bei LessingLessing, Gotthold Ephraim hat das Mitleid hier einen reziproken Effekt: Jene, die angesichts des geschilderten und dargestellten Leids weinen – wie William, aber auch der Dichter und, so die in der Vorrede geäußerte Hoffnung, die Zuschauer –, sind Menschen. Dadurch, dass die Sklaven und ihr Schicksal beweint werden, werden sie als gleichwertige, mitleidswürdige Menschen wahrgenommen. Die Menschlichkeit der Sklaven, mithin ihre Würde, wird demnach nicht nur innerfiktional, indem sie selbst als emotionsfähige Figuren gezeigt werden, sondern auch im ästhetischen Moment, im Rezeptionsvorgang, konstituiert. Lessings Maxime, dass der mitleidigste Mensch der beste Mensch sei, hat auch hier volle Gültigkeit.
Dieses Prinzip wird nun durch mehrere Faktoren verstärkt. Zum einen enthält das Drama eine Vielzahl von epischen Elementen, kurze ‚Binnenerzählungen‘, in denen Sklavenfiguren ihre persönliche Biographie rekonstruieren oder Einblick in den Sklavenalltag geben, meist gespickt mit grauenhaften, abstoßenden Details.11 Als ‚historische‘ Anekdoten liefern diese Passagen Faktenwissen über die bestürzende Situation der Sklaven. Durch das Erzählen behaupten sich die entwürdigtenEntwürdigung, zu Arbeitstieren degradierten Sklaven zudem als Personen, die ihre eigene Leidensgeschichte nicht nur reflektieren, sondern auch sprachmächtig und rhetorisch versiert verbalisieren können. Schließlich – und das ist vielleicht der entscheidende Effekt – verleihen sie dem abstrakten Faktum der menschenwürdeverletzenden Qualität der Sklaverei auf der Bühne einen verkörperten Ausdruck. Indem die Geschichten auf der Bühne von einer Figur erzählt werden, erhalten sie einen KörperKörper – und werden so zur Projektionsfläche für das MitleidMitleid der Zuschauer. Diese Rezeptionshaltung wird, und dies ist der zweite Faktor, im Text auf recht offensichtliche Art und Weise gesteuert. Innerfiktionaler Adressat der Erzählungen ist in den meisten Fällen die Figur William; in seinen „mitleidig[en]“ (NS 44) Reaktionen – verbal in seiner Rede oder gestisch in Regieanweisungen – ist die erwartete Reaktion des Rezipienten vorweggenommen und vorgegeben.12
Zum dritten erfährt die Figurenzeichnung im Verlauf des Stücks eine merkliche Entwicklung. Wurden die Sklaven, besonders Ada, als empfindsame Menschen eingeführt, wird diese Empfindsamkeit gegen Ende hin zu extremem Pathos gesteigert. Bereits die Wiedervereinigungsszenen im zweiten Akt zwischen Vater (Ayos) und Sohn (Zameo) bzw. Mann (Zameo) und Frau (Ada) waren von affektiver Erregung geprägt;13 der Höhepunkt ist jedoch der tragische Schluss des Stückes. John hat gedroht, Adas Ehemann Zameo zu töten, sollte sie sich ihm nicht hingeben. Ada ist verzweifelt, zaudert, sucht nach einem Ausweg, bittet ihre Freundin Lilli um ein Messer, überlegt sogar, John nachzugeben. Schließlich überredet sie ihren geliebten Zameo, sie umzubringen, um sie nicht zur „Buhlerin eines Unmenschen [zu] erniedrigen“ (NS 133), was sie zu einer Art Liebesbeweis, aber auch zu einem Akt des MitleidsMitleid (!) (vgl. NS 130) hochstilisiert. Merklich verändern sich im dritten, finalen Akt ihre Sprache und Gestik. In manchen Passagen redet sie nur noch in exclamationes, Aposiopesen, rhetorischen Fragen, unterbrochen von Interjektionen, Geminationen und etlichen Pausen – graphisch markiert durch eine Vielzahl von Ausrufezeichen und Gedankenstrichen.14 Gehäufte Regieanweisungen beschreiben Gesten der Verzweiflung und schnelle Bewegungen auf der Bühne.15 Gleich zweimal fällt sie sogar in Ohnmacht.16 KotzebueKotzebue, August von inszeniert Adas extreme Emotionslage mit großem dramaturgischem Aufwand. Die Figur selbst kommentiert die eigene Gemütslage: „[S]ieh mich an! sieh wie jede Nerve zittert, fuͤhle meine Wange wie sie gluͤht, meine Brust wie sie klopft; kann ich meinem Puls gebieten?“ (NS 107). Ada verkörpert zu diesem Zeitpunkt keineswegs das klassische Ideal der ‚stillen Größe‘, der ‚Ruhe im Leiden‘ oder der SchillerschenSchiller, Friedrich ‚Würde des Ausdrucks‘ – was die Figur trotzdem nicht delegitimiert. Ihre fehlende Affektkontrolle ist, vor dem Hintergrund des im Stück entwickelten Menschenbildes und der Definition von Emotionalität und Empathiefähigkeit als Grundlage der Menschenwürde, zwar extrem, aber in sich stimmig und konsequent.
Daher wirkt es zunächst merkwürdig, wenn sich Ada in der Folge zweimal selbst als „ruhig“ beschreibt (NS 110, 121). Verständlich wird dies erst mit Blick auf ihren Tod. Dieser ist ein Zitat; KotzebueKotzebue, August von gestaltet Ada als Nachfolgerin Emilia Galottis. Ihr Tod, so Ada, sei das einzige „Mittel, meine Unschuld zu retten“ (NS 123). Gegenüber Zameo präzisiert sie:
Ada. Ich habe dir ewige Treue geschworen, ich habe meinen Schwur gehalten, aber wer steht mir für die Zukunft? wer schuͤtzt mich vor GewaltGewalt? wer vor den sanfteren Regungen des MitleidsMitleid, wenn die Gefaͤhrten unsers Elends um mich her knieen, und mit blutigen Thraͤnen das Opfer meiner Unschuld heischen? – Wessen Arm soll ich auffodern, wenn der deinige mich zuruͤckstoͤßt? […] (NS 129)17
Aufschlussreich ist genau der Punkt, an dem Ada von Emilia abweicht: Sie hat keine Angst vor der eigenen SexualitätSexualität, Sex, vor den Wallungen des eigenen Blutes, die ihre Unschuld kompromittieren könnten, sondern vor den „Regungen des MitleidsMitleid“ für ihre Leidensgenossen. Da sie diese nicht verbannen kann, ohne ihre eigene Würde zu gefährden, will sie sterben. Ihr Todeswunsch, wenn auch pathetisch formuliert, ist keine Kurzschlussreaktion, keine Affekthandlung, sondern wird im Stück mehrfach vorweggenommen. In diesem Sinne ist Ada „ruhig“; sie ist „Herr[in] [ihres] Schicksals“ (NS 110). Ihr Tod ist die autonomeAutonomie Entscheidung einer zwar leidenschaftlichen, aber doch der Reflexion fähigen Figur.
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Doch KotzebueKotzebue, August von gestaltet die Sklavenfiguren nicht nur als dem Rezipienten emotional-affektiv gleiche Menschen. In einem Dialog über die Qualen ihrer Existenz führen die Sklaven die anatomisch-physiologische Gleichheit zwischen Europäern und Afrikanern als Beweis für die Unrechtmäßigkeit von Ausbeutung und EntwürdigungEntwürdigung an:
Truro. So geht man mit uns um, weil wir schwarz sind.
Lilli. Und doch war die Muttermilch, welche wir gesogen, auch weiß.
Ada. Und unser Blut ist auch warm und roth. (NS 48)
Hatte John im Rededuell mit William die Menschlichkeit der Sklaven auf basale physiologische Prozesse reduziert und auch das Berufen aufs Herz entmetaphorisiert, so drehen die Sklaven diese Denkfigur hier um. Die Farbmotivik verbindet sich mit der Opposition innen vs. außen: Äußerlich sind die Sklaven anders, innerlich nicht. Gerade das Körperlich-Kreatürliche untermauert die grundsätzliche IdentitätIdentität aller Menschen und den Anspruch auf AchtungAchtung ihrer Würde.
Schließlich betont KotzebueKotzebue, August von die moralische Gleichheit, wenn nicht sogar Überlegenheit, der Sklaven, die er bereits im Vorbericht mit „zwey wahre[n] Anecdoten“ zu belegen versucht (vgl. NS 4–6). Im Stück soll der Zuschauer zum einen Adas Treue und TugendhaftigkeitTugend bewundern, zum anderen die spontane, vorreflexive MoralitätMoral, Moralität des Zameo. Kurz nachdem ihn der Meisterknecht misshandelt hat, rettet er diesen vor einem tödlichen Schlangenbiss; eine Belohnung lehnt er ab. William preist den „edle[n] Juͤngling“ (NS 83): „Mensch! ich glaubte immer, GottGott habe aus Einem Stoffe uns geformt; ich irrte mich, er schuf euch besser!“ (NS 84).18 Die Benennung oder „Anrufung“19 Zameos als „Mensch“, die, als Sprechakt gedeutet, diesen durch Sprache als solchen konstituiert, ist ein direkter Verweis auf die Apostrophierung des Meisterknechts als „Unmensch“ (NS 81; vgl. NS 110). Dies weist auf die Ambiguität der Apostrophen und der Metaphern hin, die sich auf die Sklaven und ihre Herren beziehen. Während die Sklaven in der sprachlichen Benennung durch ihre Peiniger, aber auch in der Versprachlichung ihrer eigenen Erfahrungen immer wieder in die Nähe von Tieren gerückt werden, passiert ganz Ähnliches mit den Sklavenhaltern. Ada nennt John spielerisch „Affe“ (NS 21); den Meisterknecht fleht sie an: „Tyger! du hast ein menschlich Antlitz! Erbarme dich!“ (NS 102). Diese Klimax ist signifikant: Spricht Ada dem Meisterknecht zunächst jede Menschlichkeit ab, indem sie ihn theriomorphisiertTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, weist sie sodann auf sein „menschlich Antlitz“ hin, eine Formulierung, die ihn mit ihren religiösen Konnotationen daran erinnern soll, dass er als würdiges EbenbildGottebenbildlichkeit Gottes geschaffen wurde. Ihr abschließender Appell ist die Forderung, sich der menschlichen Würde würdig zu erweisen – indem er MitleidMitleid zeigt.
Den Rezipienten fordert dieses Oszillieren zwischen Mensch und Un-/Nicht-Mensch sowohl in Bezug auf die Sklaven als auch auf die Sklavenhalter