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Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert


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Kanons zu stark zu belasten. Die Aufzählung in Can. Apost. 85 (SC 336 8,47) dokumentiert eine Art (im Rahmen der Ersteditionsthese: sekundär) erweiterte Sammlungseinheit „Praxapostolos“, die zusätzlich zwei Clemensbriefe enthält.26 Darüber hinaus ist die Sammlungseinheit „Praxapostolos“ auch für die koptische Überlieferung und für die Altlateiner belegt (s. u.). Aus dem Quellenbefund insgesamt lässt sich m. E. methodisch nicht sicher ableiten, dass die Apostelgeschichte und die katholischen Briefe später als die Paulusbriefe und die Evangelien in verbindlichere Corpora eingetreten und zunächst als Einzelschriften zirkuliert wären.27 Der recht einheitliche Quellenbefund deutet doch eher darauf hin, die wenigen Abweichungen als Neueditionen zu verstehen, die jeweils aus unterschiedlichen Gründen vorgenommen worden sind. Im Befund der neutestamentlichen Handschriften haben die Abweichungen bis auf die Zusammenstellung der narrativen Texte vor die Briefcorpora jedenfalls keinen Niederschlag gefunden.

      Die Quellen, die Trobisch selbst als positive Evidenz für seine These heranzieht, werden von seinen Kritikern zumeist übergangen: z. B. die indirekte und direkte Bezeugung des Titels „Neues Testament“28 und das Zitat des sog. anonymen Antimontanisten bei Euseb, der keinesfalls den Anschein erwecken möchte, „als wollte ich dem Worte der neutestamentlichen Frohbotschaft (τῷ τῆς τοῦ εὐαγγελίου καινῆς διαθήκης λόγῳ) etwas ergänzend beifügen, da doch keiner, der entschlossen ist, nach diesem Evangelium zu leben, etwas beifügen noch abstreichen darf,“ (Eus. h. e. 5,16,3).29

      Das gängige Verständnis dieser Stelle in der Forschung, der anonyme Antimontanist würde nicht auf den Titel einer Sammlung, sondern ganz allgemein auf die Botschaft einer als καινὴ διαθήκη gekennzeichneten Ära verweisen,30 ist a) angesichts der Verbsemantik von προστίθημι (vgl. z. B. P. Amh. Gr. 2 77,15) und ἀφαιρέω viel unwahrscheinlicher; vgl. z. B. die gesamte Wendung in Thuc. 5,23, und insb. in Pol. 21,43,27, wo es um einen Vertragstext [συνθήκη] geht. b) Es ist unsachgemäß, Eus. h. e. 5,17 gegen die These in Stellung zu bringen, dass der Antimontanist in Eus. h. e. 5,16,3 auf eine Schriftensammlung verweist. Euseb zitiert hier wiederum den anonymen Antimontanisten, der u. a. formuliert: „Doch wird man weder aus dem alten noch aus dem neuen [scil. Bund] einen Propheten nennen können, der auf solche Weise vom Geiste ergriffen worden wäre. Sie werden sich nicht auf Agabus oder Judas oder Silas oder die Töchter des Philippus oder Ammia in Philadelphia oder Quadratus oder auf sonst jemanden berufen können; denn mit diesen haben sie nichts zu tun,“ (Eus. h. e. 5,17,3; Üb. HÄUSER; leicht modifiziert JH). Laut C. W. van Unnik könne sich der Antimontanist mit der Wendung τῶν κατὰ τὴν παλαιὰν οὔτε τῶν κατὰ τὴν καινὴν nicht auf Schriftensammlungen beziehen, weil in der darauffolgenden Aufzählung Namen stünden, die nicht in diesen Schriften auftauchten.31 Dazu ist zunächst anzumerken, dass der Begriff διαθήκη im Zitat aus der Schrift des Antimontanisten gar nicht auftaucht, sondern in 5,17,2 von Euseb interpretatorisch eingefügt wird; auch die Annahme, der Antimontanist habe Quadratus und Ammia zu den prophetischen Gestalten des Neuen Bundes gerechnet, entstammt der Interpretationsleistung des Euseb (5,17,2), die man strikt von der Aussage des Fragments trennen muss. Sodann: Soweit man den argumentativen Zusammenhang aus dem Fragment noch erkennen kann, impliziert die Formulierung nicht zwingend, dass alle genannten Namen zum vorher definierten Prophetenkreis gehören. So werden Quadratus und Ammia ja von der Gegenseite eingebracht (ὥς φασιν; 5,17,4), wobei nicht deutlich wird, auf welche „Quellen“ sich die Gegenseite stützt; Agabus (Apg 11,28; 21,10–14), Judas und Silas (Apg 15,22.27.32[!]), und die Töchter des Philippus (Apg 21,9) werden hingegen in der Apg als Propheten bezeichnet. Daher ist die viel einfachere Erklärung, es werde, wie auch in den späteren Quellen, schon vom anonymen Antimontanisten mit dem „Worte der neutestamentlichen Frohbotschaft“ auf den Titel einer Schriftensammlung verwiesen, auch aus Gründen des Sparsamkeitsprinzips vorzuziehen. Ein indirekter Verweis auf das Alte und Neue Testament in 5,17,3 (wodurch sonst sollte man wissen, wer zu den Propheten des Alten und Neuen Bundes gehört?), wäre eingehender zu prüfen.

      Aufschlussreich ist auch der ebenfalls schon bei Trobisch angeführte Kommentar zu ebendieser Stelle von Zahn: „Man meint in der Hand dieser Männer ein vom Evangelium des Matthäus bis zur Apokalypse des Johannes sich erstreckendes Exemplar des NT’s zu sehen, wie solche heute in Leipzig und Cambridge gedruckt werden; nur die letzte Ziffer der Jahreszahl des jüngsten Druckes müßte gestrichen werden.“32 Sodann sind auch die Beobachtungen Trobischs zu den kohärenzstiftenden Querverweisen im Neuen Testament33 als eigene Evidenz in Rechnung zu stellen.

      Außerdem wären noch weitere Quellen als positive Evidenzen für die These Trobischs zu diskutieren: Wenn z. B. Valentin schreibt, „vieles von dem, was in den staatlichen/öffentlichen Büchern (ἐν ταῖς δημοσίαις βίβλοις) geschrieben ist, findet sich auch in der Gemeinde Gottes (ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ) geschrieben“ (Clem. strom. 6,52,4), liegt angesichts der Formulierung die Vermutung nahe, Valentin beziehe sich hier auf ein Schriftencorpus, das ihm nachweislich zugänglich gewesen sein muss. Man könnte hier nun weiter fragen, in welcher Form die „paganen“ Kritiker des Christentums, allen voran Kelsos, und andere Nichtchristen, deren Kenntnis neutestamentlicher Schriften vorauszusetzen ist,34 die Schriften der Kirche rezipiert haben. Kelsos selbst prangert dreifache und vierfache Verfälschung des Evangeliums durch eine Gruppe von Christen an,35 die plausibel in Beziehung zur Herausgabe des Neuen Testaments gesetzt werden kann.36 Bei der weiteren Betrachtung des Quellenbefundes zur Rezeption des Neuen Testaments im 2. und 3. Jh. wäre zudem besonders auf vorausgesetztes Wissen – insbesondere bezüglich der neutestamentlichen Verfasserfiktionen37 – zu achten, das man eigentlich nur aus einer „kanonischen“ Gesamtperspektive gewinnen kann. Eine vollständige Durchsicht der Quellen unter dieser Perspektive steht jedoch noch aus und kann hier nicht geleistet werden.38

      2.4 Die These Trobischs widerspreche „dem entscheidenden Movens [der Sammlung von neutestamentlichen Schriften bzw. des Kanonisierungsprozesses], die liturgische Lesung im Gottesdienst!“1

      Diese vor allem von M. Hengel vorgetragene Kritik verweist auf die nicht erst bei T. Zahn, aber von diesem doch prominent hergestellte Interdependenz zwischen der gottesdienstlichen Lesepraxis auf der einen Seite und der Sammlung neutestamentlicher Schriften und der prozesshaft konzeptualisierten Entstehung des Kanons auf der anderen Seite.2 Dieses Junktim der Entstehung des neutestamentlichen Kanons und der Lesung der neutestamentlichen Schriften im Gottesdienst ist bis heute forschungsgeschichtlich sehr wirksam,3 aber nicht unbestritten geblieben.4 An dieser Stelle zeigt sich, wie stark die Beurteilung der Entstehung der christlichen Bibel von spezifischen Vorannahmen und der Modellierung der Geschichte des frühen Christentums abhängt. Eine tiefergehende Untersuchung des Interdependenzverhältnisses zwischen frühchristlicher Lesepraxis und Buchpublikation ist m. E. ein zentrales Forschungsdesiderat, sodass an dieser Stelle keine Entscheidung getroffen werden kann. Es scheint mir allerdings so, als beruhe die Annahme, gottesdienstliche Lesepraxis sei das entscheidende Movens gewesen, auf einer sehr dünnen Quellenbasis5 und zum Teil, wenn man die neueren Einsichten zur zentralen Rolle des Gemeinschaftsmahles für die frühchristlichen Versammlungen betrachtet, auf anachronistischen Eintragungen der späteren liturgischen Perikopenlesung.6 Dass eine gottesdienstliche Lesepraxis der entscheidende Faktor für die Entstehung des Neuen Testaments gewesen wäre, ist begründungsbedürftig und darf schon aus methodischen Gründen nicht a priori vorausgesetzt werden.

      2.5 Die Theorie Trobischs setze ein viel höheres Niveau von Strukturierung und Zentralisierung voraus als im zweiten Jh. vorhanden.1

      Dieses Trobisch häufig vorgehaltene Argument läuft ins Leere, da Trobischs These eine hierarchisierte und zentralisierte Kirche überhaupt nicht zwingend voraussetzt. Hier werden Argumente aus der älteren Diskussion über die Entstehung des christlichen Kanons fortgeschrieben, die Trobischs These etwa der forschungsgeschichtlich einflussreichen Auffassung Harnacks zuordnen, der Kanon sei eine kirchliche Gegenreaktion auf die dreifache Bedrohung der Kirche durch Marcioniten, Montanisten und den Gnostizismus.2 Trobisch versteht die Endredaktion aber vielmehr als weitgehend kontingente Entscheidung eines Einzelnen (oder einer kleinen Gruppe)3 mit einem