Sara Izzo

Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext


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gegenkulturellen Proteste in Chicago entstandenen journalistischen Beiträge im dritten Kapitel zeigen wird. Denn während Genet in den Texten um 1970 im Rahmen des G.I.P. und des Kampfes für die Black Panthers eine zwischen Intellektuellen und Revolutionären vermittelnde Position ausfüllt und damit selbst zumindest aus strategischen Gründen das Interventionsschema einer zwischengeschalteten intellektuellen Transferinstanz übernimmt, bleibt er in anderen Texten, wie beispielsweise den hier genannten journalistischen Artikeln, auch auf stilistischer Ebene stärker seiner Rolle als Poet verpflichtet. Zum anderen verwundert es, dass sich Neutres dann insbesondere auf Un captif amoureux bezieht, um Genets Interventionsform mit Sartres Engagement zu vergleichen.

      Zwar eröffnet Neutres’ Ansatz eine interessante Gegenstimme zu jenen zahlreichen Untersuchungen, denen zufolge sich Genets gesamtes Werk durch eine eigentümliche Verschränkung des Literarischen und des Politischen auszeichne und unabhängig vom Entstehungszeitpunkt nicht zwischen politischen und literarischen Werken unterschieden werden müsse.22 So nämlich untermauert Neutres zu Recht den Zusammenhang zwischen den politischen Interventionen und Un captif amoureux, dessen Genese sich nicht ohne diese beschreiben lasse, und betont dabei, dass sich Un captif amoureux durch seinen literarischen Status radikal von den politischen Interventionen unterscheide.23 Doch Genets politische Aktivitäten grenzt Neutres dann gerade in Bezug auf Un captif amoureux von Sartres Konzept des literarischen Engagements ab und er orientiert sich dabei an Goytisolos Vorstellung einer „littérature compromise“:

      Pour Goytisolo, comme pour Genet et avant eux, Marx et Trotski, la littérature engagée, l’écriture mise au service d’une cause politique concrète, d’une organisation ou d’un mouvement n’a jamais donné le jour à une œuvre de valeur. Les livres engagés se révèlent illisibles dès l’oubli ou la disparition des circonstances qui les ont motivés. L’écriture compromise se distingue de la littérature engagée par un investissement radical de l’écrivain dans uns réalité politique. N’est plus engagée seulement une facette de l’écrivain – son opinion politique sur telle ou telle cause – mais tout son être.24

      Diese Form des literarischen Engagements geht über die Positionsergreifung in einem spezifischen politischen Kontext hinaus und manifestiert sich in einer absoluten politischen Verpflichtung des Schriftstellers, in der auch sein Werk aufgehe. Jene hier angedeutete Verflechtung von Politik und Ästhetik bei Genet konstatiert auch Moreno, ohne jedoch dabei zwischen Genets Früh- und Spätwerk zu unterscheiden: „Le politique n’est pas un aspect extérieur à l’œuvre, il est inséparable de sa recherche esthétique: il fait partie de sa littérarité.“25 Gerade jene Studien, in denen keinerlei Differenzierung zwischen dem Status des literarischen Frühwerks, den Interventionen und dem aus diesen hervorgegangenen letzten Werk vorgenommen wird, können Genets politisches Engagement nur unvollständig erschließen, da die Beleuchtung des Status der intervenierenden Texte nicht nur Aufschluss über Genets öffentliche Position liefert, sondern auch über die Klassifizierung von Un captif amoureux. Neben Neutres konstatiert auch Sylvain Dreyer in seiner Untersuchung zu engagierten Texten und Filmen aus den 1960er und 1970er Jahren den Einfluss Sartres als „contre-modèle“26 auf die in dieser Zeit aktiven Autoren und Regisseure, darunter Genet, bezieht sich jedoch in seinem Fall ausschließlich auf Un captif amoureux. Letzteren Text wählt er in seiner exzellenten Studie über die Entwicklung einer an Sartres Modell ausgerichteten Form des selbstkritischen literarischen und filmischen Engagements als Endpunkt der Ausdifferenzierung jener von ihm als „œuvres engagées critiques“27 bezeichneten Werke. Dreyer blendet dabei die Bedeutung aus, die der werkimmanenten Evolution von Genets politischen Texten hin zu Un captif amoureux zukommt. So ist nämlich fraglich, inwieweit Genet diesen überhaupt noch als Intervention konzipiert und ob dieser nicht vielmehr sein politisches Detachement bestätigt, wie im vierten Kapitel näher beleuchtet wird. Genets ablehnender Rekurs auf Sartres Interventionsmodell prägt sich stärker in seinen pragmatischen Texten aus, wie sich nachfolgend beispielsweise auch anhand seiner Vorworte aufzeigen lässt.

      2.2.1.2 Genet als Verfasser von Vorworten

      Die Textgattung des Vorwortes, derer sich Genet während seines politischen Aktivismus mehrfach bedient, konstituiert aufgrund ihrer liminalen Stellung einen Sonderstatus in Hinblick auf das Spannungsverhältnis zwischen Pragmatik und Literarizität. Genet orientiert seine Rolle als préfacier an Sartres Modell.1 In seinem Text über zeitgenössische maghrebinische Autoren mit dem Titel „Sur deux ou trois livres dont personne n’a jamais parlé“ (1974) zeichnet sich seine Wertschätzung für Sartres Vorwort zu Frantz Fanons Les damnés de la terre2 ab, wobei er jedoch bemängelt, dass jener nichts dergleichen für Tahar Ben Jelloun oder Ahmed in der Aktualität unternehme: „Il [Sartre, S.I.] n’ose pas prononcer un mot, un nom qui pourrait aider ces voix de Tahar Ben Jelloun et d’Ahmed. Il avait pourtant si admirablement commenté le livre de Frantz Fanon.“3

      Sartres Vorwort muss in Hinblick auf Genets eigene Funktion als préfacier bewertet werden. So verfasste Genet das Vorwort zu den Gefängnisbriefen von George Jackson4, zur vierten Broschüre des Groupe d’information sur les prisons über George Jacksons Tod im Gefängnis von Saint Quentin5 und zu den Gefängnisbriefen der Roten Armee Fraktion6.

      Als literarische Kategorie repräsentiert das Vorwort auf textueller Ebene die vermittelnde Scharnierstellung, welche Genet zwischen den Black Panthers und den Intellektuellen bzw. der interessierten Öffentlichkeit einnimmt. Wie Jacques Derrida herausstellt, gehört es durch seinen Status der Vorrede bzw. des ‚avant-dire‘ „à la fois au dedans et au dehors du concept“7, welches im Werk selbst veranschaulicht wird. Diese Wechselbeziehung aus Werkinteriorität und -exteriorität kennzeichnet jene als „liminaire“ designierte Textsorte,8 wobei sich das der Textsorte inhärente Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen auch in Genets Mittlerfunktion widerspiegelt. Darüber hinaus repräsentiert der préfacier nach Genette nicht nur einen „‚parrain‘ littéraire ou idéologique“9, der unter Berufung auf seine Bekanntheit das Werk implizit empfiehlt, sondern er interveniert zudem auf gesellschaftspolitischer Ebene als porte-parole für ein bestimmtes politisches Ziel.10 Die gesellschaftspolitische Referentialität und Kontextualisierung des Vorwortes begründet auch die umstandsbedingte Notwendigkeit, welche das Erscheinen dieses Paratextes charakterisiert: „Les préfaces […] se multiplient d’édition en édition et tiennent compte d’une historicité plus empirique; elles répondent à une nécessité de circonstance.“11 Die Verankerung des Vorwortes in der politischen Aktualität sowie die auf den Haupttext vorausschauende Perspektive fundieren die Zeitform einer manifesten Gegenwärtigkeit, einer „présence manifeste“12.

      In Sartres Vorwort zu Les damnés de la terre von 1961 wird die liminale Stellung dieser Textsorte anhand der Problematik der Adressateninstanz thematisiert. Während sich nämlich Fanons Text an die algerische Bevölkerung richtet und zur Befreiung von der französischen Kolonialmacht aufruft, schreibt Sartre sein Vorwort explizit für die Europäer, wie die zahlreichen Appelle unterstreichen, so beispielsweise „nous, les Européens, nous pouvons l’entendre [Frantz Fanon, S.I.]: la preuve en est que vous tenez ce livre entre vos mains“13 oder „Européens, ouvrez ce livre, entrez-y“14. Sartre rechtfertigt seine adressaten­orientierte Vorrede, indem er auf die – gerade für die okzidentale Gesellschaft bedeutsame – informative und auch bewusstseinsverändernde Charakteristik des Textes verweist: „Fanon révèle à ses camarades […] la solidarité des ‚métropolitains‘ et de leurs agents coloniaux. Ayez le courage de le lire: par cette première raison qu’il vous fera honte et que la honte, comme a dit Marx, est un sentiment révolutionnaire.“15 Sartre positioniert sich somit explizit als Vermittlerinstanz zwischen Fanons Text und dem okzidentalen Leser und beschreibt diese Mission mit Bezug auf die marxistische Dialektik als komplementären Bestandteil eines revolutionären Prozesses:

      Ce livre n’avait nul besoin d’une préface. D’autant moins qu’il ne s’adresse pas à nous. J’en ai fait une, cependant, pour mener jusqu’au bout la dialectique: nous aussi, gens de l’Europe, on nous décolonise: cela veut dire qu’on extirpe par une opération sanglante le colon qui est en chacun de nous.16

      Während Fanon den Bewusstseinsprozess