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Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert


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gezeigt, die in den kanonischen Lk-Handschriften enthalten sind: In rund zwei Dritteln aller (weit über 500) Fälle korrespondieren die für Mcn bezeugten Abweichungen gegenüber Lk mit Varianten des kanonischen Lk-Textes. Diese Korrespondenzen begegnen bevorzugt (aber nicht ausschließlich) in Handschriften des sog. „Westlichen Textes“.

      Diese enge Beziehung ist am besten so zu erklären, dass die Textgestalt des vorkanonischen Mcn auf die kanonischen Lk-Handschriften eingewirkt hat. Sofern Mcn kein sekundär bearbeiteter, sondern ein vorkanonischer Text mit einer breiten Rezeption ist, ist es leicht vorstellbar, dass dieses alte, vorkanonische Evangelium noch einen länger anhaltenden Einfluss auf die kanonischen Lk-Handschriften ausgeübt hat. Da sich auch der umgekehrte Einfluss der kanonischen Lk-Handschriften auf die Textüberlieferung des marcionitischen Evangeliums wahrscheinlich machen lässt,1 gab es eine Interferenz der beiden handschriftlichen Überlieferungen. Sie bezeugt das Nebeneinander von zwei verschiedenen Ausgaben desselben Textes, in diesem Fall der vorkanonischen Fassung des Evangeliums (Mcn) neben seiner kanonischen Überarbeitung (Lk).2

      So, wie die Textgestalt des marcionitischen Evangeliums einen Einfluss auf die Textüberlieferung des kanonischen Lk ausgeübt hat, haben wahrscheinlich auch andere vorkanonische Texte auf die handschriftliche Überlieferung der späteren „neutestamentlichen“ Fassungen eingewirkt. Für die anderen Evangelien lässt sich ein solcher Einfluss auch feststellen; er ist allerdings nur in einem geringeren Umfang und vor allem mit einem geringeren Grad an Sicherheit feststellbar als bei Lk. Es ist eine sinnvolle Vermutung, dass sich ein ähnlicher Befund auch für die Paulusbriefe ergeben könnte; zumindest existiert mit den zehn Briefen der Marcionitischen Ausgabe eine Kontrollgröße, die eine Überprüfung dieser Annahme erlaubt. In jedem Fall liegt der Schluss nahe, dass die marcionitische Ausgabe eine Vorgängerausgabe des kanonischen Neuen Testaments war: Das Nebeneinander zweier Ausgaben und eine dazwischen liegende Redaktion ist der Kern der Grundthese, dass das Neue Testament das Ergebnis einer einheitlichen und vereinheitlichenden Edition ist.

      2 Fragen und Aufgaben

      Diese Skizze der Ausgangsthese mit ihren Implikationen stellt nicht die gemeinsamen methodischen Voraussetzungen der folgenden Beiträge dar (dafür liegen Arbeitsgebiete, Prägungen und Fragestellungen viel zu weit auseinander). Aber sie markiert doch einen Bereich gemeinsamer Interessen – verständlicherweise, denn im Umfeld der These einer Kanonischen Redaktion ergeben sich weitreichende Perspektiven, die teilweise erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis des Neuen Testaments besitzen. Dieses Potential soll hier sehr grob angedeutet werden.

      2.1 Textkritik und Textgeschichte

      Ein erster Aspekt schließt gleich an die Beobachtung an, dass die älteren, vorkanonischen Textfassungen die kanonische Handschriftenüberlieferung beeinflusst haben, so dass unter den Lesarten der kanonischen Handschriften auch Elemente der älteren Texte auftauchen. Diese textgeschichtliche Beobachtung stellt die Textkritik vor ganz neue Aufgaben und macht zugleich ein empfindliches Defizit ihrer Methodologie deutlich. Denn bei aller Differenzierung der erstrebten Textform („Urtext“; „Ältester Text“; „Ausgangstext“) und der angewandten Methode (Lokal-genealogische Methode; Coherence-Based Genealogical Method) ist das Verfahren insofern gleich, als es unter allen Varianten die jeweils älteste Textform zu eruieren sucht. In allen Modellen werden die zahlreichen Varianten als später vorgenommene, sekundäre Veränderungen des einen Bezugstextes (Urtext, Ausgangstext usw.) gedeutet, und zwar, sofern sie nicht auf Abschreibfehler zurückgehen, als redaktionelle Veränderungen. Man kann diese sekundären Veränderungen als Wucherung oder Verwildung kritisch beurteilen, man kann sie als Ausweis von „Lebendigkeit“ der Textüberlieferung positiv würdigen1 oder sie als gezielte theologische Korrekturen verstehen2 – in jedem Fall ist die Entstehung der Varianten gegenüber dem wie immer gedachten Bezugstext sekundär, so dass dieser Ausgangstext durch eine einfache duale Leitdifferenz „primär/sekundär“ identifiziert werden kann.

      Sofern man jedoch mit Varianten in signifikanter Zahl rechnet, die nicht durch sekundäre Veränderungen entstanden sind, versagen alle bekannten Methoden. Denn wenn die Varianten in der handschriftlichen Überlieferung auf Textformen zurückgehen, die vor dem Text der Kanonischen Ausgabe liegen, wenn also die „Varianten“ primär sind und der (erstrebte) „Text“ sekundär, dann führt die Suche nach den relativ ältesten Lesarten in der Regel zu vorkanonischen Überlieferungsstufen, die von der Kanonischen Redaktion geändert wurden. Um zwischen vorkanonischen und kanonischen Lesarten unterscheiden zu können, bedarf es eines gänzlich anderen Verfahrens. Wie dieses aussehen und methodisch validiert werden könnte, ist vorerst offen: Dies ist keine geringe Aufgabe.3 Die Annahme, dass ein signifikanter Teil der Varianten durch den Einfluss von Vorstufen des Textes entstanden ist, macht im Übrigen auf ein bemerkenswertes Defizit der gängigen Textkritik aufmerksam. Denn abgesehen von Schreibversehen, die sich in der Regel relativ leicht identifizieren lassen, gibt es keine historisch befriedigende Erklärung für das Zustandekommen von Varianten: Zeiten und Orte (wann und wo wurden Änderungen vorgenommen?), Akteure (wer ist dafür verantwortlich?) und Umstände (warum und wie wurde geändert?) – all das bleibt in aller Regel unbeantwortet und unbeantwortbar. Der gelegentliche Hinweis auf „Kopisten“ erklärt bestenfalls die Versehen, nicht aber redaktionelle Varianten. Demgegenüber eröffnet die Annahme der Kanonischen Redaktion eine historisch nachvollziehbare Erklärung für zahlreiche Varianten: Zeit, Ort, Umstände, Absichten usw. sind nicht beliebig, sondern Elemente der Kanonischen Redaktion und helfen, diese genauer zu profilieren.

      2.2 Die Kanonische Ausgabe und ihre Vorgeschichte

      Die neuen Perspektiven, die sich aus einer Unterscheidung von zwei Ausgaben der nt.lichen Schriften ergeben, werden vor allem in zwei Bereichen sichtbar: Zum einen rückt mit der Differenzierung unterschiedlicher überlieferungsgeschichtlicher Stadien die Vorgeschichte des NT in den Fokus, zum anderen gewinnt gerade dadurch das letzte Überlieferungsstadium der Kanonischen Ausgabe ein neues Profil.

      Wenn das historische Verstehen von Texten das Verstehen ihrer Genese impliziert, dann erlaubt die Identifizierung einzelner Überlieferungsstadien ein neues historisches Verständnis der neutestamentlichen Schriften. Für die Evangelien ist aufgrund der unbestreitbaren literarischen Beziehungen die Geschichtlichkeit der Überlieferung seit dem Anfang der historischen Kritik mitgesetzt. Es ist schon deutlich geworden, dass sich das Bild dieser Überlieferung grundlegend verändert, wenn man in der Marcionitischen Ausgabe eine Vorstufe der Kanonischen Ausgabe - und in dem für Marcion bezeugten Evangelium eine Vorstufe des kanonischen Lk – sieht. Dies bezieht sich vor allem auf die Theorien zum „Synoptischen Problem“, geht aber noch darüber hinaus, weil sich auch Joh in diesen Prozess der schriftlichen Evangelienüberlieferung einordnen lässt. Will man nicht davon ausgehen, dass die Kanonische Redaktion alle anderen Schriften des NT neu geschaffen hat (für den 2Tim und den 2Pe liegt diese Annahme jedoch in der Tat nahe), dann muss man davon ausgehen, dass auch diese anderen Schriften in älteren Vorstufen vorgelegen haben – und wahrscheinlich redaktionell bearbeitet wurden.

      Dies gilt vor allem für die Paulusbriefe, weil für diese die längste Vorgeschichte anzunehmen ist. Nimmt man einmal die zehn Briefe der marcionitischen Apostolossammlung als Ausgangspunkt, dann liegen hier die sieben mutmaßlich authentischen Briefe neben drei pseudepigraphen Ergänzungen vor. Da Pseudepigraphen immer einen existierenden Kontext voraussetzen, in den sie sich einschreiben, liegt dieser Zehn-Briefesammlung mindestens (!) eine Sammlungsstufe voraus, die Sieben-Briefesammlung. Selbst wenn man (was eher unwahrscheinlich ist) einmal konzediert, dass Eph und Kol auf derselben Überlieferungsstufe wie 2Thess in diese Sammlung eingefügt wurden, ergeben sich mit der postulierten Sieben- und der bezeugten Zehn-Briefesammlung bereits zwei Sammlungs- bzw. Überlieferungsebenen vor der Kanonischen Ausgabe, für die redaktionelle Eingriffe sehr wahrscheinlich sind. Für die Zehn-Briefesammlung erlaubt die häresiologische Bezeugung eine ungefähre Abschätzung der Unterschiede zu den Fassungen in der Kanonischen Ausgabe; die redaktionellen Veränderungen bei der Erstellung der Zehn-Briefesammlung dagegen kann man noch nicht einmal ahnen und schon gar nicht konkretisieren. In jedem Fall sind wir von den dokumentarischen Fassungen der Paulusbriefe denkbar weit entfernt, ohne diese Entfernung auch nur halbwegs genau einschätzen