Jana Gamper

Satzinterpretationsstrategien mehr- und einsprachiger Kinder im Deutschen


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semantischen Relationen zwischen einem Agens und einem Nicht-Agens evoziert. Diese Idee ist – wenn auch nicht explizit – eng angelehnt an das Konzept des syntactic bootstrapping. Dabei wird angenommen, dass erstens das lexikalische Lernen dem syntaktischen untergeordnet ist und zweitens Wortbedeutungen (dabei allen voran Verb- aber auch Substantivbedeutungen) auf der Basis eines syntaktischen Frames generiert werden (vgl. Fischer et al. 2010, Gleitman 1990, Naigles/Swensen 2007). Beispielswiese kann ein Sprecher durch die Verfügbarkeit von zwei Nominal­phrasen eine kausale Relation zwischen den Phrasen und damit den beteiligten Aktanten annehmen: „[S]entence structures themselves are meaningful to children as well as adults, in a way not reducible to links between thematic roles and grammatical function“ (Fischer 2000: 11). Sprecher sind also in der Lage, über die Anzahl und die Abfolge der Konstituenten eine grobe Satzbedeutung zu generieren und den Aktanten spezifische Eigenschaften zuzuordnen. In diesem Zusammenhang können beispielsweise Kako/Wagner (2001) zeigen, dass Sprecher die Anzahl der Phrasen dazu nutzen, um die Bedeutung eines unbekannten Verbs zumindest einzugrenzen und somit die syntaktische Struktur an sich als structural cue zu gebrauchen. Bei zwei nominalen Konstituenten werden unbekannte Verben als transitiv interpretiert, bei nur einer als intransitiv. Der bootstrapping-Ansatz stellt damit das Satzschema an die Spitze eines Top-Down-Prozesses bei der Satzverarbeitung und beim Satzverstehen. Syntaktische Strukturen regulieren dabei die Generierung einer semantischen Skizze und erleichtern im Erwerb die Eingrenzung und Kategorisierung von Wortbedeutungen. Diese hierarchische Relation zwischen Syntax und lexikalischer Semantik weist darauf hin, dass syntaktische Strukturen als bedeutungstragende Einheiten beziehungsweise als Schemata fungieren, die dem Wissenserwerb dienen.

      Insgesamt lässt sich bisher folgern, dass sich das semantische Konzept der Transitivität in der Produktion im frühen Erwerb des N>N-Musters abbildet, in dem zugleich auch eine prototypische Belebheitsopposition zwischen einem belebten Agens und einem unbelebten Nicht-Agens kodiert wird. In der Rezeption dient das N>N-Muster Sprechern dann dazu, die syntaktische Struktur als Repräsentanten eines transitiven Handlungsmusters zu verarbeiten.

      Die Konstituentenabfolge im Satz erfüllt die Funktion, kausale Handlungszuammenhänge zwischen einem Agens und einem Nicht-Agens abzubilden. Auch Kasusmarker erfüllen die Aufgaben, dichotome semantische Rollen formal abzugrenzen. Eine formale Differenzierung zwischen Nominativ (NOM) und Akkusativ (AKK)6 dient dabei einer semantischen Differenzierung zwischen Agens und Patiens innerhalb von transitiven Konstruktionen (vgl. für das Deutsche für einen Überblick Dürscheid 1999). Comrie (1981: 119) verweist darauf, dass die meisten NOM-AKK-Sprachen dazu tendieren, nur den Akkusativ mittels eines Affixes zu markieren, der Nominativ ist morphologisch unmarkiert. Kombiniert mit den prototypischen dichotomen Eigenschaften der semantischen Rollen heißt dies, dass über eine oblique morphologische Veränderung einer NP auf Nicht-Agentivität geschlossen werden kann. Bleibt die NP hingegen morphologisch unmarkiert, so ist dies ein Indikator für Agentivität. Kombiniert mit den prototypischen Satzpositionen von Agens und Patiens heißt dies, dass in einer N>N-Struktur das morphologisch unmarkierte Agens als N1 und das morphologisch markierte Patiens als N2 realisiert wird. Comrie (1981) und Langacker (1991) verweisen zudem darauf, dass auf formaler Ebene die Definitheit eine wichtige Rolle spielt. Ein Agens ist prototypisch definit, ein Patiens hingegen indefinit.

      Daraus lässt sich ableiten, dass Agens und Patiens neben distinktiven semantischen auch prototypische morphologische und syntaktische Merkmale aufweisen. Formale und semantische Eigenschaften stehen in einem komplexen Interdependenzverhältnis, da einerseits die semantischen Merkmale die formalsprachliche Ebene motivieren (indem zum Beispiel das entsprechende Satzmuster N>N entsteht) und andererseits über die einzelnen formalen Merkmale auf die dahinterliegenden semantischen Konzepte geschlossen werden kann. Abbildung 2 fasst die prototypischen semantischen und formalen Eigenschaften eines Proto-Agens und eines Proto-Patiens zusammen und macht darüber hinaus deutlich, dass Agens und Patiens ein Kontinuum bilden, an dessen oppositionellen Enden die prototypischen Eigenschaften zu finden sind. Die jeweiligen Eigenschaften müssen nicht gemeinsam auftreten, sodass Varianzen und Dynamizität im Rahmen des Kontinuums denkbar sind (indem zum Beispiel das Patiens belebt ist und damit potentiell auch Handlungsträger sein kann).

      Abbildung 2: Semantische und formale Prototypikalität von Agens und Patiens

      In Hinblick auf das Deutsche findet sich eine Reihe von korpusanalytischen Studien, die entweder einzelne Eigenschaften aus der Übersicht oder das Zusammenspiel einzelner Merkmale untersuchen. So zeigen beispielsweise Bader/Häussler (2010) sowie Müller/Weber (2004), dass in SO-Sätzen das Subjekt (und dadurch in der Regel das Agens) definit, das Objekt (und damit das Nicht-Agens) hingegen indefinit ist.7 Die Belebtheitsdichotomie (Agens [+BELEBT] vs. Patiens [-BELEBT]) scheint ebenfalls ein typisches Merkmal von SO- und OS-Sätzen zu sein. Bader/Häussler (2010) kommen zum Beispiel zu dem Fazit, dass diese Dichotomie zu 60 % für SO- und 80 % für OS-Sätze gilt, sofern diese ein akkusativmarkiertes Objekt enthalten.

      Mit Blick auf die Zuverlässigkeit, die die in Abbildung 2 gelisteten formalen Merkmale jeweils innehaben, muss die morphologische Markierung als diejenige herausgestellt werden, die am deutlichsten machen kann, ob eine NP eine agentivische oder nicht-agentivische Rolle kodiert. In Hinblick auf die Kennzeichnung nicht-agentivischer Rollentypen muss hierbei zwischen den Funktionen des Akkusativs und Dativs differenziert werden. Anders als der Akkusativ wird der Dativ prototypisch für die Markierung indirekter Objekte gebraucht, die wiederum in der Regel mit der semantischen Rolle des Rezipiens8 korrespondieren. Wie das direkte Objekt, tritt auch das indirekte Objekt immer in einer transitiven sowie auch ditransitiven Konstruktion auf und ist damit Bestandteil einer kausalen Handlung, die von einem prototypischen Agens ausgeführt wird. Langacker (1991: 327) unterscheidet deshalb zwischen dem Subjekt als source domain auf der einen und der target domain in Form eines direkten oder indirekten Objekts auf der anderen Seite. Im Kontext der Prototypikalisierung semantischer Relationen differenziert Langacker weiterhin zwischen direkten und indirekten Objekten als Repräsentanten passiver und aktiver Handlungsbeteiligter: „[A]n active participant is one that functions as an original source of energy and thereby initiates [Herv. i.O.] an interaction“ und kann letztlich als ein active experiencer definiert werden (Langacker 1991: 327). Typischerweise gehen dativmarkierte Objekte als Kodierungsformen eines Rezipiens mit Transferverben wie helfen und geben einher, die eine teilweise Aktivität des nicht-agentivischen Gegenübers implizieren.9 Anders als das Patiens kann das Rezipiens folglich agentivische Eigenschaften mitbringen, wie zum Beispiel das Merkmal [+BELEBT], sowie eine teilweise Selbstständigkeit und Involviertheit im Rahmen einer Handlung. Eine semantische Abgrenzung zwischen den eigentlich dichotomen Rollen Agens und Rezipiens kann somit nicht mittels klarer Grenzen im Sinne eines eindeutigen Belebtheitskontrastes erfolgen, sondern muss vielmehr im Kontext einer von Primus (2006) vorgeschlagenen involvement- beziehungsweise dependency-Hierarchie erfasst werden. Je höher der Grad des involvement, desto wahrscheinlicher ist die Realisierung eines Arguments als Agens. Je höher der Grad der dependency, desto eher handelt es sich um ein Patiens. Ein Rezipiens steht zwischen diesen beiden Extrempolen: Es ist weniger involviert als das Agens, jedoch auch weniger abhängig als das Patiens. Dadurch nimmt es semantisch gesehen Eigenschaften beider Rollen an. Entsprechend wäre das Rezipiens in Abbildung 2 zwischen den beiden Polen einzuordnen.

      Anders als die klaren semantischen Oppositionen zwischen Agens und Patiens werden die Grenzen zwischen Agens und Rezipiens also merklich unschärfer, da beide prototypisch die Eigenschaft [+BELEBT] mitbringen. Dass das indirekte Objekt dem Subjekt jedoch trotzdem hierarchisch untergeordnet ist, wird wiederum durch eine entsprechende Satzposition sowie eine oblique Kasusmarkierung deutlich. Wie auch das Patiens, wird das Rezipiens in einer transitiven Konstruktion nämlich nach dem Subjekt realisiert, wodurch die kausale Relation zwischen den beiden Aktanten abgebildet wird. Zusätzlich wird das Rezipiens oblique markiert. Die overte oblique Kasusmarkierung im Dativ ist offenbar genau deshalb nowendig, weil die semantischen Grenzen besonders im Bereich der Belebtheit verschwimmen (s. dazu Kapitel 2.4).

      Zusammengenommen existieren aus Sicht der Prototypentheorie abstrakte transitive Handlungsschemata, die in Form eines Satzschemas kodiert werden, in dem die Konstituentenabfolge