchner, Georg die kollektive Selbstaufopferung eines Pforzheimer Heeres im Dreißigjährigen KriegKrieg als freie Entscheidung autonomerAutonomie IndividuenIndividuum, für eine Idee in den Tod zu gehen.1 Am Anfang des Textes steht eine Definition des Erhabenen, die stark an SchillersSchiller, Friedrich Terminologie erinnert. In dessen Schriften findet sich neben anderen der Begriff der „erhabenen Würde“; sie ist eine dramenpoetische Kategorie, die auf der anthropologischen Grundannahme beruht, dass der Mensch mit Hilfe seines WillensWille, freier Wille und seiner VernunftVernunft in der Lage ist, sich über die Zwänge der Natur hinwegzusetzen.2 Büchner nimmt diesen Gedanken auf:
Erhaben ist es, den Menschen im Kampfe mit der Natur zu sehen, wenn er mit gewaltiger Kraft sich stemmt gegen die Wut der entfesselten Elemente und, vertrauend der Kraft seines Geistes nach seinem Willen die Kräfte der Natur zügelt. (MA 17)
Das Erhabene ist an dieser Stelle sowohl anthropologisch als auch ästhetisch zu verstehen: Erhaben ist zum einen der Mensch, dessen Geist und Willen mit der Natur kämpfen, zum anderen – und aus syntaktischer Perspektive zuallererst – das „[S]ehen“, die Wahrnehmung des kämpfenden Menschen. Was BüchnerBüchner, Georg hier beschreibt, ist also auch ein ästhetisches Phänomen: Der Mensch in seiner ästhetischen Wahrnehmung rückt in den Fokus.
„[N]och erhabner“ sei der Kampf mit dem Schicksal, das Eingreifen in die Geschichte und die Aufopferung des eigenen Lebens für einen Zweck, der den HeldenHeld einen „rühmlichen Tod“ und „Unsterblichkeit“ einbringe (MA 17): den Kampf „für Glaubens-FreiheitFreiheit“, „für das Licht der Aufklärung, […] für das, was dem Menschen das Höchste und heiligste ist“ (MA 19). Das Eintreten „für das heiligste Recht der Menschheit“ (MA 22–23), mithin für das Recht auf Wissen und eigenständiges Denken, sei Frucht der Reformation. Erst durch ihr Verdienst „erkannte die Menschheit ihre Rechte und ihren Wert“, ohne sie wäre das „Menschen-Geschlecht, das sich jetzt zu immer freieren, zu immer erhabneren Gedanken erhebt, dem TiereTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung gleich, seiner Menschen-Würde verlustig“ (MA 19). Dass die Pforzheimer den Tod frei und mit großer Überzeugung wählten, ist für den jungen BüchnerBüchner, Georg eine zutiefst menschenwürdige Handlung. Sie „trieb nicht Wut nicht Verzweiflung zum Kampf auf Leben und Tod (dies sind zwei Motive die den Menschen statt ihn zu erheben zum Tiere erniedrigen)“; vielmehr „hatten [sie] freie Wahl, und sie wählten den Tod“ (MA 21–22). Er fährt fort:
Dies ist das große, dies ist das erhabne an ihrer Tat; dies zeugt von einem Adel der Gesinnung, der weit erhaben ist über die niedrige Sphäre des Alltagsmenschen, dem sein Selbst das Höchste ist, sein Wohlsein der einzige Zweck, der jedes höheren Gefühls unfähig und verlustig der wahren Menschen-Würde, seine VernunftVernunft nur gebraucht um tierischer als das TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung zu sein. (MA 22)3
Gleich zweimal benutzt BüchnerBüchner, Georg das Kompositum „Menschen-Würde“, das in seinem Werk ansonsten nicht vorkommt.4 Was er darunter versteht, bleibt dem Würdebegriff der Aufklärung und der Klassik verpflichtet: Er greift die traditionelle Bindung der Würde an die VernunftfähigkeitVernunft des Menschen auf („Kraft seines Geistes“), die es ihm erlaubt, seine Wünsche zu reflektieren und autonomAutonomie zu handeln. Die Grenze zwischen Mensch und TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung ist eindeutig; wer seine Menschenwürde verliert, wird zum Tier, ja fällt sogar noch eine Stufe tiefer. Aus dem besonderen „Wert“ des Menschen ergeben sich die mehrfach erwähnten „heiligsten Rechte“, die hier eine recht unbestimmte „FreiheitFreiheit“ bezeichnen. Bemerkenswert sind die politischen Folgerungen des Gymnasiasten: Den Aufständischen der Französischen Revolution, ebenso Vorbilder wie die Pforzheimer, war „ein freier Tod lieber als ein sklavisches Leben“ (MA 18). Denn das Schlimmste, was einem Staat passieren könne, sei der „Verlust [der] geistigen Selbstständigkeit“ (MA 24). Das Funktionieren des Staates ist demnach an die AchtungAchtung und Gewährleistung der individuellen Menschenwürde notwendig gebunden – hier scheint geradezu eine politische Utopie auf.
In der im September 1830 gehaltenen Rede zur Verteidigung des Kato von Utika rechtfertigt BüchnerBüchner, Georg leidenschaftlich (und ohne Bezug auf GottschedsGottsched, Johann Christoph Drama) den SuizidSuizid des Cato, indem er ihn als „besonnene[]“ (MA 29) Tat eines großen, freiheitsliebenden Charakters darstellt. „Vaterland, Ehre und FreiheitFreiheit“ sind die Ideale, die Cato verkörpert; wenn Freiheit der einzig mögliche Zweck der menschlichen Existenz ist, dann ist auch der Freitod als Mittel, diese Freiheit zu wahren, erlaubt. Gleich mehrfach verbindet Büchner Catos Handlung mit der Vokabel „Würde“: Der Tod wird als das „Einzig-würdige“ bezeichnet (MA 29), als ein „würdige[r] Schlußstein“ (MA 30), der „seines ganzen Lebens würdig“ ist (MA 31) und der „Würde seines Lebens geziemte“ (MA 32). Im Kontext der stoischen Würdevorstellung, die er im Text referiert und somit als den einzigen zulässigen Bewertungsrahmen festsetzt, hält der Gymnasiast den Freitod für legitim: Neben dem drohenden Verlust der Freiheit5 nennt Büchner Catos „Unvermögen, sich in eine seinen heiligsten Rechten, seinen heiligsten Grundsätzen widersprechende Lage zu finden“ (MA 33), als nachzuvollziehenden Beweggrund für den Suizid. Der Mensch besitzt demnach unveräußerliche