degradiert.20 Das Oszillieren zeigt sich auch in der Figurenkonstellation: Im Drama stehen sich nicht die weißen Kolonialherren auf der einen und die schwarzen Sklaven auf der anderen Seite entgegen. Vielmehr steht der schwarze Meisterknecht dem weißen Sklavenhalter John in Bezug auf Menschenverachtung, Sadismus und Brutalität in nichts nach; William hingegen solidarisiert sich mit den Sklaven und wird von diesen akzeptiert und geschätzt. Menschlichkeit und Menschenwürde haben demnach nichts mit Herkunft, „Race“ oder äußerlichen Merkmalen zu tun.
III.4. MenschenwürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung und MenschenrechteMenschenrechte
MenschenwürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung in Form von extremer, sadistischer GewaltGewalt und Erniedrigung werden in Die Negersklaven – zumindest im Text des Druckes – keineswegs ausgeklammert oder nur angedeutet. Mit bisweilen expliziter, schockierender Drastik werden sie zum einen in der Figurenrede beschrieben oder narrativ erinnert, zum anderen in konkreten Szenen auf der Bühne dramatisiert. So erzählt z.B. John, wie er ein „wildes Maͤdchen“ durch sadistische Folter dazu brachte, sich ihm hinzugeben: „Ich ließ ihr den ganzen Leib mit Stecknadeln sanft zerprickeln. Dann wurde ihr in Oel getauchte Baumwolle um die Finger gewickelt, und angezuͤndet“ (NS 20). Nur wenig später berichtet der Meisterknecht, der John an Brutalität sogar noch übertrifft, wie er einem alten Sklaven, der seine Arbeit nicht zufriedenstellend verrichtete, den Rücken „auf[ge]hauen [hat], und Salz und spanischen Pfeffer hinein streuen“ ließ (NS 25). Es folgt ein kurzer, menschenverachtender Dialog:
John. […] warum befahlst du nicht ihn aufzuwinden, so haͤtte er es besser gefuͤhlt.
M. Kn. War nicht noͤthig. Die Feuerglut, bey welcher er ewig schwitzt, hat ihn so ausgedoͤrrt, daß bey jedem Hiebe die Haut sich von den Knochen loͤst, wie die Schaale von einer Kaffeebohne. […]
John. Er wird schon zu alt, man muß ihn nach und nach ruhig sterben lassen. […] Ich lasse ihn weniger arbeiten, und gebe ihm weniger zu essen, so verlischt er endlich wie ein Licht. (NS 25–26)
GewaltGewalt und Folter sind alles andere als abstrakte Vorgänge. Mit technokratischer Detailversessenheit werden genüsslich Folterpraktiken diskutiert. Das onomatopoetische Verb „zerprickeln“, die Nennung von Körperteilen und körperlichenKörper Phänomenen, entmenschlichende Vergleiche, schließlich Verben und Nomina der Gewalt evozieren ein frappierendes Bild des Schreckens, angesichts dessen das Publikum vielleicht sogar zunächst eine Art voyeuristische Faszination für das Ekelhaft-Abstoßende verspürt. Die Sklaven erscheinen in diesen Beschreibungen nicht als Personen oder Subjekte, sondern werden zu reinen ObjektenObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, Dinghaftigkeit sadistischer Lust- und Machtphantasien degradiert, auf ihre KreatürlichkeitKreatürlichkeit reduziert oder, wenn z.B. kurz darauf vom „Negerleder“ (NS 27) die Rede ist, verdinglicht. John verfügt über seinen materiellen Besitz – die Sklaven – nach Belieben und quasi spielerisch. Einen ‚Wert‘ hat ein Sklave perverserweise nur, wenn er verdinglicht wird: als Arbeitskraft und als Lustobjekt – sei es sexuelleSexualität, Sex Lust1 (Ada) oder der Genuss, den John aus Misshandlung und Qual zieht.
Die Geschichten, die die Sklaven selbst aus ihrem Alltag oder ihrer Vergangenheit erzählen, haben denselben Effekt. Sie berichten von Misshandlungen, von gescheiterten Fluchtversuchen, von Verstümmelungen, von Menschenjagd, vom Status der Sklaven, die den Herren weniger als Hunde gelten oder wie Pferde vor den Wagen gespannt werden (vgl. NS 46–52 und 67–68). Alle diese Passagen mit ihren grausigen Details haben eine Kontrastfunktion: Sie dienen als negative Folie für die diskursive wie literarische Konstitution der Menschenwürde. Die explizit verbalisierte und rekapitulierte Missachtung lässt die Behauptung der Menschenwürde umso virulenter erscheinen. Es besteht eine Interdependenz zwischen der Einsicht in die Würde der Sklaven und der Empörung über die geschilderten WürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung; deren Darstellung wird durch die Wirkintention gerechtfertigt, eben die Feststellung, dass die Behandlung der Sklaven menschenunwürdig und daher moralisch zu verurteilen ist.
Phänomenologisch betrachtet schildert KotzebuesKotzebue, August von Drama unterschiedliche Formen körperlicher GewaltGewalt.2 Die Entführungen zum Zweck der Ausbeutung durch Zwangsarbeit in Kolonien, von denen etwa Ayos und Zameo erzählen, sind eine Form lozierender Gewalt; der KörperKörper wird zur „verschiebbaren Masse“. Raptive Gewalt – das Benutzen des Körpers mit dem Ziel des sexuellenSexualität, Sex Lustgewinns – droht der Figur Ada von Seiten Johns. Was John und der Meisterknecht den Sklaven antun, ist autotelische Gewalt: Das Beschädigen oder Zerstören der körperlichen Integrität dient nicht wirklich einem bestimmten Ziel – die Gewalt selbst wird zum Zweck.3 Gemeinsam ist allen drei Formen der Gewalt, dass sie die Sklaven depersonalisieren und auf ihren als ‚DingObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, DinghaftigkeitDing, Verdinglichung, Dinghaftigkeit (s. Objekt, Objektifizierung)‘ wahrgenommenen Körper reduzieren.
Die Figur William verkörpert indes, wie bereits erwähnt, innerfiktional die vom Publikum erwartete Reaktion. In einer Regieanweisung heißt es: „([…] Sein Gesicht gluͤht von Unwillen)“ (NS 26). Der Zuschauer soll wie William mit Betroffenheit registrieren, dass die Sklaven nicht nur entwürdigtEntwürdigung werden, sondern – und hier kommt nun eine entscheidende Dimension hinzu – quasi rechtelos sind. Als das Drama 1794 uraufgeführt wurde, war die Frage nach den MenschenrechtenMenschenrechte, ihrer Kodifizierung und Gültigkeit äußerst aktuell und politisch brisant.4 Im Text wird sie nicht nur implizit verhandelt, sondern ausdrücklich angesprochen. Auf Williams naive Frage, ob die Sklaven nicht einen Gerichtshof anrufen könnten, erwidert Truro:
Ein Gerichtshof? – Nicht einmal als Zeugen duͤrfen wir auftreten, vielweniger als Klaͤger. Ein Neger hat nie Recht. Jeder Europaͤer, selbst der Fremdling, darf ihn ungestraft peitschen, und hebt der Neger die Hand gegen ihn auf, so ist er des Todes. (NS 50)
Für die Sklaven gelten die Bürger- und MenschenrechteMenschenrechte nicht; weder vor Recht und Gesetz noch von den Kolonialherren werden sie als gleichwertige Rechtssubjekte anerkannt. De facto stehen sie außerhalb des Gesetzes. Deshalb reagiert John spöttisch auf Ayos’ Versuch, sich gegen Willkür und Ungerechtigkeit zu wehren:
Ayos. […] ich verklage dich.
John. (laͤchelnd) Wo?
Ayos. Vor GottGott! (NS 87)
John geht hierauf nicht einmal ein; für eine solche Argumentation ist er, der in den Sklaven eine von GottGott wesenhaft anders erschaffene Rasse sieht, nicht empfänglich. Wenn dieser Ausspruch demnach keine primär innerfiktionale Funktion hat, bleibt als Adressat nur der außerfiktionale Rezipient. Bereits im Dialog mit John (I,6) hatte William eine Aufforderung formuliert, die man durchaus als Durchbrechen der innerfiktionalen Kommunikationssituation deuten könnte: „Redet laut, ihr Diener der Kirche! widersprecht laut!“ (NS 37). Da das positive Recht ebenso wie die koloniale Praxis die Gleichheit aller Menschen ignoriert, ist Gott die letzte Instanz. Doch selbst diese ultimative Garantie – die Gleichheit aller Menschen vor Gott – lässt nicht auf eine Veränderung im Diesseits hoffen. Die Zeit, in der „die Natur wieder in ihre Rechte tritt“,5 wie es Ada formuliert, in der mit Lillis Worten „die Farbe kein Verbrechen mehr ist“, in der also die natürliche Gleichheit aller Menschen uneingeschränkt respektiert wird, bleibt innerfiktional eine erst für das Jenseits zu erhoffende Utopie (NS 52). Außerfiktional kann jedoch die Empörung des Rezipienten – über die brutalen EntwürdigungenEntwürdigung und das christlichen Grundsätzen widersprechende Menschenbild – zu einem Movens für Veränderung werden. Indem das Stück hier ex negativo die Forderung nach der universellen Gültigkeit elementarer Rechte wie dem Recht auf leibseelische Integrität oder der Anerkennung der Sklaven als Rechtssubjekte entwickelt, entfaltet es am deutlichsten sein sozialkritisches Potential.
III.5. Kindsmord und Freitod als dramatische Prüfsteine der Menschenwürde
Schockierendes wird auch direkt auf offener Bühne dargestellt. Szenen wie die Misshandlung Zameos (NS 81–82) delegitimieren das Verhalten der Kolonialherren; diese werden als unmenschlich gebrandmarkt, weil sie die Sklaven, die als würdige Menschen EmpathieEmpathie und MitleidMitleid