Sara Izzo

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext


Скачать книгу

Genets Auflistung dieser Machtzentren im Foucault’schen Sinne steht jedoch der bewertende Begriff der institutionell fundierten Missachtung im Vordergrund, welche die bereits im Zerfall befindliche amerikanische Gesellschaft determiniere:

      Ce que l’on nomme la civilisation américaine disparaîtra. Elle est déjà morte car elle est fondée sur le mépris. Par exemple, le mépris des riches pour les pauvres, le mépris des Blancs pour les Noirs, etc. Toute civilisation fondée sur le mépris doit nécessairement disparaître.27

      Die hier nach Heyndels als für Genets Vision von Amerika symptomatisch beschriebene, bipolare und dichotome Struktur28 äußert sich nicht in einer moralischen Missachtung, sondern funktional und institutionell, so Genet: „Et je ne parle pas du mépris en termes de morale, mais en termes de fonction: je veux dire que le mépris, comme institution, contient son propre dissolvant, et le dissolvant de ce qu’il engendre.“29 Die einzelnen Institutionen werden als von den Weißen monopolisierte Repressionsinstanzen dargestellt, die eine klare gesellschaftliche Trennung instaurieren und Ausdruck eines auf der Missachtung basierenden und daher zu zerschlagenden Systems sind.

      Die Kritik an den Institutionen des Gerichts oder des Gefängnisses, welche in Genets Anhang nicht aufgeführt werden, manifestiert sich dann im Kontext des Prozesses gegen George Jackson besonders virulent und bringt ihn schließlich auch dem G.I.P. näher. In diesem Zusammenhang verfasst Genet das Vorwort der dritten Broschüre des G.I.P., die der Ermordung George Jacksons gewidmet ist.30 Dem G.I.P. ging es in dieser Broschüre nicht um die detektivische Aufklärung des Verbrechens, welches als „assassinat politique“31 beschrieben wird, sondern um die Beantwortung zweier Fragen, nämlich nach der Persönlichkeit George Jacksons und den Gründen für dessen Ermordung einerseits sowie nach dem Verdecken des Mordes andererseits:

      1 Quel était donc ce vivant qu’on a voulu tuer? Quelle menace portait-il, lui qui ne portait que des chaînes?

      2 Et pourquoi a-t-on voulu tuer cette mort, l’étouffer sous les mensonges? Que pouvait-on encore redouter d’elle?32

      Anders als in den ersten beiden Broschüren zur „Enquête dans 20 prisons“ und zur „Enquête dans une prison modèle: Fleury-Mérogis“ liegt der Interessenschwerpunkt hier weniger auf dem Gefängnis als sozialem Mikrokosmos, denn auf der tatsächlichen politischen Bedeutung und Funktion des Gefängnisses als mögliches soziales Repressionsmittel und der mithin revolutionären Bedeutung der Aufstände und Revolten in den Gefängnissen, wie auch die Auswahl der Artikel zeigt:

      Pour répondre à la première question, nous avons choisi de présenter quelques-unes des interviews les plus récentes dans lesquelles Jackson analyse la fonction révolutionnaire du mouvement dans les prisons. Pour répondre à la seconde, nous avons fait l’analyse d’un certain nombre d’informations et de documents publiés aussitôt après la mort de Jackson.33

      Genets Vorwort ist in Antwort auf die erste Fragestellung der Broschüre als exemplarisches Porträt zu verstehen, das sich entsprechend einzelnen Etappen strukturiert, die Jacksons Vita und darüber hinaus die Situation der Unterdrückung der Schwarzen in den USA allgemein charakterisieren: „Un Noir de dix-huit ans emprisonné pendant onze ans pour complicité de vol“, „Auteur d’un livre révolutionnaire“, „Frère de son frère Jonathan“ und „Le martyr décidé et assassiné par les Blancs“.34 Genet verhandelt in seinem Vorwort beide programmatischen Fragen, die der G.I.P. dieser Broschüre voranstellt, indem er nämlich ausgehend von Jacksons Persönlichkeit Mutmaßungen über die Beweggründe für dessen Tötung und ihrer Verschleierung anstellt. Bemerkenswert an diesem Text ist aber vor allem die Priorität, welche den Zitaten aus George Jacksons Gefängnisbriefen selbst zukommt. Unter der Rubrik „Auteur d’un livre révolutionnaire“ führt Genet über zwei Seiten ausgewählte Zitate an, die den halben Artikel ausmachen und an Foucaults Konzept der Produktion eines Gegen-Diskurses durch die Betroffenen selbst anknüpft. Vorwort und Broschüre stehen emblematisch für den Austausch zwischen Genet und Foucault.

      Zuvor hatte Genet bereits einen ursprünglich in den USA veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Attica-U.S.A.“35 über die Revolten im US-amerikanischen Gefängnis von Attica verfasst, der im September 1971 auszugsweise in La cause du peuple publiziert wurde. Unter der Rubrik „Jackson, Attica, USA“ wird in La cause du peuple dessen auf einer Anfrage der New York Times beruhende Genese beschrieben: „Extraits d’une lettre ouverte au New York Times, journal qui avait demandé à Jean Genet quelles réformes il proposait pour les prisons américaines. C’est aux journaux des Panthères Noires et à la Cause du peuple que J. Genet envoie sa réponse.“36 Diesen Entstehungskontext evoziert Genet gleichsam in einer Fußnote, jedoch lediglich, um seine Ablehnung gegenüber der Institution des Gefängnisses zu untermauern: „La solution du problème noir, celle de l’entassement criminel des noirs dans les prisons, ne seront pas apportées par moi, comme me le demande le directeur du New-York-Times.“37 Genet hinterfragt folglich nicht die Möglichkeit einer Reform des Gefängnisses, wie die New York Times es wünscht, sondern beschreibt zum einen das amerikanische Justizsystem als ausführendes Organ eines genozidären Massakers an den Afroamerikanern: „De toutes [sic!] façon c’est le terme génocide qui doit être retenu si le mot génocide veut dire l’anéantissement d’un peuple par un autre.“38 Zum anderen legt er den Schwerpunkt auf die Politisierung der afroamerikanischen Gefangenen, welche als von der Black Panther Party initiierter Transformationsprozess beschrieben wird: „[L]e message des Panthères s’adressait aussi aux prisonniers noirs qui eurent, grâce à eux, le moyen de transformer leur détresse individuelle en réflexion politique.“39 Die Verwendung des Wortes ‚Genozid‘ im Sinne eines „anéantissement d’un peuple par un autre“40 bewirkt dabei eine medienstrategische und öffentlichkeitswirksame Skandalisierung der Vorkommnisse, durch welche nach Peter Imbusch „eine Bedrohungs- und Bedeutungsspirale in Gang [ge]setzt [wird], die entschlossenes Handeln erzwingt.“41

      Genets Interventionen für den G.I.P. stehen im Kontext der Internationalisierung der Gefängnisrevolten und beleuchten einen institutionell verankerten Rassismus, der durch das Justizsystem kanalisiert wird. Durch ihre Verknüpfung mit dem G.I.P. sind diese Artikel dem Konzept des radikalen Journalismus nach Foucault zuzuordnen, bereichern es jedoch nicht nur durch die inhaltliche Komponente der Internationalität und der Detektion eines rassistischen Justizapparates, sondern geben dem Konzept der Radikalität auch durch die kompromisslose Tonalität der Texte eine neue Form. Sie verfolgen die Zielsetzung einer gesellschaftlichen Gegen-Information, in der auch Foucaults Konzept eines Gegen-Diskurses aufgeht, dessen Charakteristika im Folgenden analysiert werden sollen.

      2.2.2.2 Der G.I.P. und das Konzept des ‚contre-discours‘ nach Foucault

      Innerhalb der Werkgenese Foucaults lässt sich die Gründung des G.I.P. als Intermezzo zwischen zwei Grundpfeilern des theoretischen Werks situieren, nämlich seiner Antrittsvorlesung am Collège de France vom 2. Dezember 1970 mit dem Titel L’ordre du discours1 und der Veröffentlichung von Surveiller et punir2 im Jahre 1975. Die im Kontext des G.I.P. entstandenen Kurztexte journalistischer und essayistischer Natur sowie die zahlreichen Interviews auf nationaler und internationaler Bühne sind jenem – um es mit Polats Formulierung zu halten – „zweiten Werk“3 des Philosophen zuzurechnen, welches das umfassende Korpus zusätzlicher sekundärer Texte konstituiert. Der Begriff des Gegen-Diskurses wird aus einer Verknüpfung von Diskurs- und Machttheorie generiert, wie sie im Spielfeld des G.I.P. taktisch praktiziert wird.

      Der in L’ordre du discours theoretisierte Diskursbegriff ist durch seine Abhängigkeit von einer rein negativ konnotierten Auffassung von Macht charakterisiert, die sich schließlich in Surveiller et punir aufzulösen beginnt.4 Unter der Prämisse, dass in der Gesellschaft die Produktion des Diskurses durch gewisse Prozeduren kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird,5 determiniert Foucault drei Kategorien von Kontrollmechanismen: externe Prozeduren der Ausschließung, interne Prozeduren zur Selbstkontrolle des Diskurses und die Verknappung des Diskurses durch das sprechende Subjekt bzw. den Autor. Insbesondere die Reflexion der externen Ausschließungsmechanismen fließt in das theoretische Fundament des G.I.P. maßgeblich mit ein. Foucault benennt