Max Graff

Literarische Dimensionen der Menschenwürde


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verschmähen kann?

      Drum laßt uns standhaft sein und solchen Beistand fliehen!

      Die Tugend weiß uns schon aus der Gefahr zu ziehen. (SC 30, V. 263–274)

      Auffälligerweise spricht Cato an dieser Stelle von einem GottGott,3 und dieser „treibe“ ihn; dass dies aber nicht bedeutet, dass Cato nicht alleiniger Herr seiner Handlungen ist, beweisen zum einen die gehäufte Anzahl von Personal- und Possessivpronomina der ersten Person Singular, zum anderen seine weiteren Ausführungen. Er spricht von seinem ihm in einem SchöpfungsaktSchöpfung von diesem Gott verliehenen Willen, einem Streben nach TugendhaftigkeitTugend – eine bemerkenswerte (anachronistische) Anspielung auf die christliche Vorstellung der menschlichen Gottebenbildlichkeit als Grund von WillensfreiheitWille, freier Wille, Tugendfähigkeit und Menschenwürde. Die stoische Konzeption des vernunftautonom tugendhaft handelnden, nicht affektgebundenen Menschen wird damit nicht aufgehoben, jedoch um eine dezidiert christliche Dimension ergänzt. Indem Cato aber ausdrücklich ablehnt, sich von einer metaphysischen Entität nach dem Schöpfungsakt noch in seinem Handeln bestimmen zu lassen, sich vielmehr einem streng rationalenRationalität – dem ‚göttlichen Trieb‘ korrespondierenden – Moralkodex verpflichtet sieht, entspricht er der Würdevorstellung des frühaufklärerischen Publikums.4 Die absolute, beinahe rücksichtslose FreiheitFreiheit seines Willens bildet auch die Peripetie der Tragödie: „Wenn ich nicht hoffen darf, die Freiheit zu erwerben, / So bin ich alt genung und will ganz freudig sterben“ (SC 55, V. 943–944; m. H.). Kurz darauf noch einmal: „Ich will viel lieber sterben“ (SC 57, V. 1008; m. H.), als auf Cäsars Angebot einzugehen. So wird Catos SuizidSuizid zu einem mehrfach angekündigten „Akt der Freiheit“,5 der es ihm erlaubt, seine Würde zu wahren – und damit ist hier eine kontingente Form der Würde gemeint, die durch autonomesAutonomie Handeln6 begründet wird, jedoch von heteronomen Idealen abhängt. Als reflektierter Akt der Freiheit, als eine Handlung, die Cato „mit Wissen und Willen thu[t]“, die „ein gewisses vorhergehendes Erkenntniß [sic], und ein Urtheil des Verstandes zum Voraus setzet“7 und die sich letztlich aus der rationalen Tugendhaftigkeit des Protagonisten erklären lässt, ist der Suizid prinzipiell nachvollziehbar.

      Dass die Bewertung Catos trotzdem schnell zu kippen droht, beweist der Dialog mit Portia in IV,2. Bereits in der ersten Szene des Dramas ist Portia/Arsene als mündige, selbstbestimmt und reflektiert handelnde Frau eingeführt worden, die sehr genau um ihren Platz in der GesellschaftGesellschaft und die damit verbundenen Handlungsspielräume weiß. Als sie in der Szene IV,2 erfährt, dass sie Catos Tochter ist, leugnet sie keineswegs die Existenz von Affekten und starken Emotionen (SC 61, V. 1163), doch indem sie diese verbalisiert und reflektiert, schafft sie die Basis für einen souveränen, autonomenAutonomie Umgang damit. Aufschlussreich ist ihre Reaktion auf Catos Forderung, ihre „Schwäche“ (SC 66, V. 1203), d.h. ihre Emotionen, zu überwinden: „Ich bin dein Vater nicht, wo Cäsars Liebe noch / In deiner Seelen brennt. Ersticke solche Flammen!“ (SC 65, V. 1198–1199). In der folgenden Passage wird Catos innerfiktionaler Menschenwürdebegriff, der darauf beruht, seine Affekte freiwillig der TugendTugend unterzuordnen, in Frage gestellt, indem Portia ihn polemisch zuspitzt und zeigt, wie er sich ins Unmenschliche wandeln kann: „Sagt, muß ein Römer denn, um Rom getreu zu scheinen, / In seiner Seelen gar die Menschlichkeit verneinen / Und unempfindlich sein?“ (SC 66, V. 1211–1213). Portia bringt hier den entscheidenden Begriff der „Menschlichkeit“ ins Spiel, der Catos kühl-rationalerRationalität, tugendbasierter Menschenwürdevorstellung eine versöhnlich-weibliche Revisionsmöglichkeit entgegenstellt. Cato jedoch beharrt auf seinem Standpunkt und postuliert eine klare Hierarchie Tugend > Natur: „Was sagst du? Rede nun! / Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun?“ (SC 66, V. 1213–1214). Für einen kurzen Moment scheint Portia die Möglichkeit eines Kompromisses zu sehen: „Und muß die Tugend denn Natur und Trieb ersticken?“ (SC 66, V. 1215). Sie erkennt klar den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, der für das nach-kantischeKant, Immanuel, klassische Drama kennzeichnend sein wird; wahre Menschlichkeit, mithin sogar Würde, ist für Portia in einem harmonischen Verhältnis von Trieb8 und Tugend denkbar. Doch es bleibt bei diesem kurzen, geradezu utopischen Moment; bereitwillig ergibt sie sich schließlich Catos Forderung und will „mein eigen Herz und Cäsars Glut bekämpfen“ (SC 66, V. 1220).9

      Dass Cato selbst den Freitod als logische und einzig mögliche Konsequenz seiner Lage und somit nicht nur als legitime, sondern als eine seine Würde in keiner Weise verletzende Handlung versteht, belegt sein längster Monolog, zu Beginn des fünften Aktes. Nachdem er sich diskursiv und mit Bezug auf Plato von der Unsterblichkeit der Seele zu überzeugen versucht hat und nun zuversichtlich dem Tode und der Möglichkeit, die letzte Unsicherheit ob der Existenz GottesGott10 durch eigene Erfahrung zu beseitigen, entgegentritt, will er sich ausruhen:

      Ich überlasse mich dem Schlummer, den ich merke;

      Daß mein erwachter Geist hernach mit voller Stärke

      Die Flucht ergreifen kann und denn an Kräften neu

      Dem Himmel, den er ehrt, ein würdig Opfer sei.

      Wen sein Gewissen plagt, dem stört die Angst den Schlummer:

      Davon weiß Cato nichts. Kein Laster macht mir Kummer! (SC 76, V. 1461–1466)

      „Ein würdig Opfer“ – im Sinne seines persönlichen, stoischen Würdeverständnisses handelt er „würdig“, da er selbstbestimmt, überlegt, kühl-rationalRationalität und aktiv („ergreifen“) zu sterben beschließt, um seine Würde, die persönliche und politische FreiheitFreiheit, zu bewahren.11

      I.4.2. Die problematische Bewertung der Figur Cato

      Wenn der bewundernswerte, tugendhafteTugend HeldHeld am Ende den Freitod wählt, mithin für seine Ideale eher in den Tod gehen will, als sie zu kompromittieren, dann nähert sich die Tragödie dem Schema des Märtyrerdramas an.1 Doch gerade das bestreitet GottschedGottsched, Johann Christoph in seiner „Vorrede“: Er habe Cato keineswegs als „vollkommenes Tugendmuster“ darstellen wollen, vielmehr sei er Aristotelesʼ hamartia-Konzept gefolgt. Cato sei ein „regelmäßiger Held“, der zwar „sehr tugendhaft“ sei, doch „gewisse Fehler an sich“ habe:

      Man bewundert, man liebet und ehret ihn: Man wünscht ihm daher auch einen glücklichen Ausgang seiner Sachen. Allein, er treibet seine Liebe zur FreiheitFreiheit zu hoch, so daß sie sich in einen Eigensinn verwandelt. Dazu kommt seine stoische Meinung von dem erlaubten SelbstmordeSuizid. Und also begeht er einen Fehler, wird unglücklich und stirbt: Wodurch er also das MitleidenMitleid seiner Zuhörer erwecket, ja Schrecken und Erstaunen zuwege bringet. (SC 17)

      Demnach geht Catos Fehler auf eben jene Quellen zurück, die auch seine TugendTugend begründen: seine Freiheitsliebe, seine Standhaftigkeit.2 Anders formuliert: Sein vermeintlich menschenwürdiges Verhalten führt zu einer aus GottschedsGottsched, Johann Christoph Sicht als menschenunwürdig zu bewertenden Handlung: „[N]ein, den SelbstmordSuizid wollen wir niemals entschuldigen, geschweige denn loben“ (SC 17). In einer Akademie-Rede führt Gottsched seine Kritik an Cato aus:

      Die Liebe zur roͤmischen Freyheit, muß seinem Eigensinne zum Vorwande dienen; und die Begierde, sich durch eine unerhoͤrte That einen unsterblichen Namen zu erwerben, muß mit dem Deckmantel einer stoischen Großmuth verhuͤllet werden. So siegete denn die Furcht vor der Sklaverey, uͤber die Liebe des Lebens; die Zaghaftigkeit uͤber die Großmuth; die Verzweiflung uͤber die Weisheit und TugendTugend. Cato stirbt; aber nicht aus Verachtung des Todes, sondern aus Ueberdruß eines ungluͤcklichen Lebens. (AW IX/2, 489)3

      So entpuppt sich Catos vermeintlich bewundernswerte und vernunftgeleitete TugendhaftigkeitTugend als verstecktes Laster, als affektgeleiteter „Eigensinn“.4

      Dies steht jedoch in eklatantem Widerspruch zu der oben aufgestellten These, dass Cato durchaus die stoische und frühaufklärerische Würdeauffassung erfüllt, sein SuizidSuizid somit für den Zuschauer zumindest nachvollziehbar ist. Wenn sich Cato aber doch von seinen Affekten leiten lässt, also keineswegs ‚erhaben‘ und autonomAutonomie handelt, ist sein Handeln auch nicht menschenwürdig. Der Selbstmord wäre dann nicht nachvollziehbar, sondern vollkommen illegitim