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Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert


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Überlieferung hinterlassen, sondern auch das redaktionelle Gesamtkonzept des Neuen Testaments gestaltet. In diesem Sinn analysiert David Trobisch das Johannesevangelium und identifiziert mögliche Passagen eines editorischen Eingreifens in den Text. Davon ausgehend vergleicht er die Figur des Jüngers Johannes in der für Marcion bezeugten Sammlung mit dem Konzept in der Kanonischen Ausgabe. Während Johannes in der für Marcion bezeugten Sammlung ein farbloser Nebencharakter ist, wird er durch den (die) Herausgeber der Kanonischen Ausgabe als Gegengewicht zu Paulus deutlich aufgewertet.

      Die Identifizierung der Kanonischen Redaktion korreliert zwingend mit einer bestimmten Gestalt des Prätextes; da dessen Rekonstruktion auch immer umstritten ist, liegt hier die Gefahr einer zirkulären Argumentation nahe. Markus Vinzent diskutiert in seinem Beitrag am Beispiel des Vaterunsers die Bedeutung der methodologischen Vorannahmen für die Rekonstruktion des für Marcion bezeugten Evangeliums, das er für ein Produkt von Marcion hält. Vinzent zeigt, welche Auswirkungen die Bestimmung des Bearbeitungsgefälles zwischen dem für Marcion bezeugten Evangelium und dem kanonischen Lukasevangelium für die Rekonstruktionsentscheidungen hat, bzw. wie die Einschätzung, ob Marcion selbst der Verfasser des Evangeliums war oder nicht, sich auf die Rekonstruktion auswirkt.

      Die Kanonische Redaktion hat ihr gestalterisches Potential auch mit umfangreichen und komplexen Ergänzungen unter Beweis gestellt. Matthias Klinghardt zeigt anhand der neutestamentlichen Abrahamüberlieferung, dass sich ihr Wachstum in mehreren Überlieferungsschritten nachvollziehen lässt. Auf der letzten Ebene der Kanonischen Ausgabe wird die vielgestaltige Abrahamtradition gezielt zur Klärung des Verhältnisses zwischen Paulus und Jakobus eingesetzt: Die mit dem Abrahambeispiel verbundene Redaktion erklärt einerseits die Spannungen zwischen beiden, dient andererseits aber dem Nachweis, dass sie in den fundamentalen Fragen völlig übereinstimmen.

      Trotz der Unterschiedlichkeit der einzelnen Beiträge und der notwendigen Differenzierungen hat der Ansatz seine Validität und Fruchtbarkeit in sehr verschiedenen Bereichen gezeigt. Was die neuen Perspektiven, die sich hier ergeben, methodologisch und theologisch bedeuten, untersucht Günter Röhser. Er skizziert und systematisiert in seinem Beitrag die Konsequenzen der These einer Kanonischen Ausgabe für die neutestamentliche Wissenschaft. Dabei unterscheidet er zwischen exegetisch-historischen und theologisch-hermeneutischen Konsequenzen und kommt zu dem Ergebnis, dass die These der Kanonischen Ausgabe vor allem in historischer Hinsicht ein „Altering of the Default Setting“ (Dunn) bedeute, insofern sich insbesondere die Grundlagen für die neutestamentliche Textkritik veränderten. Aus hermeneutischer Sicht habe die These das Potential, neutestamentliche Theologie bzw. kanonische Auslegung historisch zu begründen.

      Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte

      Jan Heilmann

      „Die Geschichte des Neuen Testamentes ist die Geschichte eines Buches. Eines Buches, das von einem konkreten Herausgeberkreis an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt herausgegeben wurde.“1

      Dies ist die zentrale These einer Herausgabe von 27 Schriften mit dem Titel „Neues Testament“ im zweiten Jahrhundert, die David Trobisch in seiner 1996 erschienen Habilitationsschrift aufgestellt hat. Seine These beruht bekanntermaßen auf vier zentralen Beobachtungen zur Einheitlichkeit des neutestamentlichen Handschriftenbefundes:

      „Die Notierung der nomina sacra, die Kodexform, die in den Handschriften einheitlich überlieferte Reihenfolge und Anzahl von Schriften, die Formulierung der Titel und die Hinweise darauf, daß die Sammlung von Anfang an einen einheitlichen Namen hatte, all das sind Elemente, die auf eine sorgfältige Endredaktion zurückzuführen sind.“2

      Darüber hinaus arbeitete Trobisch das literarische Konzept der in Sammlungseinheiten herausgegebenen neutestamentlichen Schriften heraus. Das Ziel dieser Ausgabe habe darin bestanden, die Geschichte des frühen Christentums in einer spezifischen Perspektive, mit einer Tendenz zur Harmonisierung darzustellen und v. a. den Konflikt zwischen Paulus und den Autoritäten in Jerusalem zu entschärfen.3

      Die Reaktionen in der Forschung auf diese These reichen von polemischer Ablehnung4 über wohlwollende Kritik und Skepsis5 bis hin zu vereinzelter produktiver Aufnahme der Ideen Trobischs.6 Als Ausgangspunkt für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der These einer editio princeps des Neuen Testaments (im 2. Jahrhundert) erscheint der Versuch sinnvoll, die bisher in der Forschung formulierte Kritik an Trobischs Studie systematisierend zusammenzufassen und zu evaluieren. Dazu werde ich die Reaktionen auf die These Trobischs unter den folgenden Kategorien verhandeln.

      1 Methodische Anfragen an die Auswertung des Handschriftenbefundes

      2 Sozial- und kirchengeschichtliche Argumente

      3 Kritik an fehlender historischer Kontextualisierung

      4 Das Problem der Sammlung der Katholischen Briefe

      Zuletzt möchte ich den Ertrag dieser Durchsicht im Hinblick auf das Thema des Sammelbandes und für die weitere Forschung zusammenfassen. Im Anschluss an die englischsprachige Ausgabe von Trobischs Habilitationsschrift7 verwende ich den metasprachlichen Begriff editio princeps/Erstedition statt „kanonische Ausgabe“, um Missverständnisse zu vermeiden und schon begrifflich den Neuansatz zu markieren, der mit der These Trobischs verbunden ist. Zudem wird die Instanz, welche die von Trobisch postulierte Ausgabe zu verantworten hat, im Singular als Herausgeber bezeichnet, weil Trobischs These eine einheitliche Bearbeitung voraussetzt. Damit ist aber weder über Anzahl noch über das oder Geschlecht der Person(en) irgendeine Aussage gemacht.

      1 Methodische Anfragen an die Auswertung des Handschriftenbefundes

      Das Hauptgewicht der kritischen Anmerkungen zur These einer editio princeps liegt auf methodischen Vorbehalten bezüglich der Auswertung des Handschriftenbefundes. So wird a) von einigen Kritikern moniert, dass Trobisch einen Großteil der neutestamentlichen Papyrusfragmente, die s. E. für eine Feststellung der Reihenfolge der Schriften nicht auswertbar seien,1 als eigene Evidenzgröße nicht berücksichtige und er seine Beobachtungen stattdessen b) v. a. an den jüngeren „Vollbibeln“ gewonnen habe.2 Abweichungen von der postulierten Reihenfolge der Sammlungseinheiten in sog. „Vollbibeln“ als auch innerhalb der Sammlungseinheiten selbst würden c) als nicht aussagekräftige Ausnahmen dargestellt.3 Vor allem sei d) die Argumentation bzgl. der Sammlungseinheiten für die alttestamentlichen Hss. nicht durchzuhalten.4 e) Zudem wird Trobisch von D. C. Parker vorgehalten, seine auf den Überschriften basierende Argumentation hielte der Evidenz nicht stand, da die zugrundeliegenden Daten von Hengel unzulänglich seien.5 So seien die Überschriften in 𝕻4.64.67 sicher und in 𝕻66 „vielleicht“ (1992)/„wahrscheinlich“ (2001) von einer späteren Hand hinzugefügt worden.6 Er expliziert sein Gegenargument in seiner Rezension nicht, es müsste aber, um argumentative Stoßkraft gegen Trobischs Untersuchung zu entwickeln, lauten: Evangelien seien in Sammlungen auch ohne Titel zirkuliert. f) Weitere häufig genannte Gegenargumente beziehen sich auf Trobischs Beobachtungen zu den Nomina Sacra, deren Notierung in den Handschriften gerade nicht einheitlich durchgehalten würde,7 die auch in außerkanonischen/apokryphen christlichen Schriften vorkommen8 und – ich muss ergänzen – sogar archäologisch bezeugt sind.9 g) Parker, der selbst mit der Metapher des „lebendigen Textes“ arbeitet,10 fragt zudem an, wie Trobischs These mit der großen textkritisch feststellbaren Varianz des neutestamentlichen Textes (er spricht von Texttypen) vereinbar sei: „Would one not expect a greater uniformity?“11; h) P. Brandt, der in seiner Arbeit zur Endgestalt des (alttestamentlichen) Kanons die These Trobischs einer Endredaktion eingehend im Hinblick auf ihre heuristische Kraft würdigt,12 merkt kritisch an, dass Trobisch nur die griechische Rezeption, z. B. aber nicht die Reihenfolge in der altlateinischen Handschriftentradition berücksichtige.13

      Zu den Kritikpunkten a)–c) ist zunächst anzumerken, dass die Schlagkraft des Arguments, das vor allem auf der Annahme des höheren Alters und damit Wertes der Papyrusfragmente gegenüber den „Vollbibeln“ basiert, angesichts der gut begründeten Problematisierung der häufig theologisch motivierten Frühdatierung deutlich sinkt.14 Vor diesem Hintergrund ist auch der Versuch einer statistischen Erhebung der Überlieferungslage,