Jana Gamper

Satzinterpretationsstrategien mehr- und einsprachiger Kinder im Deutschen


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die Verknüpfungen zwischen Formen und Funktionen. Je mehr Informationen ein Lerner erhält, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass bestehende Verknüpfungen zwischen grammatischen Formen und ihren jeweiligen Funktionen modifiziert und erweitert werden.

      Die Fragestellungen der Arbeit lassen sich vor dem Hintergrund dieser Grundannahmen nun weiter spezifizieren. In erster Linie soll es darum gehen, Form-Funktions-Paare bei Lernern mit unterschiedlichen sprachlichen Vorerfahrungen und damit mit variierenden mappings zu identifizieren. Mit Blick auf den Givón’schen Ikonizitätsbegriff soll ermittelt werden, ob Lerner syntaktische Muster sowie andere formalsprachliche Mittel (hier: Kasusmarker) mit konkreten semantischen Konzepten verbinden. Die Existenz mehrerer Kodierungsmöglichkeiten für eine Funktion ist Resultat des many-to-one-mappings, wodurch eine potentielle Konkurrenz zwischen syntaktischem Muster und Kasusform hervorgerufen wird. Mit Blick auf die Annahmen der emergenten Grammatik, die davon ausgeht, dass Lerner im Zuge ihrer sprachlichen Entwicklung ein grammatisches System schrittweise und systematisch konstruieren, sollte dieser Umstand dazu führen, dass sich die Verknüpfung zwischen Formen und ihren potentiellen Funktionen sukzessive verändert. Ziel der Arbeit ist es deshalb herauszufinden, welche mappings mehrsprachige Sprecher in der L2 Deutsch aufbauen und inwiefern sich diese mappings (insbesondere unter dem Einfluss der jeweiligen Ausgangssprache) von denen einsprachiger Sprecher unterscheiden. Weiterhin soll geklärt werden, ob und wie sich diese Form-Funktions-Paare im Kontext der Emergenzthese verändern. Die Veränderung, so die übergeordnete These, bildet letztlich den Weg zum Erwerbsziel ab, der (unabhängig von der Ein- respektive Mehrsprachigkeit von Sprechern) darin besteht, Kasusmarker im Deutschen als zuverlässige Indikatoren für semantische Relationen in transitiven Sätzen zu nutzen.

      2.2 Form-Funktions-Relationen im Deutschen, Niederländischen und Russischen

      Um herausarbeiten zu können, welche sprachlichen Mittel in den hier untersuchten Sprachen als Indikatoren für semantische Relationen fungieren, werden im Folgenden die dem Deutschen, Niederländischen und Russischen zugrundeliegenden Kodierungsprinzipien skizziert. Die Gegenstandsbeschreibung bezieht sich dabei ausschließlich auf aktivische transitive Aussagesätze, bestehend aus zwei Nominalphrasen sowie einem finiten Verb. Vorausgesetzt wird hierbei, dass solche Strukturen eine kausale Relation zwischen einem Agens und einem Nicht-Agens umfassen (vgl. Givón 1995). Bevor die Relation zwischen Inhalt und Form genauer betrachtet wird, steht zunächst die oberflächensprachliche Struktur im Fokus.

      In der Einleitung wurde bereits erwähnt, dass das Niederländische und Russische von zwei maximal unterschiedlichen Möglichkeiten zur Kennzeichnung semantischer Relationen im Satz Gebrauch machen, nämlich der Wortstellung und den Kasusmarkern. Im Deutschen finden sich aus unterschiedlichen Gründen beide Kodierungsformen. Was die drei Sprachen verbindet, ist eine einheitliche Basiswortstellung.

      Die in der Greenberg’schen (1963) Tradition stehenden Bemühungen, Erkenntnisse zu Wortstellungsvariabilitäten und -regularitäten systematisch weiterzuentwickeln, mündeten in die Diskussion, warum spezifische Wortstellungsmuster häufiger vorkommen als andere. Van Everbroeck (2003) zeigt in diesem Zusammenhang, dass sich in den meisten (bekannten) Sprachen spezifische Basiswortstellungsmuster ausmachen lassen, die letztlich auf drei dominante Strukturen eingrenzbar sind. So haben 51 % der untersuchten Sprachen der Welt die Basisabfolge Subjekt-Objekt-Verb (SOV), 23 % SVO und 11 % VSO. VOS kommt in nur 8 % der Sprachen vor, die übrigen Varianten (OSV, VOS) liegen bei unter 1 % und sind damit als Einzelfälle einzustufen. Auch Hawkins (1983) und Tomlin (1986) verweisen darauf, dass die meisten Sprachen auf die Abfolge SOV, SVO und VSO einzugrenzen sind, wobei Tomlin die Muster SOV und SVO als äquivalent betrachtet. Lässt man die Position des Verbs außen vor, zeigt sich, dass in der überwiegenden Mehrheit der Sprachen der Welt die Basiswortstellung Subjekt vor Objekt (S>O) dominiert. Dryer (2013) zufolge ist diese Abfolge die dominanteste Struktur in den meisten bisher untersuchten Sprachen (über 80 %). Die Abfolge von S>O stellt letztlich eine sprachübergreifende universelle Tendenz dar. Der umgekehrte Fall (O>S) ist zumindest in der Basiswortstellung deutlich seltener anzutreffen.

      Die Frage ist, nach welchen Kriterien einer Sprache ein Basiswortstellungstyp zugewiesen wird. Zu den wichtigsten Kriterien, die in diesem Zusammenhang diskutiert werden, gehören die Vorkommenshäufigkeit (Dryer 1995, Hawkins 1983, Tomlin 1986), die pragmatische Neutralität (Pullum 1977; vgl. für einen Überblick auch Mithun 1992) sowie die Interaktion zwischen Satzstruktur und Satzprosodie (Höhle 1982) und besonders auch die Diskussion um Thema-Rhema- beziehungsweise Fokus-Topik-Relationen (Reis 1993). Pragmatische Neutralität meint in Pullums Sinn den Gebrauch einer Struktur, deren Auftreten in einem kontextfreien Rahmen, also diskursinitial wahrscheinlich ist (vgl. Pullum 1977: 266). Ohne an dieser Stelle im Detail auf die diesen Kriterien anhaftenden Diskussionen eingehen zu wollen, lässt sich Basiswortstellung als eine in einer Einzelsprache am häufigsten vorkommende pragmatisch sowie prosodisch unmarkierte (oder ‚neutrale‘) Struktur definieren. Dass Vorkommenshäufigkeit überhaupt als definitorisches Kriterium angewendet wird, weist zugleich darauf hin, dass der Gebrauch anderer Strukturen möglich, jedoch besonders deshalb selten ist, weil er an kontextuelle Faktoren gebunden ist.

      Die funktionale Sicht auf die sprachübergreifende Tendenz, S vor O zu realisieren,1 umfasst unterschiedliche Erklärungen. Die Kognitive Grammatik argumentiert dabei im Sinne des Givón’schen Ikonizitätsprinzipis und nimmt an, dass ein (meist belebtes) Agens in der Regel als Handlungsausführender auf ein (meist unbelebtes) Patiens einwirkt. Diese kausale Relation (AGENS → PATIENS) bildet aus einer kognitiv-funktionalen Perspektive eine kanonische Handlungsstruktur ab (Funktion), die auf der sprachlichen Oberfläche in eine spezifische syntaktische Struktur übergeht (Form). Das Subjekt/Agens (N1 im SO-Satz) wird im Satz zuerst realisiert, das Objekt/Patiens (N2 im SO-Satz) danach. Eine kausale Handlungsstruktur (AGENS → PATIENS) mündet also in eine spezifische Abfolge nominaler Konstituenten (S → O; vgl. dazu Comrie 1981, Croft 1991, Langacker 1991, s. auch Kapitel 2.3). Aus funktionaler Perspektive hätte die syntaktische Position der beiden Aktanten also die Funktion, ihre semantische und kausale Relation abzubilden. Losgelöst von ihren grammatischen Funktionen als Subjekt und Objekt, lässt sich schließen, dass eine neutrale Abfolge zweier nominaler Konstituenten (N>N) an sich bedeutungstragend ist. Die Abkürzung N>N wird im Folgenden deshalb als abstrahierte Form einer kanonischen Satzstruktur mit einer neutralen Abfolge von AGENS > NICHT-AGENS und damit als kanonischer SO-Satz verstanden.

      Croft (1988: 173) zufolge haben neben der Konstituentenabfolge auch Kasus- oder Kongruenzmarker die primäre Funktion, „a relation between two entities“ auszudrücken. Daraus folgt, dass analog zum syntaktischen Muster auch bei den Kasusmarkern spezifische Verknüpfungen zwischen der Form (Kasusmarkierung) und dem Inhalt (semantische Rolle) hergestellt werden können. Ein Agens ist in der Regel morphologisch unmarkiert, ein Patiens oder Rezipiens hingegen markiert.2 Sowohl im Russischen als auch im Deutschen wird der Nominativ zur Kennzeichnung des Agens, der Akkusativ zur Kennzeichnung des Patiens und der Dativ als Marker für ein Rezipiens gebraucht (s. zum Beispiel Abraham 32013 sowie Zifonun/Hoffman/Strecker 1997 für das Deutsche). Demnach lässt sich eine Dichotomie zwischen dem morphologisch unmarkierten Agens und allen anderen nicht-agentivischen, jedoch morphologisch markierten Rollen ziehen (neben dem Patiens und dem Rezipiens wären hier auch das Instrument, der Locus und weitere nicht-agentivische Aktanten zu nennen).3 Die semantische Dichotomie zwischen Agens und Nicht-Agens mündet so in die formale Dichotomie [+/- MORPHOLOGISCH MARKIERT]. Croft (1988: 174) folgert daraus:

      Case marking is a complement of the strategy of simple juxtaposition of the related constituents, in which the hearer must infer the relation that holds between the two. Simple juxtaposition is only possible when the relation between the two terms is obvious enough for the hearer to easily infer it. Otherwise, the relation must be more explicitly represented in the utterance, and case marking is the strategy for doing so.

      Kasusmarker dienen also dem Hörer dazu, die semantischen Relationen zwischen unterschiedlichen Aktanten zu determinieren und sind somit nichts anderes als eine formale Explizitmachung semantischer Relationen.

      Zentral ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Verben. Im Sinne eines valenzgrammatischen und framesemantischen Ansatzes (vgl. Busse 2012, Fillmore 1968, 1977) übernehmen Verben in Sätzen die Rolle des Regisseurs.