Michaela Sambanis

Didaktik und Neurowissenschaften


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Erkenntnisse ein Modell der Entwicklung während der Adoleszenz. Diejenigen Jugendlichen, die besonders sensitiv sind, haben ein erhöhtes Risiko, psychische Krankheiten auszuprägen, in der Schule zu versagen, antisoziales oder übermäßig riskantes Verhalten zu entwickeln usw. Schriber & Guyer (2016) gehen davon aus, dass hierbei negative soziale und emotionale Einflüsse eine entscheidende Rolle spielen. Zu diesen negativen Einflüssen gehören ablehnendes und feindseliges Verhalten der Eltern, problematische kulturelle und soziale Werte, mangelnder Kontakt zu Gleichaltrigen und Ablehnung durch diese. Für Ausgrenzung durch Gleichaltrige und für negatives Erziehungsverhalten konnten Auswirkungen auf das Gehirn nachgewiesen werden (vgl. Casement et al. 2014, Whittle et al. 2011). Andererseits profitieren ebendiese besonders sensitiven Jugendlichen überdurchschnittlich von positiven Einflüssen wie unterstützenden und warmherzigen Eltern, positivem Familienklima, passenden sozio-kulturellen Werten und positiven Beziehungen zu Gleichaltrigen (vgl. Schriber & Guyer 2016). Diese positiven Faktoren führen bei entsprechend sensitiven Jugendlichen zu einer besonders positiven und erfolgreichen Entwicklung. Verschiedene Arbeiten bieten Belege für die Interaktion zwischen Hirnreifung und elterlichem Verhalten, die den Ansatz des Modells unterstützen (vgl. Tan et al. 2016, Whittle et al. 2011, 2014, Yap et al. 2008). Aktuell wird auf der Basis dieser Überlegungen vermehrt darauf hingewiesen, dass geeignete pädagogisch-psychologische Unterstützungsmaßnahmen in der Jugendzeit eine lohnenswerte Option sind, um psychischen Störungen und ungünstigen Entwicklungsverläufen entgegenzuwirken (vgl. Ahmed et al. 2015, Groschwitz et al., 2017). Diese Diskussion ist auch im Hinblick auf die Entwicklung von Maßnahmen in der Schule relevant (zum Umgang mit Ängsten im Unterricht und zur Unterstützung von heranwachsenden Lernenden vgl. Böttger & Sambanis 2017).

      2.7 Umgebungseinflüsse und Förderung der Entwicklung

      In diesem Kapitel wurde ausführlich beschrieben, wie die Hirnreifung LernprozesseLernprozesse anregt und unterstützt, aber auch, dass bestimmte Abläufe und deren zeitliche Bedingungen verschiedentlich zu Einschränkungen führen. Wichtig ist, dabei anzuerkennen, dass bestimmte Abfolgen zwar festgelegt sind, man der Hirnreifung aber nicht hilflos ausgeliefert ist. Sowohl die Entwicklungsgeschwindigkeit als auch die Qualität der Entwicklung lässt sich beeinflussen. Allerdings helfen weder gutes Zureden noch Ermahnungen und kurzfristig ist ohnehin nichts zu erreichen. Langfristig jedoch ist das Gehirn, wie etwa auch die Muskulatur, trainierbar. Eine Vielfalt an Anregungen, Freiräume für eigene Erfahrungen und gezielte Herausforderungen unterstützen und beschleunigen die Entwicklung des Gehirns. Um genauer zu sein: Das Gehirn ist in seiner Entwicklung auf den Einfluss der Erfahrung angewiesen. Die Anregungen und Anforderungen der Umwelt formen das Gehirn (vgl. Diamond & Amso 2008). Dabei ist es wichtig, nicht von der Herausforderung in die Überforderung zu geraten. Wenn das passiert, weichen die kindlichen Gehirne, wie oben beschrieben, auf alternative StrategienStrategien aus und die Entwicklung profitiert nicht in der gewünschten Weise. Vielmehr werden die alternativen Strategien und damit die Verbindungen gestärkt, die zur Verhaltensweise der früheren Entwicklungsstufe gehören. Das behindert logischerweise den Fortschritt der Entwicklung.

      Die Effekte von Anregungen sind vielfach nachgewiesen. Beispielsweise zeigen Drei- bis Fünfjährige, denen zu Hause viel vorgelesen wird, eine höhere AktivierungAktivierung der Hirnareale, die an Vorstellungsvermögen und auditivem Textverständnis beteiligt sind (vgl. Hutton et al. 2015). Verschiedene auf neurobiologisches Wissen aufbauende Programme fördern erfolgreich die Entwicklung kognitiver FertigkeitenFertigkeiten und Grundlagen der weiteren Lernfähigkeit bei Kindern (vgl. Diamond et al. 2007, Hermida et al. 2015).

      Die Diskussion um den spontanen Entwicklungsverlauf und die Bedeutung der „künstlichen“ Förderung und Beschleunigung der Entwicklung – durch welche Form an Unterricht im weiteren Sinne und kommunikativer, sozial unterstützter Auseinandersetzung mit Erfahrungen und Konzepten auch immer – ist beileibe nicht neu. Ausführlich dokumentiert ist sie seit den Arbeiten von Wygotski (1964) und Piaget (1995) – was nicht bedeutet, dass sich Lehrkräfte früherer Epochen nicht bereits damit auseinandergesetzt hätten. Während Piaget seine Arbeit überwiegend in dem Sinne versteht, dass er den spontanen Entwicklungsverlauf beschrieben habe, betont Wygotski die Wichtigkeit von Lehrprozessen für die (kognitive) Entwicklung. Aus Sicht der Hirnforschung allerdings ist diese Abgrenzung nur sehr eingeschränkt nachvollziehbar. Das menschliche Gehirn ist sozusagen darauf programmiert, genau das aufzunehmen, zu lernen und als Basis seiner Entwicklung zu nutzen, was in der Welt, die das sich entwickelnde Gehirn um sich herum wahrnimmt, vorkommt. Käme in unserer Welt oder Teilen unserer Welt die Farbe Blau nicht vor, würde die Fähigkeit, diese Farbe wahrzunehmen, verkümmern. Bei Menschen, die im Dschungel aufwachsen und nie große freie Flächen sehen, entwickelt sich das SehsystemSehsystem anders als bei Menschen die in Savannen, Wüsten oder in einer gerodeten Kulturlandschaft groß werden. Oder, um ein aktuelleres Beispiel zu wählen: 80 % der Kinder in Singapur sind am Ende der Grundschulzeit kurzsichtig, weil sie sich wenig außerhalb geschlossener Räume aufhalten und selten in die Ferne blicken können, sondern stattdessen viele Stunden lernen müssen (in der Schule, zusätzlichen Nachhilfeschulen und abends mit den Eltern) und dabei nur in Bücher und auf Tablets starren (vgl. Spiewak 2017, Spitzer 2016).

      Letztlich geht es darum, dass sich der LernprozessLernprozesse und damit die Hirnentwicklung den tatsächlich vorgefundenen Bedingungen anpassen. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Sprache. Kommen in einer Sprache bestimmte Laute nicht vor oder sind die Grenzen zwischen Lauten nicht bedeutsam, werden sie in den sprachverarbeitenden Hirnarealen nicht gespeichert, z.B. die Trennung von /l/ und /r/ im Chinesischen. Die menschliche Sprache ist ein Kulturgut, das Erwachsene benutzen, oftmals während Kinder anwesend sind, teilweise zur Kommunikation mit anderen, teilweise zur Kommunikation mit dem Kind. Hier könnte man im Sinne Piagets von einer spontanen AneignungAneignung ausgehen. Trennscharf ist die Abgrenzung zwischen spontanem und „künstlich“ angeregtem Entwicklungsprozess aber nicht. Gut untersucht ist, dass es für die Sprachaneignung wichtig ist, dass Sprache im sozialen Kontext genutzt wird (vgl. Kuhl 2010). In vielen Kulturen wird auch mit den Kindern gesprochen, um die Sprachentwicklung zu fördern. In diesem Fall wird der Lern- und Erfahrungsvorgang von einer anderen Person bewusst angeregt und wir würden ihn nicht als spontanen Entwicklungsvorgang bezeichnen. Dem kindlichen Gehirn ist das letztlich gleichgültig. Die andere Person, ebenso wie die Anregungen, die von ihr ausgehen, sind Teil der Umwelt und wenn sie regelmäßig vorkommen – egal, ob mit dem Ziel, einen Entwicklungsprozess anzuregen oder zu einem anderen Zweck –, sind sie es wert, beachtet zu werden. Das, was in der Welt existiert, wird wahrgenommen. Wenn viel gesprochen wird, lernt das Kind schnell, egal, warum viel gesprochen wird. Wenn weniger gesprochen wird, lernt es langsamer und weniger Wörter (vgl. Spitzer 2015). Je nach Anregung aus der Umgebung lernen Kinder unterschiedliche Objekte, FertigkeitenFertigkeiten, Kategorien und Konzepte. Ein Kind, dessen Eltern einen Bauernhof besitzen, lernt ganz andere Dinge als ein Stadtkind. Ein Kind, dessen Vater Schreiner ist und der in seinem Beruf aufgeht, erfährt vielleicht schon sehr früh etwas über Werkzeuge, Holzarten und Hobeltechniken. Ein Kind, dessen Mutter Biologin ist, mag neben dem Namen Gänseblümchen auch den lateinischen Namen Bellis perennis kennen. Vielleicht hat ihm seine Mutter auch erklärt, dass das Gänseblümchen zur Familie der Korbblütler gehört und z.B. mit dem Löwenzahn und der Aster verwandt ist. Ohne größere Schwierigkeiten wird das Kind auch eine Margerite oder eine Ringelblume als Korbblütler erkennen – ebenso leicht wie ein kleiner Autofan das neueste Modell einer bestimmten Automarke zuordnen kann.

      An den Beispielen sieht man, dass es in der Welt vieles gibt, das vielleicht relevant ist, aber nicht regelmäßig in der Umwelt aller Kinder vorkommt. Um dem zu begegnen, haben Menschen eine Art Katalog des notwendigen Wissens aufgestellt, dieses Wissen systematisiert und sich überlegt, wie sie es an die Kinder und Jugendlichen herantragen. Zu diesem Zweck schicken wir Kinder und Jugendliche in Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Damit erzeugen wir allerdings eine Situation, die von unserer Seite aus mit der Erwartung verbunden ist, dass das Gehirn etwas Bestimmtes lernt, dass ein exakt definiertes Lernziel erreicht oder auch eine bestimmte Kompetenz erworben wird. Darauf sind Gehirne aber nicht ausgerichtet. Sie lernen nicht das, was man ihnen zu lernen aufträgt, sondern die Dinge, die häufig vorkommen oder die sie selbst häufig tun (zu Üben und Wiederholen im Unterricht vgl. das Praxisfenster in Kap. 6).

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