erzeugt, aufsucht oder wiederholt, die seiner Entwicklung im gegenwärtigen Moment von allen in der jeweiligen Situation verfügbaren Erfahrungen am dienlichsten sind. Der Organismus sucht sich also einen Teil seiner Erfahrungen selbst. Dabei können die Beschränkungen der in einer Umgebung möglichen Erfahrungen ebenso negative und beeinträchtigende Effekte auf die Entwicklung haben wie ungeeignete und schädliche Erfahrungen. Beispielsweise kann ein Kind, das die Veranlagung besitzt, ein virtuoser Pianist zu werden, dies nicht umsetzen, wenn in seiner Umgebung nicht die Möglichkeit besteht, das Klavierspiel zu erlernen – etwa aufgrund kultureller Gegebenheiten, wenn es in seiner Kultur keine Klaviere gibt, oder aufgrund sozialer Gegebenheiten, wenn die Familie sich weder ein Klavier noch die Kosten der Klavierstunden leisten kann. Auch die Frage nach dem „relativen Anteil“, den genetische Voraussetzungen und (gesellschaftlich geprägte) Erfahrungseinflüsse auf die Ausbildung von Eigenschaften haben, lässt sich nicht ganz eindeutig beantworten. Für viele Eigenschaften bewegt sich der Einfluss der Umwelt in westlichen Gesellschaften zwischen 40 und 60 %. In der – rein hypothetischen – „besten aller Welten“, in der jeder heranwachsende Mensch zu jeder Zeit genau die Möglichkeiten und Lernanreize bekäme, die er in dem Moment zur optimalen Entwicklung benötigte, würden alle Unterschiede zwischen den Individuen nur noch auf genetische Faktoren zurückgehen, denn die Umwelteinflüsse würden der Entwicklung keine Grenzen mehr auferlegen (vgl. Asendorpf et al. 2012).
Um in der Entwicklung weiterzukommen, greift das Gehirn zu einem Trick: Dinge, Konzepte und Ereignisse, die längst bekannt und gelernt sind, sind langweilig (zu Langeweile vgl. 3.7). Kinder wenden sich von ihnen ab. Neues löst Interesse und Zuwendung aus, es sei denn, es ist so fremd und anders, dass man davor AngstAngst haben müsste oder dass man es, wenn es sich um eine Tätigkeit handelt, einfach nicht hinbekommt. Wir nennen die Hinwendungsreaktion auf Neues „NeugierNeugier“. Das, was gerade noch nicht gelernt ist, aber nahe genug am schon Bekannten ist, suchen Kinder aktiv auf bzw. wählen die entsprechenden Anregungen aus dem vorhandenen Angebot. In dieser Weise formt und fördert das kindliche Gehirn seine eigene Entwicklung sozusagen selbst (vgl. Johnson 2003), es sei denn, es wird durch ungünstige Umgebungsbedingungen daran gehindert. Dabei ist von außen oft nicht einmal zu erkennen, dass das Kind beispielsweise gerade etwas über Satzbau oder soziale Beziehungen lernt, wenn es sich das immer selbe Märchen zum einhundertsten Mal vorlesen lässt oder dass es gerade etwas über Statik oder Mengen und Gewichte lernt, wenn es im Sand spielt.
An den Beispielen sieht man aber auch sehr gut, dass der Austausch mit Erwachsenen oder mit erfahreneren Kindern durchaus wichtig für das sich entwickelnde Kind ist, etwa, wenn Zusammenhänge erklärt oder soziale Situationen gemeinsam reflektiert werden. Diese gemeinsame Auseinandersetzung, der soziale Austausch, ist für die Hirnentwicklung und die LernprozesseLernprozesse sogar zwingend notwendig. Kinder, die ohne soziale Unterstützung ihrer Lern- und Entwicklungsprozesse auskommen müssen, bleiben in ihrer Entwicklung zurück. Dabei ist Sprache, die die Wahrnehmung, das DenkenDenken und Konzepte verdeutlicht, ein zentrales Element. Wie wichtig Sprache ist, lässt sich an den verheerenden Folgen erkennen, die sich zeigen, wenn ein Kind nicht hören und sprechen kann und zudem keine Gebärdensprache als Kommunikationsmittel zur Verfügung steht, wenn also keine Anregung durch Kommunikation möglich ist. Aber auch eine eingeschränkte Anregung, etwa aufgrund von Vernachlässigung oder, je nach Qualität der Einrichtung möglicherweise auch durch Heimunterbringung, führt zu Defiziten sowohl in der kognitiven als auch in der sozialen Entwicklungsoziale Entwicklung, die oft nur schwer auszugleichen sind (vgl. Marshall & Kenney 2009). Ebenso hat die Benachteiligung etwa durch niedriges Familieneinkommen und niedrigen Bildungsstand der Eltern nachweisbare Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns (vgl. Noble et al. 2015). Selbst die übliche Variationsbreite in der Form und Intensität der elterlichen Zuwendung führt zu Unterschieden in der Hirnstruktur von Kindern (vgl. Kok et al. 2015). Das menschliche Gehirn ist also tatsächlich darauf ausgerichtet, derartige Anregungen zu erhalten. Nur so kann ein Kind sich normal entwickeln und nur so kann es unser kulturelles Erbe antreten.
Dass wir Kindern in der sozialen Situation Wissen zur Verfügung stellen, sie also unterrichten, ist für das Gehirn nicht unerwartet und nicht das „Problem“ an der Schule. Allerdings lassen wir in der Schule die aktive Suche nach der gerade passenden Anregung und dem zugehörigen sozialen Austausch häufig nicht zu. Vielmehr wird oft vorgeschrieben, was der nächste Lernschritt sein soll – und der passt manchmal zu dem, was im Gehirn vorhanden ist, manchmal auch nicht.
Dabei ist der Prozess der AneignungAneignung aus „Sicht des Gehirns“ immer derselbe, egal, ob es sich um eine natürliche Anregung oder um einen didaktischen, von Eltern oder Lehrkräften angeregten Prozess handelt. Die Art des Aneignungsprozesses wird vom Inhalt bestimmt und davon, ob man sich alleine oder im Austausch mit anderen mit diesem Inhalt beschäftigt. Ob irgendjemand anderes eine lehrende Absicht mit der Situation verbindet, ist emotional und motivational bedeutsam und kann zu Versagensängsten, Widerstand oder auch zu einem Anstieg der MotivationMotivation führen (Ich tue das, weil ich der Lehrkraft eine Freude machen will).
Bei didaktischen Situationen mit bestimmten Lernzielen sind verschiedene Ebenen und Details zu beachten. Hierzu ein Beispiel aus dem Bereich der KonzeptbildungKonzeptbildung: Wörter, Sätze und Satzstrukturen werden gelernt, indem man mit der Sprache in Kontakt kommt, sie hört und versucht, sie selbst als Kommunikationsmittel zu nutzen – egal ob als Kleinkind in der Familie, später im Unterricht oder bei einem Urlaub in einem fremdsprachigen Land.
Sprache ist die Basis für die KonzeptbildungKonzeptbildung und bereits hier gibt es, wie wir oben gesehen haben, Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern. Sowohl die Bildung spontaner Konzepte, z.B. Hund, Spielzeug, wie auch die Bildung komplexerer Konzepte einschließlich wissenschaftlicher Konzepte, wie Leben, Energieerhaltungssatz etc., beginnt im Grunde mit dem Erlernen des zugehörigen Wortes und seiner Grundbedeutung (vgl. Shayer 2003). Dem folgt die Sammlung von Beispielen, etwa verschiedene Hunderassen, und die Abgrenzung zu Tieren, die nicht in die Kategorie gehören, z.B. Katzen und Füchse oder auch die Sammlung von Beispielen für Energieerhaltung. Man sammelt so lange Beispiele, bis sich das Konzept verfestigt hat. Ein Blick in die Physikbücher zeigt, dass dieses Vorgehen im Prinzip didaktisch aufgegriffen wird, allerdings haben Schülerinnen und Schüler, die ein Konzept sehr schnell und umfassend verstehen, in der Regel keine Chance, auf die zusätzlichen, für den individuellen LernprozessLernprozesse dann letztlich überflüssigen Beispiele zu verzichten. Hier wird also nicht mehr gelernt, sondern allenfalls das Durchhaltevermögen trainiert. Andererseits stehen den Lernenden, die mehr Beispiele benötigen würden, diese oftmals nicht zur Verfügung, sodass auch hier nicht gelernt wird – wenn auch aus völlig anderen Gründen. Angenommen, der Lernprozess gelingt und ein Konzept ist anhand von Beispielen hinreichend eingegrenzt, dann kann man im nächsten Schritt beginnen, die Eigenschaften des Konzepts zu verbalisieren, um eine Grundlage dafür zu schaffen, das Konzept flexibel in unterschiedlichen Zusammenhängen einzusetzen. Bei Grundschulkindern ist das für konkrete Konzepte gut möglich und es ist gut, das Vorgehen im Grundschulalter bereits einzuüben. Abstrakte Konzepte können erst ab dem dritten WachstumsschubWachstumsschub des Gehirns, also um das Alter von 11 bis 12 Jahren, bewältigt werden. Interessant ist, dass das Erlernen grammatikalischer Regeln im Fremdsprachenunterricht häufig auch die Ausbildung von Konzepten verlangt, also auch hier die Prozesse bei der Konzeptbildung einschließlich der jeweils notwendigen Anzahl verschiedener Beispiele zu berücksichtigen ist. Wie viele Beispiele es braucht, wann es an der Zeit ist, das Konzept umfassend zu verbalisieren und wann der Prozess vollständig abgeschlossen ist, sodass man ein neues Konzept einführen kann, ist eine schwierige Frage, die nur individuell beantwortet werden kann.
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass LernprozesseLernprozesse in der Entwicklung des Gehirns angelegt sind und ohne sie eine gesunde Entwicklung des Gehirns völlig unmöglich ist. Je nach Alter des Kindes stehen unterschiedliche Inhalte im Vordergrund. Auch die Art der möglichen Lernprozesse und der Grad der möglichen Komplexität des jeweiligen Inhalts ist altersabhängig. Lernen und Entwicklung vollziehen sich dabei nicht nur in der individuellen Auseinandersetzung mit der Umwelt. Vielmehr sind Kinder und Jugendliche auf eine kommunikative Interaktion mit anderen Menschen angewiesen, die ihnen z.B. helfen, Beobachtungen richtig einzuordnen, Zusammenhänge zu verstehen, Konzepte zu entwickeln und Hypothesen zu generieren. Insofern ist (schulischer)