System der Sklaverei.
Der Tod als aktiv und selbstbestimmt zu suchende Möglichkeit des Entkommens begleitet die Handlung.1 Am deutlichsten formuliert Ayos das Recht des Einzelnen, den Tod zu wählen: „Alle Wohlthaten des Himmels darf ein Tyrann uns vorenthalten, nur nicht den Tod! Verbittern kann er ihn, aber nicht hemmen!“ (NS 77). Diese Position wird innerfiktional nicht in Frage gestellt; der Freitod als einzig mögliche selbstbestimmte Handlung wird zum Beweis der eigenen Würde, gleichzeitig auch zum Mittel, die eigene Würde zu wahren. Die Kritik trifft also nicht jene, die den Tod wählen, sondern jene, die für die Umstände, die zu dieser Entscheidung führen, verantwortlich sind: die weißen Sklavenhalter.
Dies illustriert etwa die Sympathielenkung in Szene II,2, in der eine Sklavin ihren drei Tage alten Säugling, den sie mit eigenen Händen ermordet hat, auf die Bühne bringt. „[L]aͤchelnd“ erzählt sie ihre abstoßende Geschichte: Kurz nach der Entbindung wurde sie vom Meisterknecht ausgepeitscht, stillte infolgedessen das Kind zwei Tage lang mit Blut; um ihm die bevorstehenden Qualen der Sklavenexistenz zu ersparen, drückt sie ihm einen Nagel ins Herz. Den Kindsmord begreift sie als Beweis ihrer Mutterliebe, als ihre „Pflicht“. Sie selbst wünscht sich, ihre Mutter hätte Ähnliches mit ihr getan. Doch sie wurde als Kind entführt, „fuͤr einen kupfernen Kessel“ verkauft, zur Arbeit gezwungen, schließlich zu einer Gebärmaschine degradiert, „um noch mehr Sklaven in die Welt zu setzen“. Auch als Hochschwangere musste sie arbeiten;2 angesichts dieser EntwürdigungenEntwürdigung scheint ihr der Kindsmord die einzig mögliche würdige Handlung, ein Akt der Liebe und Fürsorge zu sein. Das Intentum dieser Szene wird in Regieanweisungen für andere Charaktere explizit gemacht: William ist zunächst „aufspringend“, dann „schaudernd“, später „zerknirscht“, schließlich „verhuͤllt [er] sein Gesicht, und wirft sich auf die Bank in der Laube“; Truro wischt „sich eine Thraͤne aus den Augen“ (NS 57–61). Das Schreckliche, Ungeheuerliche der Tat soll den Zuschauer schockieren und rühren. Die Mutter wird nicht verurteilt, sondern mitleidigMitleid betrachtet; die eigentliche Schuld trifft das System der Sklaverei und der Ausbeutung.3
Auch der Schluss des Stücks fügt sich in dieses Bild. Das Affektive und Hochpathetische des Dialogs zwischen Ada und Zameo, sprachlich untermalt durch die Vielzahl von kurzen Parataxen und exclamationes, der im von Ada erflehten Mord Zameos an seiner Frau endet, soll die Tat und die Figuren nicht delegitimieren. Ada will sterben, um ihre Würde zu wahren; Zameos Tat wird zum ultimativen Liebesbeweis. Nach der Tötung Adas gerät Zameo in einen Schockzustand: „Der Koͤrper zittert, das Auge rollt“ (NS 134). Es ist das einzige Mal, dass eine der Figuren nicht mehr Herr seiner selbst ist, aufgrund seiner verlorenen AutonomieAutonomie sogar würdelosWürdelosigkeit erscheinen könnte. Zameo ist dem Wahnsinn nahe, hat eine Vision, in der ihn Ada zu sich zu rufen scheint (NS 135–136). Die Szene ist voller Pathos, zielt aber nicht darauf, Zameo als Mörder zu zeichnen, der die Kontrolle verloren hat. Vielmehr enthüllt seine Verzweiflung die Ausweglosigkeit seiner Situation. Er sah sich gezwungen, einen geliebten Menschen zu töten, um ihn zu retten. Sein SuizidSuizid ist letztlich konsequent: Angesichts der sich nähernden Schergen Johns und der zu erwartenden Strafe ist der Tod auch seine letzte Fluchtmöglichkeit. Wie die Sympathie des Zuschauers gelenkt werden soll, belegen die letzten Worte des Textes:
Will. (hastig fortstuͤrzend zu John) Fluch dir Moͤrder!
(Alle stehn unbeweglich. Der Vorhang faͤllt.) (NS 137)
Ein tableau vivant beendet das Drama und steigert die Wirkung der letzten Worte. Der als „Moͤrder“ Angeklagte ist jedoch nicht Zameo, sondern John. Somit wird er zum Urheber allen Leids; ihn trifft in der Logik des Stücks die Schuld an der Katastrophe.
III.6. Problematisierungen
Die Aussage des Stückes scheint bis hierhin eindeutig. Die Sklaverei ist ein Herrschaftssystem, das den Opfern die Anerkennung ihrer Menschenwürde verweigert, sie entwürdigtEntwürdigung und deshalb abzuschaffen ist. Damit stellt KotzebueKotzebue, August von seinem Publikum auch eine Folie zur Verfügung, die sich auf das Problem der Leibeigenschaft und der Bauernbefreiung in seiner estnischen Wahlheimat übertragen lässt. Analysen, die sich den postcolonial studies verpflichtet fühlen, stellen die Radikalität der Kritik Kotzebues allerdings ernsthaft in Frage und problematisieren die entworfenen Schwarzen- und Weißenrollenbilder. Kotzebues Intention und die hohe affektive Potenz des Stücks werden zwar nicht bestritten; dennoch stellt etwa Susanne M. Zantop die Frage, ob Kotzebues Darstellung jene sozialen Strukturen, die sie anprangert, nicht indirekt zementiere.1 Bei genauerem Hinsehen entpuppe sich der Philanthrop William als Vertreter einer patriarchal organisierten GesellschaftGesellschaft, in der weiter Abhängigkeitsverhältnisse bestehen. Als die Sklaven William anflehen, ihr Herr zu werden, erwidert er: „Ich danke euch Kinder! ich will euer Schicksal zu erleichtern suchen“ (NS 65; m. H.). Und nachdem er Zameos FreiheitFreiheit erkauft hat, wirft sich ihm dieser zu Füßen mit den Worten:
Zameo. (umfaßt Williams Kniee) Wer durch Wohlthaten fesselt, der bedarf keiner Ketten. Du hast mich frey gelassen, und ich bin dein Sklave auf ewig; mit gebundenen Armen haͤtte ich entlaufen koͤnnen, aber du fesseltest mein Herz – ich weiche nimmer von dir! (NS 89)
Dass der freigelassene Sklave, der eine menschliche, liebevolle Behandlung erfahren hat, noch bessere Arbeit leistet, sei ein im 18. Jahrhundert weit verbreitetes Klischee.2 Der Sklave ist zwar rechtlich frei; als Arbeiter wird er aber immer noch ausgenutzt. Das suggeriert auch die Figur des verstorbenen Vaters der beiden Brüder. Die Sklaven verehrten ihn als idealen, menschlichen, mitfühlenden Herren, ja als Vater – trotzdem verdankt er natürlich der Sklaverei seinen Reichtum.3
Deshalb ist auch der alternative, melodramatische Schluss des Dramas hochproblematisch: Als William Ada (wie vorher bereits Zameo) freikauft, also durchaus einen Preis für einen Menschen bezahlt, bestätigt er indirekt – wenn auch gegen seine eigene Absicht – das bestehende System. Als einziges wirkliches Entkommen bliebe demnach das selbstbestimmte Sterben.
Nach Dieter Borchmeyer ist dieser alternative Schluss der Negersklaven ohnehin ein Paradebeispiel für das, was die Trivialliteratur künstlerischKunst, Künstler-ästhetisch zweifelhaft macht – und ihren Erfolg begründet. Indem sie „den Bedürfnissen der Leser nach einer Flucht aus den gesellschaftlichen Alltagsrealitäten entgegenkommt, dieses Bedürfnis durch Möglichkeiten der Harmonisierung im fiktionalen Bereich befriedigt und so zu einer Versöhnung mit dem bestehenden Gesellschaftszustand führt“, büßt sie ihr sozialkritisches, intellektuelles Potential, das in der ‚tragischen Version‘ ja zweifelsohne vorhanden ist, willentlich ein.4
Tatsächlich ist KotzebuesKotzebue, August von Drama nicht frei von aus moderner Perspektive schwer hinnehmbaren Klischees, Vorurteilen und Gemeinplätzen – etwa in Bezug auf die Beziehung von Mann und Frau oder das Verhältnis verschiedener Ethnien.5 Auch der entschärfte Schluss ist – wenn man ihm keine „ironisierende Funktion“ zugestehen will6 – angesichts des dramaturgischen Aufwands, den Kotzebue vorher betreibt, kaum akzeptabel. Diese offensichtlichen Defizite sollten jedoch nicht den Blick für das verstellen, was das Stück dann doch leistet: eine durchaus bemerkenswerte begriffliche wie ästhetische Auseinandersetzung mit der Menschenwürde.
KotzebuesKotzebue, August von Drama will wohl nicht radikal revolutionär sein und einen Aufstand oder Umsturz vorantreiben. Indem es aber sowohl an den Sklaverei- als auch an den Menschenwürdediskurs anknüpft, schafft es für beide ein öffentliches Bewusstsein.7
III.7. Dimensionen der Menschenwürde in KotzebuesKotzebue, August von Die Negersklaven
KotzebuesKotzebue, August von Drama macht deutlich, wie Literatur und Theater sich als eigenständige Diskurse entwerfen. Es begründet und konstituiert die Menschenwürde der Sklaven, die außerliterarisch missachtet und bestritten wird.
Die Dialoge zwischen den Figuren John und William etablieren die Menschenwürde als zentrales Thema des Stücks; diskursiv begründet William in deutlicher Abgrenzung zu seinem Bruder die Würde der Sklaven. Deren literarische Konstitution gelingt durch mehrere Strategien: KotzebueKotzebue, August von strebt durch die Zeichnung seiner schwarzen Sklavenfiguren