Jana Gamper

Satzinterpretationsstrategien mehr- und einsprachiger Kinder im Deutschen


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Prinzipien der Prototypentheorie lassen sich ausgehend vom Pluralbeispiel auch auf das Konzept der semantischen Rollen übertragen. Die Kognitive Grammatik geht davon aus, dass sprachliche Muster außersprachliche Konzepte abbilden (vgl. zum Beispiel Croft 1991). Beim Numerus ist das außersprachliche Konzept die Ein- und Vielzahl von Einheiten und ihre damit verbundene Zählbarkeit, die im Deutschen mit einer spezifischen Wortstruktur abgebildet wird. Die Ausdrucksebene semantischer Relationen ist hingegen der Satz (vgl. in Hinblick auf Prototypikalitätseffekte Næss 2007, Ibbotson et al. 2012). Innerhalb des Satzmusters finden sich wiederum prototypische Aktanten mit prototypischen semantischen und formalen Eigenschaften.

      Konzeptuell werden satzinterne Aktanten als semantische Einheiten verstanden, die Dowty (1991) auf zwei zentrale, in Opposition zueinander stehende Kategorien eingrenzt: das Proto-Agens und das Proto-Patiens. Wann welcher Aktant welche Rolle zugewiesen bekommt, hängt zunächst von der Verbbedeutung ab. Die von den Verben geöffneten Leerstellen erfordern die Realisierung konkreter Argumente, die mit prototypischen Rolleneigenschaften korrelieren. Dieser Prozess wird von Dowty als protorole argument selection hypothesis bezeichnet. Die Protorolle zeichnet sich dabei durch konkrete Eigenschaftenbündel aus, die Cluster bilden und dadurch als Generalisierungen von semantisch verwandten Rollentypen zu verstehen sind. Dowty ordnet dem Proto-Agens und dem Proto-Patiens jeweils fünf unterschiedliche abstrakte Eigenschaften zu. Das Proto-Agens zeichnet sich durch „volitional involvement“, „sentience“, „causing an event or change of state in another participant“, „movement“ (in Opposition zu einem anderen Partizipanten) und „independence“ (ebd.: 572) aus. Zum Proto-Patiens gehören die Eigenschaften „undergoes change of state“, „incremental theme“, „affectedness by another participant“, „stationary“ (wiederum in Opposition zu einem sich bewegenden Partizipanten) und „non-existant independence“ (ebd.).2 Dowtys Listung prototypischer Eigenschaften ist stark an die Überlegungen von Hopper/Thompson (1980) angelehnt, die zu einer ähnlichen Merkmalsliste im Kontext von prototypischen transitiven Handlungen kommen. Entscheidend bei der Verknüpfung von Argumentrealisierung und semantischer Proto-Rolle ist, wie viele und welche dieser Eigenschaften eine NP im Gegensatz zu einer anderen NP enthält. Überwiegt die Anzahl der Proto-Agens-Eigenschaften, wird die entsprechende Konstituente als Subjekt des Satzes realisiert; eine höhere Anzahl von Proto-Patiens-Eigenschaften führt zu ihrer Realisierung als Objekt. Proto-Agens und Proto-Patiens bilden dadurch zwei Pole, die idealer- und damit prototypischerweise semantisch maximal unterschiedlich sind. Comrie zufolge müssen die oppositionellen Rollen als ein Kontinuum verstanden werden, auf dem die jeweiligen Eigenschaften einzelne Punkte entlang des Kontinuums darstellen (1981: 61).

      Das Konzept der Protorollen findet sich auch bei Langacker (1991), der diese als role archetypes bezeichnet. Neben Eigenschaften wie „physical activity“ und „physical contact“ ordnet Langacker einem archetypal agent vor allem das Charakteristikum [+BELEBT] zu (1991: 285). Analog zu der Annahme, dass das Patiens den oppositionellen Pol besetzt, wird diesem die Eigenschaft [-BELEBT] zugewiesen. Agens und Patiens stehen also in einem asymmetrischen semantischen Verhältnis, wobei dieses im Sinne der Prototypentheorie als ein graduelles zu verstehen ist. Während Dowty (1991) seine Ausführungen auf das Proto-Agens und das Proto-Patiens beschränkt, listet Langacker (1991) weitere Rollen wie den experiencer, der als „person engaged in a mental activity“ (1991: 285) definiert wird, die jedoch weniger ausführlich behandelt werden. Grundsätzlich gehen Dowty und Langacker gleichermaßen von einer Dichotomie zwischen einem Agens und einem Nicht-Agens aus. Rollenzuweisung ist damit auch automatisch ein Resultat von Relationen, was heißt, dass Rollenzuweisung stets kontextualisiert (sprich im Kontext einer transitiven Handlung) erfolgen muss. Langacker nimmt an, dass Rollendichotomien im Rahmen eines canonical event entstehen, das wiederum „the normal observation of a prototypical action“ (Langacker 1991: 285) repräsentiert. Innerhalb dieser kanonischen Handlung besteht eine kausale Relation zwischen einem Agens und einem Nicht-Agens. Die Relation zwischen den Handlungsaktanten bildet sich schließlich an der sprachlichen Oberfläche durch die Konstituentenabfolge S>O ab. Das prototypische canonical event geht so in ein prototypisch transitives syntaktisches Muster über (vgl. auch Langacker 2000b). Ein N>N-Satz wird aus Sicht der Prototypentheorie zum validesten Repräsentanten einer kanonischen Handlung, in der ein Agens auf eine bestimmte Art und Weise auf das Patiens einwirkt. Die Linearität dieser kausalen Ereignisse bezeichnet Croft als causal order hypothesis (1991: 186). Transitive außersprachliche Handlungskonzepte und transitive Satzstrukturen stehen somit in einem komplexen Interdependenzverhältnis, das Croft als „correlation between causal ordering and the grammatical relations hierarchy“ (1991: 186) zusammenfasst. Das Satzmuster als solches ist (genau wie das beschriebene abstrakte Pluralschema) semantisch motiviert, sodass anhand des Satzmusters ein Handlungsschema abgeleitet werden kann.

      Die Konstituentenabfolge N>N ist somit als bedeutungstragendes (und dadurch funktional motiviertes) Satzschema zu greifen. Dass syntaktische Strukturen und Muster für sich Bedeutungsträger darstellen, ist wiederum eine Kernannahme der Konstuktionsgrammatik. Aus konstruktionsgrammatischer Perspektive hat die Abfolge N>N genau wie andere Konstruktionen die Eigenschaft, als holistische Einheit gespeichert werden zu können (vgl. Lakoff 1987) und dem Dekompositionalitätsprinzip zu unterliegen (vgl. Goldberg 1995). Es wird also nicht in seine einzelnen Bestandteile zerlegt, sondern als Ganzes analysiert, sodass die Gesamtbedeutung einer syntaktischen Einheit nicht auf der Grundlage der Bedeutung einzelner Bestandteile generiert werden kann. Ziem/Lasch (2013: 83) folgern deshalb, dass die „sprachliche Einheit nicht atomarer Natur ist. Eine Konstruktion ist folglich immer komplexe Einheit von Vielheit“. Für das transitive Satzschema N>N ist es in einem Satz wie Der Mann sieht das Fahrrad also weitgehend irrelevant, dass er Lexeme wie Mann, Fahrrad oder sieht enthält. Was zählt, ist die Verfügbarkeit von zwei Konstituenten und einem finiten Verb, die wiederum zu einem Ganzen zusammengefasst und mit einer kausal-transitiven Handlung verknüpft werden.

      Köpcke/Panther (2008) gehen in Hinblick auf dieses syntaktische Schema davon aus, dass ein transitiver Satz des Typs SVX3 (Subjekt > Verb > weitere Konstituente) nicht nur die prototypische Repräsentation einer transitiven Handlung, sondern gar der Prototyp eines Satzes sei. Sie begründen diese These unter anderem damit, dass sich in dieser Hinsicht entsprechende Prototypeneffekte bei Sprechern identifizieren lassen („When adults are requested to produce sentence tokens spontaneously, they usually come up with simple affirmative declarative sentences”, ebd.: 89) und der Beobachtung, dass sich andere Satztypen (Interrogativ- sowie Imperativsätze) in einen Deklarativsatz umwandeln ließen. Der SVX-Satz ist damit nicht nur der Prototyp für die Kodierung einer transitiven Handlung, sondern per se der Prototyp eines Satzes.

      Protototypikalität ist in der Kognitiven Grammatik sehr eng mit Überlegungen zur abstrakten Repräsentation von Mustern verknüpft. Zentral ist hierbei der Begriff des Schemas. Bußmann (32002: 583) definiert Schema als „Form der Repräsentation von generalisiertem, soziokulturell bestimmten Wissen, das als Orientierung bei der Interpretation und zur Organisation von Erfahrungen dient“.4 Schemata stellen abstrakte Formen der mentalen Wissensrepräsentation dar, die einerseits existentes (kategorielles) Wissen bündeln und andererseits als kognitive Schablone dienen, um neues Wissen auf- und ausbauen (vgl. auch Anderson/Pearson 1984 sowie Rumelhart 1980). Ein Schema kann deshalb als Resultat eines Kategorisierungsprozesses und dadurch als abstrakte Einheit verstanden werden. Schemata sind Langacker (2000a: 3f.) zufolge Resultat von Abstraktionsprozessen (= schematization) und haben kognitiv den „status of a unit“ (ebd.: 3) inne. Sind solche abstrakten schematischen Einheiten verfügbar, können Informationen mithilfe dieser kognitiven Schemata automatisiert verarbeitet werden. Langacker (ebd.) bezeichnet diesen Automatisierungseffekt als entrenchment. Einzelne Merkmale müssen dann nicht mehr separat analysiert werden, sondern sind automatisch mitverfügbar, sobald ein Schema abgerufen wird. Mit Blick auf die Annahme, dass Kategorien hierarchisch strukturiert und um einen Prototypen herum konstruiert sind, sind Prototypen damit automatisch auch Schemata (vgl. Langacker 2000a: 69, Tuggy 2007: 89f.). So ist die auf -en auslautende zweisilbige Wortform sowohl die prototypische sprachliche Entsprechung der semantischen Einheit von Vielheit als auch ein Pluralschema. Wichtig ist, dass Schemata sowohl eine semantisch-konzeptuelle als auch eine sprachstrukturelle Ebene abdecken. In beiden Bereichen sind