Jana Gamper

Satzinterpretationsstrategien mehr- und einsprachiger Kinder im Deutschen


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Kasussystem des Russischen (Singular)

      Das Deklinationsparadigma ist im Russischen nicht nur vom Genus und damit von der phonologischen Wortstruktur, sondern auch von der Belebtheit abhängig. Maskulina, die auf einen Konsonanten auslauten, und alle Neutra12 können in einer Deklinationsklasse zusammengefasst werden. Charakteristisch für diese Klasse ist der Formenzusammenfall zwischen NOM und AKK bei unbelebten Substantiven. Bei belebten Konstituenten werden Nominativ und Akkusativ morphologisch unterschieden; stattdessen entspricht in dieser Klasse der Akkusativ dem Genitiv. Diese Differenzierung ist besonders für die Maskulina relevant, da es bei den Neutra nur zwei belebte Lexeme gibt (neben dem in Tabelle 4 aufgeführten Lexem životnoe nur dit’jo (Kind), dessen Gebrauch im Singular sehr selten ist und das tendenziell durch das Synonym rebjonokmask ersetzt wird). Tendenziell sind also im Russischen alle Neutra unbelebt und dadurch im NOM und AKK formidentisch.

      Einen Sonderfall bilden die Feminina, die aufgrund zweier unterschiedlicher phonologischer Strukturen in zwei Klassen unterteilt werden. Differenziert wird zwischen Feminina auf -a13 (Feminina I) und Feminina, die auf einem palatalisierten alveolaren Frikativ ([sj], [zj]) oder einer postalveolaren Affrikate ([džj], [tʃj]) auslauten (Feminina II). Letztere Gruppe zeichnet sich wie die unbelebten Maskulina und Neutra durch einen Formenzusammenfall im NOM und AKK aus und enthält überwiegend unbelebte Lexeme.14 Die größere Gruppe der Feminina auf -a, die sowohl belebte als auch unbelebte Lexeme umfasst, differenziert hingegen zwischen diesen beiden Kasus. Dadurch, dass Feminina der Klasse II mehrheitlich unbelebt sind, äußern sich die Differenzen in der phonologischen Struktur der beiden Femininagruppen tendenziell auch in einer Belebtheitsunterscheidung, die sich wiederum auf das Formenspektrum der Kasusformen auswirkt. Wie im Deutschen gibt es dadurch auch im Russischen in bestimmten Kontexten multifunktionale Formen zwischen NOM und AKK. Während jedoch im Deutschen der Zusammenfall auf bestimmte Genera (Neutra und Feminina) eingegrenzt ist, ist im Russischen sowohl die Genusdifferenzierung (Maskulina vs. Neutra) als auch die Belebtheit und damit auch die phonotaktische Wortstruktur für eine potentielle Formidentität ausschlaggebend.

      Weitere Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen und dem russischen Kasussystem finden sich in der Verwendung eines Flexionsmarkers für unterschiedliche Kasus in unterschiedlichen Genera. So wird zum Beispiel die Flexionsendung -u sowohl als Dativmarker bei Maskulina und Neutra als auch als Akkusativmarker bei Feminina des Typs I verwendet. Solche Formzusammenfälle sind jedoch im Gegensatz zum Deutschen seltener. Ebenso selten kommt der Fall vor, dass innerhalb einer Deklinationsklasse ein Flexiv mehrere Kasus abdeckt. Dies ist insbesondere für Feminina des Typs II der Fall, bei denen die Endung -i sowohl im Dativ als auch im Genitiv gebraucht wird. In den übrigen Genera finden sich solche Formzusammenfälle – mit Ausnahme des NOM-AKK-Zusammenfalls bei unbelebten Substantiven – kaum. Auch wenn das Russische also keine 1:1-Korrespondenz zwischen Kasusmarker und Funktion aufweist, ist der Anteil der Synkretismen deutlich niedriger als im Deutschen und die Validität morphologischer Marker entsprechend höher. Weiterhin gibt es anders als im Deutschen keine Formidentität zwischen einem Dativ- und einem Nominativmarker. Eine Endung wie -u oder -i ist stets als oblique Form deutbar und kann nie im Nominativ auftreten.

      Somit gibt es zwar zentrale Parallelen zwischen dem deutschen und dem russischen Kasussystem, jedoch auch zentrale Unterschiede. In beiden Sprachen ist die Kasusform vom Genus und Numerus des Substantivs abhängig. In beiden sind Kasusmarker nicht eindeutig, sondern multifunktional. Jedoch ist im Russischen das Kasusparadigma innerhalb der einzelnen Deklinationsklassen und damit der einzelnen Genera formal ausdifferenzierter als im Deutschen. Die paradigmatische Ausdifferenziertheit der Kasusflexive führt schließlich dazu, dass in den meisten Fällen eine eindeutige Abgrenzung zwischen dem Nominativ und den obliquen Kasus stattfinden kann.

      Geht man auch für das Russische davon aus, dass der Nominativ überwiegend zur Markierung des Agens genutzt wird, so verweist die formale Differenzierung [+/-MORPHOLOGISCH MARKIERT] auf die Unterscheidung [+/-AGENS]. Dass diese grundlegende Unterscheidung auch für den Erwerb von Kasus­flexiven relevant zu sein scheint, erschließt sich aus einer Studie von Gagarina/Voeikova (2009). Sie können zeigen, dass die von ihnen untersuchten einsprachig russischen Kinder zunächst in den produktiven Deklinationsklassen I und II spezifische Kasusoppositionen (unmarkiert für Nominativ sowie markiert für fast alle anderen Kasus) aufbauen. Sobald ihr Gebrauch einsetzt (als „mini-paradigms“ (ebd.: 197) bezeichnet), durchlaufen die Lerner eine Art „morphological spurt“ (ebd.: 193). Dabei kommt eine Reihe neuer Lemmata hinzu, die sowohl morphologisch markiert als auch unmarkiert gebraucht werden. Die obliquen Formen werden dabei zunächst unsystematisch verwendet, sodass im L1-Erwerb zuerst die Dichotomie [-MARKIERT] vs. [+MARKIERT] zur Differenzierung von Agens und Nicht-Agens etabliert wird. In einem zweiten Schritt werden dann die nicht-agentivischen obliquen Marker systematisch differenziert.

      Im Deutschen ist eine analoge Formeindeutigkeit in Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Agens und nicht-agentivischen Rollen paradigmatisch nur im Maskulinum gegeben. Dies führt laut Kempe/MacWhinney (1999) dazu, dass der Anteil von Sätzen, die keine eindeutige Kasusmarkierung haben, im Deutschen höher ist als im Russischen. Zurückzuführen ist dies auf einen höheren Anteil neutralisierter Formen im Akkusativparadigma im Deutschen (s. Tabelle 3, Beispiele 11 und 12).15 Die Abhängigkeit vom Maskulinum als disambiguierende Form schränkt die Verfügbarkeit morphologisch eindeutiger Formen ein, wodurch die Validität von Kasusmarkern als Indikatoren für semantische Relationen im Deutschen geringer ist (ca. 50 %) als im Russischen (ca. 90 %; vgl. Kempe/MacWhinney 1998). Zurückzuführen ist dies wiederum auf die Belebt­heit im Russischen. Sobald ein belebtes Substantiv gebraucht wird, ist eine ambige Lesart des Satzes ausgeschlossen. So wäre in einem Satz wie stol-ømask/akk vidit brat-ømask/nom (Tischakk sieht Brudernom) trotz einer fehlenden morphologischen Markierung der präverbalen NP die einzige in Frage kommende Lesart hier OVS. Wäre nämlich brat hier nicht Agens, sondern Patiens, müsste aufgrund des Merkmals [+BELEBT] das Akkusativflexiv -a realisiert werden. Der Satz wäre also nur dann ambig und würde die Wortstellung als einzigen Indikator zulassen, wenn beide Konstituenten unbelebt wären, was wiederum sehr selten ist.16 Insgesamt sind die Bedingungen, in denen die Konstituentenabfolge der einzige Indikator für semantische Relationen wäre, im Russischen auf sehr spezifische Kontexte eingegrenzt. Funktional transparente Kasusmarker sind meistens verfügbar und limitieren den Validitätsstatus der Konstituentenabfolge.

      Kempe/MacWhinney (1999) können anhand eines Reaktionszeitexperiments zeigen, dass sich die hohe Validität der Kasusmarker im Russischen auch auf Satzverarbeitungsstrategien auswirkt. Russischsprachige Probanden wählen bei OVS-Sätzen mit transparenter Kasusmarkierung schneller N2 als Agens als deutsche Sprecher. Das heißt, dass deutsche Sprecher bei einem Satz wie Den Teller sucht die Mutter länger für die Agenswahl benötigen als russische Sprecher bei äquivalent konstruierten russischen Sätzen (Tarelkuakk iščet mat´nom). Weiterhin können Kempe/MacWhinney belegen, dass russischsprachige Erwachsene semantische Informationen wie Belebtheit ignorieren, während deutsche Probanden sie mitberücksichtigen. So benötigen deutsche Sprecher für die Verarbeitung von Sätzen wie Die Blume sucht den Mann länger als russische Sprecher in äquivalenten Kontexten. Die Verarbeitungsdauer bleibt bei ihnen unabhängig von der Belebtheitsinformation unbeeinträchtigt. Kempe/MacWhinney folgern daraus (ebd.: 151), dass der generelle Validitätsstatus morphologischer Kasusmarker innerhalb der untersuchten Sprachen Deutsch und Russisch einen Einfluss darauf hat, wie gut die Sprecher den formalsprachlichen Markern ‚trauen‘. Die grundsätzlich geringere Verfügbarkeit eindeutiger transparenter Kasusmarker im Deutschen führt offensichtlich dazu, dass Sprecher andere Informationen im Satz (hier die Belebtheit) mitverarbeiten. Die deutlich höhere Validität von Kasusmarkern im Russischen hat zur Folge, dass sich Sprecher bei der Satzverarbeitung ausschließlich auf morphologische Informationen stützen.

      Die Ergebnisse von Kempe/MacWhinney zeigen neben der unterschiedlichen Gewichtung unterschiedlicher Kodierungsmechanismen als Resultat typologischer Varianz auch, dass für Sprecher die Informationen der satzinitialen NP entscheidend sind. MacWhinney (1977) sowie Langacker (1998) verweisen in diesem Zusammenhang auf das starting point-Prinzip, das den Verarbeitungsprozess zu lenken scheint. So determiniert die semantische und morphologische