die Metaphorik des EkelhaftenEkel, Ekelhafte und die Sprache der KreatürlichkeitKreatürlichkeit auch auf den Großherzog und sein Gefolge bezogen werden, nur in einem deutlich schärferen, anklagenderen Ton, entsteht wieder eine Gleichheit zwischen den entwürdigtenEntwürdigung Bauern und der Regierung; dem gesamten Herrscherapparat wird ebenfalls – allein durch die sprachliche Präsentation – die Würde abgesprochen:
Der Fürst ist der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriecht, die Minister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz. Die hungrigen Mägen aller vornehmen Herren […] sind Schröpfköpfe, die er dem Lande setzt. Das L. was unter seinen Verordnungen steht, ist das Malzeichen des TieresTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, das die Götzendiener unserer Zeit anbeten. Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen – mit Orden und Bändern decken sie ihre Geschwüre und mit kostbaren Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber. Die Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren, die Söhne des Volks ihre Lakaien und Soldaten. (MA 50)8
An einer zentralen Stelle prallen zwei unterschiedliche Definitionen des Menschen aufeinander:
Im Namen des Großherzogs sagen sie [i.e. die großherzoglichen Diener; MG], und der Mensch, den sie so nennen, heißt: unverletzlich, heilig, souverän, königliche Hoheit. Aber tretet zu dem Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel. Es ißt, wenn es hungert, und schläft wenn sein Auge dunkel wird. Sehet, es kroch so nackt und weich in die Welt, wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen, wie ihr, und doch hat es seinen Fuß auf {eurem} Nacken […]. (MA 48; m. H.)
Hier wird paradigmatisch zwischen einer kontingenten, sozialen Würde einerseits und einer Würde, die in religiös gefärbte Sprache gekleidet („Sehet“, „Menschenkinde“), letztlich aber naturrechtlich begründet ist, andererseits differenziert. Letztere ist jedem Menschen eigen. Die dahinterstehende (politische) Aussage ist folgende: Alle Menschen sind prinzipiell gleich; Ausbeutung, GewaltGewalt, Unterdrückung und HerabwürdigungEntwürdigung beruhen auf künstlich hergestellten Hierarchien und verstoßen (in der suggerierten biblischen Deutung) gegen GottesGott Willen.
IV.2.2. Die naturrechtlich begründete Menschenwürde
Heinz Müller-Dietz sieht das Hauptanliegen des Büchnerschen Gesamtwerkes in der Rettung und der Restitution der Menschenwürde und der MenschenrechteMenschenrechte aus naturrechtlicher Sicht.1 Der Hessische Landbote beziehe „um der Menschenrechte und -würde des ausgebeuteten und unterdrückten Volkes willen unmißverständlich gegen die herrschende Rechts- und Gesellschaftsordnung Stellung“2 und rufe zum Umsturz auf. Dieser Befund lässt sich präzisieren: Der naturrechtlich geprägte Menschenwürdebegriff wird im Text ex negativo entwickelt, durch den Nachweis, dass die naturrechtliche Idee eines die gleiche Würde aller Menschen garantierenden und respektierenden Staates in der Realität vollkommen pervertiert ist. Diesen Gedanken kleidet BüchnerBüchner, Georg in das Bild- und Sprachmaterial der Bibel: „GottGott [schuf] alle Menschen frei und gleich in ihren Rechten“ (MA 58), heißt es in der zweiten Hälfte des Textes.3 Doch die politisch-soziale Wirklichkeit sieht anders aus: „Ihr seid nichts, ihr habt nichts! Ihr seid rechtlos“ (MA 62). Solche auf das Provozieren von Empörung und Wut abzielenden Oppositionen werden häufiger verwendet: „Ihnen gebt ihr 6,000,000 fl. Abgaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d.h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben“ (MA 42 und 44; m. H.). Von gegenseitiger VerantwortungVerantwortung und Pflichterfüllung, wie sie in der rationalistischen Naturrechtlehre Pufendorfs aus der dem Menschenwürdebegriff zugeordneten socialitas folgen,4 kann also nicht die Rede sein. Insofern verhalten sich die Herrschenden, die die Würde ihrer Untergebenen nicht achten, selbst menschenunwürdig. Im kurzen staatstheoretischen Exkurs skizziert Büchner ein Ideal, das nur kurz darauf ironisch gebrochen wird: „Was ist denn nun das für ein gewaltiges Ding: der Staat? […] Der Staat also sind Alle; die Ordner im Staate sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen“ (MA 42; Herv. i.O.).5 Die Bauern zahlen zwar horrende Steuern, um die Ordnung des Staates aufrecht zu erhalten, doch: „In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden“ (MA 42), die Gesetze garantieren also keineswegs die Sicherung unveräußerlicher Menschenrechte und ein menschenwürdiges Leben. Die deutschen Fürsten werden als gewalttätige, gar illegitime Obrigkeit gebrandmarkt: „Sie zertreten das Land und zerschlagen die Person des Elenden“ (MA 52). Dies ist sowohl ein Bibelzitat6 als auch ein Verweis auf den für den Menschenwürdediskurs einschlägigen Begriff der „Person“.7 Er beruht auf der AutonomieAutonomie des Vernunftmenschen; dass er hier im Kontext der politischen Partizipation durch Wahlen benutzt wird, entlarvt die Beeinträchtigung sowohl der SelbstbestimmungSelbstbestimmung des Einzelnen als auch seines Rechtes auf freie Meinungsäußerung durch politische Mitbestimmung als ein Mittel der Herrschaft und der Unterdrückung. FreiheitFreiheit wird präzisiert als Selbstbestimmung,8 als Recht auf freie Entscheidungen. Dies muss gegeben sein, um der Würde des Menschen Rechnung zu tragen.
IV.2.3. Menschenwürde und MenschenrechteMenschenrechte
Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts, in Ansätzen jedoch bereits im Zeitalter der Aufklärung werden aus der Menschenwürde bestimmte MenschenrechteMenschenrechte abgeleitet.1 Auch der Hessischen Landboten impliziert einen unmittelbaren Zusammenhang. Im Zuge der Französischen Revolution seien die „Rechte des Menschen“ erklärt worden, und diese werden auch kurz ausgeführt: Alle Menschen sind von Geburt aus gleich, der Einzelne hat ein Recht auf politische Partizipation, politische Entscheidungen müssen immer Mehrheitsentscheidungen sein und durch Repräsentation den Willen der Mehrzahl widerspiegeln (MA 52). Daher seien die aktuellen Wahlgesetze „VerletzungenMenschenwürdeverletzung der Bürger- und Menschenrechte“ (MA 56).2 Diese letzte Formulierung ist eine recht eindeutige Anspielung auf die revolutionäre Déclaration des droits de lʼhomme et du citoyen (1789), deckt sich auf der Ebene der politischen Rechte aber durchaus auch mit dem, was der moderne Begriff der Menschenrechte umfasst. BüchnersBüchner, Georg spezifische Position ist aber viel grundlegender: Die eindringliche Schilderung der menschlichen KreatürlichkeitKreatürlichkeit (nicht nur im Landboten) verweist auf das, was in seinem Weltbild der „erste Beweger“3 ist: der Hunger. Das ganz basale Recht des Einzelnen auf ein Minimum an materieller Versorgung steht noch vor jedem Gedanken an politische Reformen. Genau das ist der Ausgangspunkt für die Kritik an der menschenunwürdigen Existenz im Hessischen Landboten.4
In einem kurz nach der Entstehung des Hessischen Landboten verfassten Brief an die Familie empört sich BüchnerBüchner, Georg über die behördlichen Maßnahmen gegen ihn im Zuge der Ermittlungen wegen der Flugschrift, die auch zu einer Durchsuchung seines Zimmers führten:
Ich bin empört über ein solches Benehmen, es wird mir übel, wenn ich meine heiligsten Geheimnisse in den Händen dieser schmutzigen Menschen denke. […] Auf einen vagen Verdacht hin verletzte man die heiligsten Rechte […]. (MA 293; Nr. 29)5
Zwar gehören diese Äußerungen zur pragmatischen, auf private Kommunikation abzielenden Textsorte Brief und stehen überdies im Kontext eines Rechtfertigungsdrucks gegenüber den Eltern, doch die Wortwahl gleicht jener des Landboten. Zum einen argumentiert BüchnerBüchner, Georg im Hinblick auf bestehendes Recht und beklagt, dass seine festgeschriebenen Rechte nicht respektiert wurden. Zum anderen postuliert er jenseits jeder positiven Gesetzgebung ein Recht auf Wahrung der Privatsphäre, ein Recht auf einen Raum, in den niemand eindringen und über den nur der Einzelne selbst verfügen darf.6 Dies korreliert, nun nicht mehr auf der Ebene des einfachen Bauern, sondern auf jener des Bürgersohns, mit dem bereits im Landboten scharf kritisierten Eindringen der Regierung in den persönlichen Bereich des Einzelnen und ihrer Verfügungsgewalt über die Privatsphäre, über den KörperKörper der Armen.
Wenn er von MenschenrechtenMenschenrechte spricht, benutzt BüchnerBüchner, Georg immer wieder das Epitheton „heilig“, manchmal sogar im Superlativ. Diese Kollokation erinnert an die von Hans Joas vorgeschlagene These, die den Glauben an die Menschenrechte als „Geschichte der Sakralisierung