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Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert


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scheitert nicht zuletzt auch an der geringen Reliabilität des papyrologischen Befundes, der sich durch – vor allem regionale – Kontingenz und eine geringe Stichprobengröße auszeichnet. Zudem ist mit 𝕻66 ein Einzelkodex bezeugt, der, wenn die Titelformulierung ursprünglich ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer Evangeliensammlung stammen muss.17 Wenn man aus einem Sammelband nur mit einem Aufsatz arbeiten möchte, kopiert man nicht das ganze Buch. Davon, dass Trobisch die (wenigen!) Abweichungen in der Reihenfolge der Schriftenanordnung als „nicht aussagekräftige Ausnahmen“18 darstelle, kann keine Rede sein. Vielmehr zeigt er begründet, wie sowohl die Abweichungen der Reihenfolge innerhalb der Sammlungseinheiten als auch insb. die Abweichungen in 𝕻46, D05, D06 und W032 zum Teil auf bewusste editorische Entscheidungen zurückgehen und sich als redaktionelle Umordnungen einer editio princeps interpretieren lassen.19 Darüber hinaus ist das Phänomen bekannt und nicht ungewöhnlich, dass Schriften aus ihren ursprünglichen Sammlungskontexten herausgerissen und neu zusammengestellt werden. Diesbezüglich kann auf verschiedene Beispiele verwiesen werden:

      1 Papyrus Bodmer V.VII–XIII.XX (entspricht z.T. 𝕻72): u.a. Jud; OdSal 11; Melito von Sardes, Passahomilie; Ps.-Pls. 3Kor; Ps 33 f. LXX; 1/2Petr.20 Im Rahmen des Modells einer Erstedition ist der Papyrus Bodmer VII–IX im engeren Sinne nicht als „neutestamentliche“ Handschrift zu werten, sondern als Neuzusammenstellung mit einem eigenständigen redaktionellen Interesse. B. Aland hat eindrücklich herausgearbeitet, dass die singulären Textvarianten, die sie auf die Schreiber des Sammelkodex zurückführt, mit dem („antihäretischen“) redaktionellen Interesse der Sammlungszusammenstellung korrelieren.21

      2 Im Crosby-Schøyen Codex (vermutlich Ende des 3. Jh., koptisch-sahidisch) sind mit einem Auszug aus 2Makk (5,27–7,41) und dem Jonabuch eindeutig Werke aus anderen Sammlungszusammenhängen zu einer neuen Sammlung verbunden und mit neuen Überschriften versehen worden.22

      3 P. Bodm. 3 (ed. Kasser) ist eine koptische (pbo) „Edition“ von Joh und Gen, deren Motivation sich vermutlich vor allem aus der Bezugnahme von Joh 1 auf Gen 1 ergibt. Bei beiden Texten ist der Titel erhalten: bei Gen als inscriptio (ⲅⲉⲛⲉⲥⲓⲥ); die subscriptio von Joh (ⲉⲩⲁⲅⲅⲉⲗⲓⲟⲛ ⲕⲁⲧⲁ ⲓⲱⲁⲛⲛⲏⲥ) entspricht der in den griechischen Hss. überlieferten Form, die Trobisch mit der Erstedition in Verbindung bringt oder die doch zumindest auf die Zusammenstellung einer Vierevangeliensammlung zurückzuführen ist (s. u.).

      4 Bei P. Mich. 3520 (4. Jh.; Koh, 1Joh, 2Petr) ist leider nicht mehr ersichtlich, ob die Briefe nummeriert worden sind, da die letzten Buchstaben der subscriptio von 1Joh fehlen und der Text des Kodex nach 2Petr 3,14 abbricht.23

      5 P. Mich. 3992, ein fragmentarisch erhaltener, einlagiger Kodex in kleinem Format (ca. 14×9 cm), von Husselmann auf das 3./4. Jh. datiert, war eine Zusammenstellung von Joh, einem nicht mehr zu identifizierenden Text, 1 Kor, Tit, Ps und Jes.24

      Zu Recht betont W. Grünstäudl gegen eine zu starke Suggestion des statistischen Arguments, dass sich die Argumentation Trobischs bezüglich der Reihenfolge der Einzelschriften in den einzelnen Teilsammlungen auf 20 bzw. 21 Manuskripte (zzgl. der drei großen Kodizes 01 02 03) aus den ersten sieben Jahrhunderten bezieht, von denen fünf bzw. sechs eine andere Reihenfolge bieten.25 Es ist richtig, dass es sich hier nicht um „beeindruckende 99,8%“ handelt, die „den einheitlichen Befund bestätigen.“26 Lässt man nun die strittigen Hss. 𝕻45 und 016 sowie 𝕻72 wegen des eindeutigen Charakters einer redaktionellen Neuzusammenstellung (s. o.) außen vor, sind es immer noch knapp 80% der auswertbaren Hss., welche die Reihenfolge innerhalb der Sammlungseinheiten der großen Kodizes bestätigen, wobei die Reihenfolge der vier Abweichler durchaus in Relation zu den anderen interpretiert werden kann (s. o.). Abgesehen von der Frage nach der Reihenfolge der Einzelschriften innerhalb der Teilsammlungen zeigt Trobischs Auswertung ganz deutlich eine hohe Konstanz der Teilsammlungen e p a r über einen großen Zeitraum hinweg, die sich sowohl in den griechischen Hss. manifestiert als auch – wie eine erste kurze Durchsicht zeigt – in einigen alten Übersetzungen ihren Niederschlag gefunden hat.27

      Hier muss in Umkehrung von Anfragen an Trobischs Methode die Frage gestattet sein, ob vor dem Hintergrund eines Modelles, das die Entstehung des Kanons mit den Kategorien wie Zirkulation und Sammlung in und zwischen den Gemeinden, Wachstum sowie Integration und Ausscheidung beschreibt, nicht eine größere Heterogenität in den Hss. zu erwarten sein müsste. Es bleibt m. E. bei der Feststellung Trobischs, dass die Organisation in Teilsammlungen in den voneinander unabhängig entstandenen großen Kodizes des 4. und 5. Jh. auf einen Vorläufer zurückgeführt werden muss.28 Die Frage ist nur, wann diese Anordnungen entstanden sind. Und neben der hohen Konstanz der Teilsammlungen im hss. Befund sind es hier gerade die literarischen Quellen, in denen sich die Sammlungseinheiten schon früher widerspiegeln (s. u. Punkt 2 und zur Frage von Apg und katholischen Briefen auch Punkt 4).29

      Völlig zutreffend ist jedoch d) die von Holmes und Grünstäudl geäußerte Kritik an Trobischs Idee, dass das Neue Testament zusammen mit dem Alten Testament „publiziert“ worden sei. Die Argumentation über die festen Sammlungseinheiten und über die Reihenfolge der Einzelschriften auch innerhalb der alttestamentlichen Hss. kann m. E. nicht aufrechterhalten werden.30

      Das mit der Kritik unter Punkt e) angesprochene Problem der Titel und der Platzierung der Paratexte in den neutestamentlichen Handschriften ist eigentlich zu umfangreich, um es im Rahmen eines Sammelbandes zu behandeln und bedarf m. E. im Blick auf die These von Sammlungszusammenstellungen einer eigenständigen Untersuchung. Ein Desiderat besteht zudem m. W. in der Untersuchung der handschriftlich überlieferten Titel in den Sammlungseinheiten neben den Evangelien.31 An dieser Stelle ist aber schon gegen Parkers Kritik an Trobisch und Heckel in Stellung zu bringen, dass seine Vermutung, die Überschrift in 𝕻66 sei eine spätere Hinzufügung, ebenfalls auf tönernen Füßen steht. Er entfaltet diese These nämlich nicht selbständig, sondern verweist lediglich auf Turners Standardwerk zu den griechischen Handschriften,32 der ebenfalls ohne eigene Argumentation vermutet „that the title on the first page […] seems to be a later addition.“33 Die auf der Tagung anwesenden Experten im Bereich der Paläographie und Papyrologie haben die These des sekundären Charakters der Überschrift zurückgewiesen.34 Turner selbst warnt zu Recht vor dem zu einfachen historischen Narrativ: Rollen waren in der großen Mehrzahl der Fälle mit subscriptiones ausgestattet, bei der Übertragung der Texte in Kodizes sei diese Praxis übernommen worden, die Praxis, inscriptiones in Kodizes zu verwenden sei eine späte Entwicklung.35 Selbst wenn wir zwei Beispiele mit später hinzugefügten Titeln hätten, so bliebe immer noch die Evidenz in 𝕻75 bestehen: Auf f. 44r findet sich sowohl die subscriptio ευαγγελιον κατα λουκαν als auch die insciptio ευαγγελιον κατα ιωανην. Zudem hat Gathercole zuletzt zu Recht gezeigt, dass das Problem von neutestamentlichen Paratexten gerade nicht auf die Frage nach subscriptio und inscriptio reduziert werden kann.36 Paratextuelle Informationen zum Titel können in einem Sammelkodex prinzipiell an vier Stellen vorkommen: a) am Beginn, b) am Beginn einer Kapitelliste, c) in der fortlaufenden Kopfzeile, d) am Ende.37 Diskutiert man die Edition von Sammlungen neutestamentlicher Schriften, sollte man sich darüber Gedanken machen, welche paratextuellen Formen der Titel auf die Entscheidung im Kontext der Zusammenstellung von Sammlungsersteditionen zurückgehen und inwiefern Varianten im Handschriftenbefund als Abwandlungen dieser ursprünglichen Form interpretiert werden könnten, die wiederum auf editorischen Entscheidungen anderer beruhen.

      An Trobischs Schlussfolgerungen bezüglich der großen Einheitlichkeit der Titel ändert das alles nichts. So wird man S. Petersen Recht geben müssen, wenn sie gegenüber der These Hengels einer sukzessiven Entstehung der Evangelientitel betont, dass sie „eine Konsequenz aus dem Zusammentreffen verschiedener Evangelien“38 sind. Allerdings ist zu überlegen, ob nicht das Modell „Zusammentreffen in einer Sammlung“39 mehr Plausibilität besitzt als Petersens ohne weitere Begründung vorausgesetztes dynamisches Gemeindezirkulationsmodell, bei dem der Konsens über die einheitlichen Evangelientitel im diskursiven Austausch über die Texte gefallen sein soll.40 Wirft man Trobisch an anderer Stelle vor, er könne keine positiven Belege für seine These anführen, so gilt dies für die Annahme einer sukzessiven Titelentstehung oder